Rückblick in eine andere Zeit: Fragt man Freunde und Bekannte, die in der DDR aufgewachsen sind, welche zu den schönsten Erinnerungen aus jener Zeit zählen, werden viele antworten: Die Schulklassenfahrten und Betriebsferienlager. Blicke ich - Jahrgang 1973 - auf Kindheit bzw. Schulzeit zurück, kann ich das bestätigen. Die Aufenthalte in den Ferienlagern waren mit die intensivsten und schönsten Erlebnisse. Die Erfahrungen, die ich dort machen durfte, prägten meine gesamte Kindheit. Grund genug, diese Zeit im Magazin turus.net etwas genauer zu beleuchten und zu hinterfragen, was denn eigentlich so schön an jenen Erlebnissen war.
Emotionaler Rückblick: Ferienlager und Klassenfahrten in der DDR
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Völlig einmalig und nicht vergleichbar mit heutigen Jugendfahrten oder Jugendcamps waren die Betriebsferienlager der DDR. Ohne verblümt in (N)-Ostalgie zu verfallen, bin ich mir sicher, dass diese Ferienlager etwas wirklich einmaliges waren. Fast jeder Volkseigene Betrieb (VEB) in der DDR besaß irgendwo im Lande ein Betriebsferienlager, in dem während der achtwöchigen Sommerferien die Kinder der Mitarbeiter für wenig Geld zwei Wochen verbringen konnten. In der Regel durfte man ab der 2. Klasse in solch ein Ferienlager fahren und die Altersobergrenze lag bei zirka 14 Jahren.
Ich erinnere mich noch genau, als ich das erste Mal in das Betriebsferienlager der Fotochemischen Werke Berlin (ORWO) düste. Das Ferienlager "Helmut Just" befand sich nicht weit entfernt von Berlin in der Ortschaft Eggersdorf nahe Strausberg. Die Entfernung spielte als Kind überhaupt keine Rolle. Hauptsache verreisen. Egal, ob mit dem D-Zug neun Stunden lang bis nach Eisenach oder eine halbe Stunde lang mit der S-Bahn ins Berliner Umland.
Auf dem Gelände in Eggersdorf gab es ein älteres Hauptgebäude mit Küche und Speisesaal, ein Anbau für die Mädchen und mehrere Holzbaracken für die Jungen. Die Kinder wurden je nach Alter in Gruppen eingeteilt. Jede Gruppe hatte einen Gruppenleiter, die meist jüngere Mitarbeiter des Betriebs waren.
Die Tage waren straff durchstrukturiert, doch als Kind empfand man dies überhaupt nicht störend. Ein wenig ärgerlich erschien die Mittagsruhe zwischen 13 und 15 Uhr, doch auch in den Doppelstockbetten der Holzbaracken konnte man genug Unfug treiben. Man erzählte sich Geschichten oder stiftete eine Kissenschlacht an.
Vormittags gab es meist Programm auf dem Gelände. Sport und Spiel oder Zeit zur freien Verfügung. Wer Durst hatte, füllte sich Pfefferminztee mit Zitrone an einem aufgestellten Behälter ab. Nachmittags ging es häufig an den nah gelegenen Bötzsee. Im nahen Bach durfte man auch schon mal Flusskrebse fangen und den Küchenfrauen somit eine große Freude bereiten.
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Für Kinder waren diese Ferienlageraufenthalte in der Tat lehrreich. Man lernte sich in anfangs völlig fremden Gruppen einzuordnen und schaute während der zwei Wochen über den heimischen Tellerrand hinaus. Nicht immer war das Ferienlager ein Zuckerschlecken. Mitten in der Nacht gab es ab und an Probe-Feueralarm. Barfuß und im Schlafanzug hatte man so schnell wie es ging draußen auf dem kalten Asphalt vor dem Hauptgebäude anzutreten. In Gruppen und nicht als wilde Horde. Die langsamste Gruppe bekam vom Lagerleiter mächtig was zu hören. Und das um halb drei in der Nacht. Die Sirene erinnerte ganz scheußlich an einen Fliegeralarm und der körnige Asphalt schmerzte an den zarten Kinderfußsohlen. Bibbernd standen die Gruppen vor dem Gebäude und warteten sehnsüchtig auf die warmen Betten.
Wie gesagt, wer es nachts mit dem Unfug übertrieb, musste ebenfalls draußen antreten. Doch dann allein. Im Dunklen. An einem Baum. Eine halbe Stunde lang. Oder länger. Je nach Härtefall. Wer dort als Kind zwischen Gebüsch und finsteren Eichen verharren musste, bekam es natürlich mit der Angst zu tun. Zumal gerade zuvor in den Baracken die fürchterlichsten Horror-Geschichten von Hochbett zu Hochbett geflüstert wurden. Es kursierten die Gerüchte, dass ein Kindermörder sein Unwesen trieb und dass bissige Hunde des Nachts nach Beute suchten. Beliebt war auch immer wieder die Anekdote, dass ein Jugendlicher einen Draht über eine Landstraße gespannt hatte und somit ein Motorradfahrer geköpft wurde. Ohne Kopf soll er noch hunderte Meter gefahren sein. Fürchterlich. Die Jüngeren in der Baracke hielten sich die Ohren zu und verkrochen sich ins Bettzeug.
Vor dem Hauptgebäude wurde nicht nur beim nächtlichen Probealarm angetreten, sondern auch zum Fahnenappell, der ab und zu stattfand. Keine Frage, es ging ziemlich stramm zu. Einen wichtigen Stellenwert hatten die sportlichen Aktivitäten. Kaum ein Kind konnte sich beklagen, dass es nicht genügend ausgelastet war. Sportfeste, Nachtwanderungen und Radtouren standen an der Tagesordnung. Und das war durchaus gut so. Manch ein Kind lernte Aspekte kennen, die es von zu Hause überhaupt noch nicht kannte. Im Betriebsferienlager lernte man schnell, was es hieß, in der Gemeinschaft Spaß zu haben, und was es hieß, sich unterzuordnen und anzupassen.
