Alles was hier geschrieben steht, hat sich so wie beschrieben zugetragen. Lange habe ich überlegt, ob jetzt nach so vielen Jahren ein solcher Bericht noch aktuell ist. Das Leben in der DDR war sehr vielschichtig. Jeder DDR-Bürger hatte versucht, sich ein wenig persönliche Freiheit in seinem Umfeld zu schaffen und sich mit den Gegebenheiten so zu arrangieren, dass ihm Schwierigkeiten mit dem Staat möglichst erspart blieben. Viele haben an den sogenannten “real existierenden Sozialismus” geglaubt. Einige von ihnen haben Schuld auf sich geladen. Die Mehrheit der Bevölkerung hat, nachdem sie einsehen musste, dass am Viermächtestatus nicht zu rütteln war, resigniert. Die Westmächte haben auf ihren Besatzungsstatus verzichtet und damit die Gründung der BRD ermöglicht.
50 Jahre Berliner Mauerbau: Geschichte einer missglückten Flucht
Auch die Sowjetunion hatte die Gründung der DDR gestattet. Allerdings in scharfer Abgrenzung zur BRD. Trotzdem hat sie in ihrem Einflussgebiet geschaltet und gewaltet wie sie wollte. Dazu hat sie noch den Kalten Krieg (Berlinblockade 24. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) provoziert. Für eine schnelle Änderung der politischen Situation war die Zeit erst 1989 gekommen. Daher sollten möglichst viele persönliche Erfahrungen oder Schicksale, die mit der Trennung Deutschlands zusammenhängen, nicht einfach ad acta gelegt werden. Ich habe nie gehört, dass ein BRD-Bürger unter Gefahr für sein Leben in die DDR geflüchtet ist. Aus der BRD sind mir keine Zwangsadoptionen von Kindern wegen politischer Vergehen der Eltern bekannt. Die BRD hat keine politischen Gefangenen an andere Länder verkauft, sie hat keine Familien auseinandergerissen und sie hat niemandem vorgeschrieben, wer seine Verwandten sehen darf und wer nicht. Sie ist auch nicht für die vielen Toten an der Grenze verantwortlich. Vollstreckte Todesurteile (164 an der Zahl), wie in der DDR, gab es in der Bundesrepublik auch nicht.
Nur die vielen sehr unterschiedlichen Einzelschicksale lassen erkennen, wie die Bürger der früheren DDR ihr Leben im sogenannten “real existierenden Sozialismus” gestaltet, gelebt und auch, zum Teil, gelitten haben. In der Schule wurde den Kindern und Studenten zu DDR-Zeiten gelehrt: “Freiheit ist die Einsicht in die Notwendigkeit”. Ein großes Wort. Nur, wer legt das, was notwendig ist, fest?
Es war ein schöner Sommertag. 11. August 1961. Meine Frau und ich, seit einem Jahr verheiratet, standen um die Mittagszeit im Berliner Ostbahnhof auf dem S-Bahnsteig Richtung Schönefeld. Einige Wochen vorher hatte ich für uns beide im Reisebüro am Alexanderplatz Hin-und Rückflug nach Karl-Marx-Stadt (jetzt wieder Chemnitz) gebucht. Wir wollten bei meinen Eltern im Erzgebirge zwei Urlaubswochen verbringen. Auf einmal hörten wir die Durchsage: Aus technischen Gründen wird der S-Bahnverkehr in Richtung Schönefeld eingestellt. Nun standen wir da, und wussten nicht, wie wir zur rechten Zeit den Flugplatz Schönefeld erreichen sollten. Im Eiltempo verließen wir den Bahnhof um nach einem Taxi Ausschau zu halten. Zum Glück stand auch eins am Taxihaltestand. Zu damaliger Zeit war das eine Seltenheit. Der Taxifahrer gab sein Bestes. So waren wir doch noch pünktlich am Flughafen. Was uns sehr verwunderte: Das Flughafengebäude wirkte wie ausgestorben. Die Schalter zum Einchecken waren geschlossen. Nach einigem Suchen gelang es uns, eine Angestellte des Flughafens zu finden, die uns bei der Abwicklung der Formalitäten behilflich war.
Nun warteten wir auf den Aufruf zum Abflug. Nach einiger Zeit kamen zwei sehr junge Piloten auf uns zu und meinten, sie müssten unsertwegen ihren Vogel wieder abdecken. Der Flugverkehr sei eigentlich insgesamt eingestellt. Zu Fuß gingen wir zum Flugzeug, einem sowjetischen Doppeldecker vom Typ AN 2. Tatsächlich waren wir die einzigen Passagiere. Das Flugzeug besaß nicht eine Spur von Komfort. Wenn ich mich richtig erinnere, saßen wir auf ganz einfachen Sitzen mit Stahlrohrrahmen. Der Motor verursachte ziemlichen Lärm. Nach einem gemächlichen Start gewann das Flugzeug langsam an Höhe und flog in Richtung Osten. Wir nahmen an, der Pilot fliege nur eine große Schleife und gehe dann auf Kurs nach Süden. Nach einiger Zeit bemerkte ich, dass wir einen ziemlich breiten Fluss entlang flogen, der nur die Oder sein konnte.
