Mutterseelenallein in einem Gästeblock. Anlässlich der Abstimmung über das DFL-Papier hat der lesenswerte Italien-Blog altravita.com eine witzige Anekdote parat. In den Genuss eines überaus sicheren Stadionerlebnisses kam beim Montagabendspiel Sampdoria Genua gegen Udinese der 37-jährige Arrigo Provedani. Wieso? Ganz einfach: Er war der einzige Auswärtsfan und hatte den Gästesektor komplett für sich allein. Beim Lesen dieses Blog-Eintrages kam sofort ein eigenes Erlebnis im Geiste wieder hoch. Gästeblock? Kuriose Erlebnisse? Da war doch was im Nürnberger Frankenstadion. Im Frühjahr 1992. Bei der Partie gegen Bayer Leverkusen kam man komplett ohne Gästebereich aus.
Sicheres Stadionerlebnis anno 1992: 1. FC Nürnberg gegen Bayer Leverkusen
HotLästermäuler denken nun gleich: Kein Wunder, es kam ja auch kein Fan der Werkself mit. Ganz so war es aber nicht. Vielmehr wurde der Gästeblock einfach für sämtliche Fans geöffnet. Auf diesem Wege war das Frankenstadion des 1. FC Nürnberg wirklich restlos ausverkauft. Jedoch alles hübsch der Reihe nach: Man schrieb den 1. Mai 1992. An der Tagesordnung stand der 35. Spieltag. Nein, kein Tippfehler. Die 1. Bundesliga hatte auf Grund der „Ost-Erweiterung“ – Dynamo Dresden und der F.C. Hansa Rostock waren in der Saison 1991/92 erstmals mit dabei – 20 Mannschaften. Die Ausgangslage: Tabellenführer war Eintracht Frankfurt. Ärgste Verfolger waren der VfB Stuttgart, Borussia Dortmund und zu jenem Zeitpunkt auch der TSV Bayer 04 Leverkusen. Dahinter rechneten sich der 1. FC Kaiserslautern, der 1. FC Köln und der 1. FC Nürnberg einiges in Sachen UEFA-Cup-Startplatz aus.
Tabellensechster gegen Tabellenvierter. Es war angerichtet. Das Nürnberger Publikum war heiß auf die Europapokal-Teilnahme. Ein volles Schmuckkästchen (damalige übliche Bezeichnung für die modernen Stadien in Leverkusen und Nürnberg) war somit garantiert. Durchaus heiß waren auch die Anhänger der Werkself, doch bei einem Freitagabendspiel war klar, dass sich nicht allzu viele Bayer-Fans auf den rund 420 Kilometer langen Weg machen würden. Zwei große gecharterte Busse sollte es geben. Dazu noch einen kleinen Minibus. Der damalige Fanbeauftragte Peter B. hatte im Vorfeld das Geld eingesammelt und nahm sich der Sache an. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Auf dem Parkplatz vor der Wilhelm-Dopatka-Halle gegenüber des Ulrich-Haberland-Stadions rollten nur ein Bus und der Minibus vor. Der zweite Bus würde gewiss gleich kommen.
Gewiss gleich kommen? Bei diesem Fanbeauftragten hatten einige bereits bittere Erfahrungen machen müssen. Nicht lange gefackelt und hinein in den ersten Bus. Der Minibus stand persönlichen Freunden zur Verfügung. Die restlichen Fans blieben auf dem Parkplatz stehen und würden an diesem Tag nicht mehr das Frankenstadion sehen. Vom zweiten Bus war keine Spur. Er wurde wohl erst gar nicht gebucht. Der Bus, der gen Nürnberg rollte, spottete zudem jeglicher Beschreibung. Anscheinend frisch vom Schrottplatz geholt und für diesen Fußballtrip reaktiviert. Als Fußballfan der frühen 90er war man ziemlich schmerzfrei, was Sonderzüge und Fanbusse betraf, doch dieses Vehikel ließ selbst die unerschrockenen Allesfahrer die Augenbrauen hochziehen.
