Straßengangs. Waffen. Abziehen. Prügelnde Schüler. Gewalt auf der Straße. Armut. Ghettoisierung. Hartz 4. Verwahrlosung. Drogen. Islamisierung. Berlin Neukölln. Schnell ist die Schublade auf. Kaum ein Stadtbezirk Deutschlands lockt so sehr zu voreiligen Vorurteilen und Klischees wie der nördliche Teil von Neukölln. Tatsache ist, dass es in Neukölln überdurchschnittlich viele Hartz4-Empfänger gibt, doch der Bezirk ist auch lebendig, bunt, abwechslungsreich, kulturbegeistert und erstaunlich offen. Das turus-Magazin unternahm einen Spaziergang durch Nord-Neukölln. Unterwegs auf der Sonnenallee, der Karl-Marx-Straße und den Nebenstraßen.
Berlin-Neukölln: Spaziergang im Problemkiez
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Marco Bertram
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Ein x-beliebiger Freitag-Nachmittag in Berlin-Neukölln. Das Wetter ist grau, die Temperaturen liegen um den Gefrierpunkt, die Bürgersteige sind mäßig gut geräumt. Leichter Schneefall, viel Verkehr auf den Hauptstraßen.
Vom S-Bahnhof Sonnenallee aus geht es in Richtung Hermannplatz. Der erste Abschnitt ist recht leblos, die meisten Geschäfte und Kneipen kommen erst ab dem Hertzbergplatz. Ecke Treptower Straße lockt ein orangefarbener Imbiss, gleich dahinter befindet sich eine Minigolf-Bahn, die jetzt im Winter natürlich verwaist ist. Linke Hand lockt ein chinesisches Restaurant mit einem Sonderangebot: "Ente kross oder Hühnerfilet 4,90 Euro". Ein paar Meter weiter hat ein Spätkauf 23 Stunden am Tag geöffnet. Keine Seltenheit in Berlin-Neukölln.
Ein marodes Bräunungsstudio lockt mit Sonne im 1-Euro-Takt. Wer dort wohl hineingeht, möchte man wissen. In einem arabischen Kulturzentrum finden laut Aushang Frauennäharbeiten statt. An einer Litfasssäule prankt ein Kino-Plakat des aktuellen Bushido-Films "Zeiten ändern sich". Wie passend. Meter für Meter geht es in Richtung Hermannplatz. Zu sehen gibt es viel. Die Dichte an Geschäften und Bars ist beeindruckend. Die Vielfalt ebenso. Glücksspiel-Casinos, Handy-Läden, Imbisse, ausländische Lebensmittelgeschäfte, Bars - und auch hier und dort Leerstand und Verwahrlosung.
Im grauen Schneematsch zieht ein Jugendlicher seinen kleinen Bruder auf einem Schlitten. Mühsam arbeitet sich ein Rollstuhlfahrer voran. In einem schmucken Möbelgeschäft sitzt eine ganze arabische Familie Probe auf schwarzen Ledersesseln mit goldenen Beschlägen. Die Möbel sehen aus wie aus einem Märchen aus 1000 und einer Nacht. Viel Prunk und Verzierungen.
Ecke Wildenbruchstraße befindet sich die Polizeidirektion 5 Abschnitt 54. Man möchte nicht wissen, was die dortigen polizeilichen Einsatzkräfte nachts so alles zu tun haben. Gleich gegenüber befindet sich ein Bestattungsinstitut für islamische Bestattungen.
An den Haustüren kleben ab und zu Werbezettel für Briketts. In manch einem unsanierten Mietshaus gibt es noch die eine oder andere Ofenheizung. Und wieder lädt ein prunkvolles Möbelhaus zum Schauen ein. Ein Stück weiter gibt es bei "Queen" richtig hübsche Kleider zu kaufen. In einer arabischen Bäckerei wird einem freundlich zugelächelt. Eine spannende Impression folgt der nächsten. Vor einem grauen Altbau wurde ein Hochsicherheitstor errichtet. Zugang wie zu einem Ghetto. Man fühlt sich nach Rio de Janeiro oder in die Bronx versetzt.
Mekka-Reisen, Wasserpfeifen, hoch qualitative Musikinstrumente beim Musikservice. Die Sonnenallee bietet so manches, was woanders nicht ohne weiteres zu finden ist.
In der Galerie El-Salam werden prachtvolle Stoffe und Gardinen angeboten. In der VIP-Lounge und im Musik-Café Havana 80 treffen sich arabische Jugendliche. Vor einem Lieferservice trinken zwei Männer schmerzfrei eine Pilsette im Schneetreiben. Ein paar Meter weiter wird man auf eine Bar aufmerksam, an der Plakate mit der albanischen Fahne und der Kosovo-Flagge hängen. Auch die Kosovo-Albaner haben ihr Plätzchen an der Sonnenallee gefunden.
Auf der anderen Straßenseite lockt das "Nussdepot Ed & Fred", der Name könnte aus einem Mafia-Streifen stammen, mit frisch gerösteten Mandeln, Nüssen und Kernen.