Dreimal fuhr ich in den Sommerferien ins Ferienlager nach Eggersdorf. Manche Kinder traf man im nächsten Jahr wieder. 1985 erhielt ich die Möglichkeit, in ein Ferienlager in den Thüringer Wald zu fahren. ORWO Wolfen unterhielt dort in Großbreitenbach ein kleines Betriebsferienlager am Stichweg Zur Hohen Tanne. Kurioserweise habe ich keine einzige Erinnerung an diesen Aufenthalt. Nichts. Wirklich nichts. Kurios. Um so fester hat sich mein Aufenthalt in Breege auf Rügen im Jahr darauf eingeprägt. Zwanzig Berliner Kinder von FCW / ORWO Berlin durften in das große Hauptlager von ORWO Wolfen fahren. Da mein Vater Schichtarbeiter war, durfte ich solche Sonderfahrten auf Wunsch mitmachen. Ich hatte Sehnsucht nach Eggersdorf, doch dorthin konnte ich ja nächstes Jahr wieder hinfahren.
Das Betriebsferienlager in Breege war eine Erfahrung wert. Rund 700 Kinder und Jugendliche waren vor Ort. Etwa 680 Kinder und Jugendliche aus dem Süden der DDR. Und wir 20 Ostberliner als Sondergruppe mittendrin. Das war nicht leicht, aber zugleich durchaus interessant und lehrreich. Wir 20 Ostberliner waren eine fest zusammengeschweißte Gruppe, die eigentlich komplett ihr eigenes Ding machte.
1987 wurde es wieder nichts mit dem gemütlichen Ferienlager in Eggersdorf. Ich erhielt die einmalige Möglichkeit mit einer kleinen Gruppe nach Polen zu fahren. Dort bekämen wir eine eigene Unterkunft und würden jedoch auch Kontakt zu polnischen Jugendlichen aufnehmen können. Ich sagte zu. Zwei befreundete Zwillinge, mir aus Eggersdorf bestens bekannt, fuhren ebenfalls mit. Es ging nach Warschau und dann hoch nach Mikoshevo bei Danzig an der Mündung der Weichsel. Ein Besuch in der Gedenkstätte KZ Stutthof stand auf dem Programm sowie Stadtspaziergänge auf eigene Faust in der Altstadt von Danzig. Wir staunten nicht schlecht, als man uns etwas Taschengeld in die Hand drückte und uns viel Spaß wünschte. ORWO ließ die Kasse klingeln. Wir aßen kiloweise Eis und kauften schwarz-weiß Fotos von "Bravo"-Postern und deckten uns mit Ansteckern ein. Was es in Ostberlin nicht gab, konnte man sich an den Ständen in Danzig besorgen. Wir waren 14 und Polen erschien uns als kleines Paradies.
Zwei Dinge blieben jedoch in negativer Erinnerung. In polnischen Läden und Restaurants gab es damals so gut wie kein Fleisch zu kaufen. Uns wurde jedoch im Restaurant ein lecker zubereitetes Schnitzel serviert. Selbst uns Kindern war diese Tatsache extrem unangenehm. Dass sämtliche Polen zu uns herüber schauten, hatte die Sache noch schlimmer gemacht.
Des Weiteren werde ich niemals vergessen, wie in irgendeiner Nebenstraße der Warschauer Innenstadt zwei Milizangehörige mit grauer Lederjacke und schwingenden Gummiknüppeln einen wehrlosen Obdachlosen grün und blau prügelten. Ich war schockiert. So etwas hatte ich noch nie zuvor mit eigenen Augen gesehen. Im Fernsehen schon, jedoch hautnah, nur wenige Meter entfernt?
1988 wäre ich schließlich als 15-jähriger ein letztes Mal ins Ferienlager gefahren. Entweder noch einmal nach Polen oder ins geliebte Eggersdorf. Eigentlich.
Das Problem: Immer wieder kam es in den Baracken der Ferienlager unter den Heranwachsenden zu - drücken wir es diplomatisch aus - sexuellen Handlungen. Die Altersobergrenze wurde Anfang 1988 prompt auf 14 heruntergesetzt. Die beiden mit mir eng befreundeten Zwillinge durften noch einmal nach Polen fahren. Ich nicht. Die schlechte Nachricht kam erst wenige Wochen vor den Sommerferien. Ich war zutiefst deprimiert. Das erste Mal in meinem Leben war ich für etwas zu alt. Auch das war eine wertvolle, wenn gleich schmerzvolle Erfahrung.
Mit meinen Eltern besuchte ich in jenem Sommer gute Bekannte auf einem Seegrundstück bei Prieros. Ein Stück weiter befand sich am Ufer des Sees ein Kinderferienlager. Die typischen Lagergeräusche wurden vom Wind dumpf herüber getragen und erinnerten mich jeden Tag daran, dass ich ja eigentlich ...
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Benutzer-Bewertungen
Es war eine sehr schöne Zeit da - Ich möchte es sehr gerne Besuchen.
Es waren Holzhütten um kleine Löschteiche mitten im Wald - es gab da auch ein See.
Wer kann mir sagen wo dieses Lager ist????
LG Jörg Kurschat mjkurschat@t-online.de
Ich habe alle Briefen/fotos aus der Zeit aufbewahrt, ich vermisse es, El tiempo pasa
Marcelo Gaytan aus Bremen