Das Wasser des Flusses glänzte in der Sonne wie Silber. Etwas später sahen wir eine größere Stadt unter uns liegen. Das konnte nur Cottbus sein. Weit über zwei Stunden dauerte der Flug bis Karl-Marx-Stadt. Mit dem Bus erreichten wir dann gegen Abend den Wohnort meiner Familie.
Am Sonntag, den 13. August - wir saßen gerade beim Frühstück - kam mein Vater mit der Nachricht ins Zimmer, in der Nacht wäre Westberlin komplett abgeriegelt worden. Kein DDR-Bürger dürfte ab sofort, weder zu Fuß noch anderswie, Westberliner Gebiet betreten oder in die BRD reisen. Alle Straßenübergänge und Grenzbahnhöfe der S- wie U-Bahn sind geschlossen. Nach dem ersten Schreck meinte ich, es wäre unvorstellbar, dass ein solches Unternehmen auf Dauer gelingen könnte. Welch ein Irrtum.
Jetzt war uns auch klar, warum der Flughafen so gut wie leer war und unser Flug einen solchen Umweg nehmen musste. Das Gebiet um Schönefeld war der Aufmarschplatz für Volksarmee und Kampfgruppen, die dann vom Sonnabend zum Sonntag zur Abriegelung in und um Berlin im Einsatz waren. Trotz der Hiobsbotschaft verbrachten wir unseren Urlaub mehr oder weniger unbeschwert und flogen dann, jetzt mit der vollbesetzten AN, auf direkter Route zurück nach Berlin.
Wenige Tage später kam unser Freund Günter H. von seiner Campingreise an der Ostsee zurück. Günter H. und seinen älteren Bruder Klaus kannte ich von den ersten Tagen an, die ich in Berlin war. Seine Eltern, die ich heute noch sehr verehre, hatten für mich und später auch für meine Frau, immer ein offenes Haus. Sie besaßen ein sehr schönes Einfamilienhaus in einer sehr ruhigen Straße im Ostberliner Stadtbezirk Lichtenberg. Der Vater als Kleinunternehmer hatte seit Anfang der 30er Jahre einen kleinen Betrieb, in dem Plomben und Dichtungen hergestellt wurden. Die Mutter, Hausfrau, kümmerte sich um alles, was sonst in der Familie anfiel.
Bei dem Durcheinander an den ersten Tagen nach der Absperrung gelang noch vielen die Flucht nach “drüben”, wie es fortan hieß. Diese Chance bestand für uns nicht mehr. Inzwischen hatten wir mitbekommen, dass es ohne Hilfe von außen keine Möglichkeit gab, nach Westberlin zu gelangen. Das große Problem für unseren Freund Günter und seinem Bruder Klaus war, sie studierten an der Technischen Hochschule in Westberlin, die für sie jetzt unerreichbar war. Der Not gehorchend arbeitete Günter vorübergehend im Betrieb seines Vaters. Klaus wurde an die Technische Hochschule in Dresden verwiesen. Günter wollte aber auf Biegen und Brechen nach Westberlin. Dort wartete seine Freundin Heidrun auf ihn. Nach einiger Zeit durften BRD-Bürger wieder nach Ostberlin einreisen. Westberlinern war das verwehrt. Die DDR-Regierung unterschied streng zwischen BRD und Westberlin, das dem Vier-Mächte-Status unterstellt war. Nach Auffassung der DDR-Regierung gehörte Westberlin als “Besondere politische Einheit” nicht zur Bundesrepublik Deutschland.
Einem Freund von Günter H. aus Strausberg, ebenfalls Student an der TH, war es kurz nach der Abriegelung gelungen, mit einer dänischen Fußballmannschaft, die ihn in ihrem Bus versteckte, nach Westberlin zu flüchten. Auf Betreiben dieses Freundes und der Freundin Heidrun, besuchten immer öfter Studenten aus Westberlin mit BRD-Pass Günter und Klaus H. Wir saßen dann mit ihnen zusammen im Haus der Familie H. und berieten, wie wir doch noch nach Westberlin gelangen könnten. Die an der Grenze ausgestellten Passierscheine wurden immer und immer wieder mit Quarzlicht und Erwärmung auf Fälschungsmöglichkeit untersucht. Die Flucht durch Abwasserkanäle und anderes mehr wurde erörtert. Eine Passierscheinfälschung erschien uns viel zu riskant, da sie mit Nummern versehen und sicherlich registriert waren. Vielen DDR-Bürgern war die Flucht durch unterirdische Kanäle noch gelungen. Dazu fehlten uns aber die entsprechenden Beziehungen. Nach einigen Überlegungen unterbreitete ich den Vorschlag, die Flucht doch noch an einem vermutlich mangelhaft gesicherten Grenzabschnitt zu versuchen. Meiner Meinung nach, befand sich ein solcher Abschnitt an der S-Bahnstrecke zwischen den S-Bahnhöfen Wollankstraße und Schönholz. Hier führte eine nicht zu breite Straße am Bahngelände, das zu Westberlin gehörte, entlang. Die andere Straßenseite wurde durch die Mauer eines Friedhofs zu Ostberlin hin abgegrenzt. Die Straße selbst war Grenzgebiet. Hier patrouillierten die Ostberliner Sicherheitskräfte.