Flüge nach Beirut für 358 Euro und Flüge nach Damaskus für 299 Euro werden in einem arabischen Reisebüro angeboten. Die Sonnenallee ist in arabischer Hand. Türkische Geschäfte sieht man kaum. In einem Libanon-Bistro werden Schawarma und Falafel für je ein Euro angeboten. Ein Euro! Wo gibt es so etwas noch? Wer dem Braten nicht traut kann im "Ris A" ein frisches auf Holzkohle geschmortes Hähnchen kaufen. Ecke Reuterstraße. Gleich gegenüber befindet sich das "Café Warschau". Daneben gleich wieder ein riesiger Laden für Sportwetten.
Auf dem Hermannplatz gibt es typisch deutsche Kost. Zwei Currywürste mit Pommes für glatte drei Euro. Was für den richtig großen Hunger und den Berliner Geschmack. Ein Typ mit riesigen Kopfhörern pilgert über den Platz und mampft lieber eine Pizza. Eine armer Kerl hockt auf einer vereisten Bank und stimmt ein Klagelied an. Schaut man auf dem Platz genauer hin, entdeckt man manch so eine bittere Sache. Unten auf dem Bahnsteig der U8 ist es auch nicht viel besser. Brennpunkt. Schmelztiegel für gescheiterte Existenzen. Bier, Suff, reichlich kläffende Hunde.
Weiter geht es auf der Karl-Marx-Straße in Richtung S-Bahnhof Neukölln. Die Karl-Marx-Straße wirkt ganz anders als die Sonnenallee. Hier haben sich andere Kulturen angesiedelt. Gleich zu Beginn wird man auf den asiatischen Supermarkt "Hao-You-Duo" und eine Sushi-Bar aufmerksam. Es folgen ein afrikanischer Abschnitt und ein indisches Geschäft. Jede Nation hat hier sein Plätzchen. Vielerorts werden Kleidungsartikel an Hauseingängen verkauft.
Ab den modernen Neuköllner Arkaden wird die Karl-Marx-Straße zu einer richtigen Einkaufsstraße mit Main-Stream-Geschäften. Gegenüber des C&A-Kaufhauses wurde ein neuer Komplex mit großen Glasscheiben errichtet. Einst befand sich dort der überaus hässliche Klotz, in dem Hertie zu Hause war. Glücklicherweise wurde die Bausünde aus den 70er Jahren komplett umgebaut. Nun laden H&M, Esprit und andere Läden zum Bummeln ein.
Auf der linken Seite folgen nun zwei kulturelle Highlights des Bezirks. Zum einen die Neuköllner Oper und das Kino in der Passage, zum anderen das Café Rix und der "Heimathafen" im Saalbau. Mit Sicherheit gehört das Café Rix zu den attraktivsten Cafés der gesamten Stadt. Zum einen sind die Preise durchaus annehmbar, zum anderen ist die Küche dort hervorragend! Vorbei an zahlreichen Imbissen, Handy-Shops und 1-Euro-Geschäften geht es weiter in Richtung Ringbahn. Hinter dem Karl-Marx-Platz wird die Straße ruhiger. Vorbei geht es an der evangelischen Kirche der Magdalenen-Gemeinde. Wöchentlich werden dort Lebensmittel an Bedürftige ausgeteilt. Und wieder ist man beim Punkt. Fakt ist, dass extrem viele Bewohner von Neukölln-Nord Sozialleistungen beziehen. Das Jobcenter muss täglich ganze Arbeit leisten.
Kurz vor dem S-Bahnhof Neukölln kann man rechts in einem Balkan-Geschäft kroatische und serbische Spezialitäten kaufen und in der Bar "Viva Polonia" ein polnisches Bier trinken. In Neukölln sind sehr viele Nationalitäten vertreten. Türken, Libanesen, Afghanen, Inder, Polen, Kroaten, Serben, Afrikaner, Chinesen, Japaner... Nach dem Spaziergang auf den Hauptstraßen geht es nun mitten rein in den Kiez. Was erwartet einen dort? Zwei Bilder. Es gibt Ecken, die in der Tat extrem trist und grau wirken. Andererseits gibt es in Rixdorf die Gegend rings um den Richardplatz. Die Straßen im böhmischen Dorf werden immer beliebter - und teurer.
Vielerorts werden Wohnhäuser saniert. Das Quartiersmanagement Senatsverwaltung für Stadtentwicklung leistet ganze Arbeit und versucht den Leerstand in den Nebenstraßen zu verringern. Erste angesagte Studentenkneipen und Galerien machen auf. In studentischen Kreisen werden bestimmte Viertel von Neukölln immer angesagter. Relativ preiswerte Altbauwohnungen und Platz für Nischen zur Selbstverwirklichung.
Fazit: Trotz all der Probleme des Bezirks - wer einmal dort wohnt, wird die multikulturelle Vielfalt zu schätzen wissen.
Fotos: Marco Bertram
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