Klappernd, stinkend, mit mäßigem Tempo tuckerte der Bus die A3 entlang. Die hintere Scheibe war nicht mehr vorhanden, so zog es drinnen wie Hechtsuppe. Um die Fahrt ein wenig erträglicher zu machen, spannten ein paar ältere Haudegen ihre Fanclubfahne über die klaffende Öffnung. Von außen betrachtet bot sich ein Anblick, der jedem Streifen à la „Football Factory“ alle Ehre machen würde. Jede Anfahrt auf einem Rastplatz oder Tankstelle (gefühlt waren es mehr als zehn) wurde zum Erlebnis für sich. Erschrockene und erstaunte Gesichter an jeder Ecke. Dank der arg eingeschränkten Höchstgeschwindigkeit wurde das Nürnberger Frankenstadion erst kurz vor Anpfiff erreicht. Während wir noch im Bus saßen und auf Anweisungen warteten, brodelte es bereits auf den Rängen. In der Magengegend rumorte es gewaltig. Vorfreude und Ungewissheit. Sportlich stand einiges auf dem Spiel.
Irritierte Gesichter bei den Leverkusener Schlachtenbummlern beim Betreten des „Gästebereichs“. Das Spiel sollte in fünf Minuten beginnen und man konnte diesen Block einfach nicht betreten. Er war rappelvoll – und zwar mit Fans des 1. FC Nürnberg. Ein Blick auf das Ticket. Ein Blick auf den Blockzugang. Theoretisch hatte alles seine Richtigkeit. Nur mit Mühe war es möglich, zwischen all den Franken ein Stehplätzchen zu finden. Hierbei muss betont werden, dass vor 20 Jahren eine weitaus größere Dichte auf den Stehrängen herrschte. Zum einen wurden mehr Zuschauer zugelassen, zum anderen hatte man des Öfteren das Gefühls, dass bei Spitzenspielen schon mal ein Auge zugedrückt wurde.
„Leeee-veeer-kuuuuusen!“ Zwischen all den Glubb-Fans versuchten ein paar Unerschrockene ein Liedchen anzustimmen. Völlig absurd. Es war, als würde in der Maschinenhalle von MAN eine Pille fallen. Kaum hatte man eine Nische zum Stehen gefunden, liefen die beiden Mannschaften ein und gegenüber vor der Nürnberger Fankurve wurden zahlreiche Bengalische Fackeln gezündet. Kontrolliert, genehmigt – und einfach hübsch anzusehen. Rund 20 rote Fackeln in einer Reihe läuteten den Kampf um die vorderen Plätze der Bundesliga ein. Ein enormer Lärmpegel machte das Stadion zum Tollhaus. Die Bayer-Elf erstarrte wie ein Kaninchen vor der Schlange und spielte wie gelähmt. Ulf Kirsten, Andreas Thom, Ioan Lupescu, Jupp Nehl, Andrzej Buncol, Markus Happe, Martin Kree, Jürgen Radschuweit, Christian Wörns und auch Jorginho konnten nicht in gewohnter Form aufspielen. Allein Torhüter Rüdiger Vollborn zeigte Normalform und bewahrte sein Team lange Zeit vor einem Rückstand. Machtlos war er schließlich in der 57. Minute, als Martin Wagner den Treffer des Tages erzielte.
Das mit dem sicheren Stadionerlebnis war nun so eine Sache, denn der Mob war außer sich vor Freude. Tausende jubelnde Fans. Auch im eigentlichen Gästeblock. Wie Wellenbrecher inmitten der Pulks verharrten reglos die rund 200 mit Bus und eigenem PKW angereisten Bayer-Fans. Eine schmerzliche Erfahrung, die tosende Freude nur Zentimeter entfernt rings um sich herum fühlen zu müssen. Zeit für einen frustgeladenen Amoklauf? Eher machten sich Hilflosigkeit und pure Enttäuschung breit. Nürnberg brachte das 1:0 über die Zeit und rückte zu Leverkusen auf. Gereicht hatte es am Ende der Saison für beide Vereine nicht. Köln und Kaiserslautern konnten sich hinter dem Spitzentrio die begehrten UEFA-Cup-Startplätze sichern.
Dass die Kölner den Sprung an den europäischen Trog schafften, hatte auch was für sich. Denn somit kamen wir - die jetzigen Macher von turus.net - im Herbst 1992 in den Genuss des stimmungsvollen Auftritts des Celtic FC im Müngersdorfer Stadion. Mit dabei im Gästeblock. Allerdings ist dies eine Anekdote, die später in aller Ruhe erzählt wird.
Fotos: turus Archiv