Es ist doch immer das Gleiche. Kaum ist in einer Polizeimitteilung was von 112 verletzten Beamten bei einem Viertligaspiel in Berlin zu lesen, übernehmen die meisten Zeitungen diese Angaben ungeprüft. Dass selbst in genau dieser Mitteilung stand, dass nur zwei von diesen 112 Verletzten ambulant behandelt werden mussten, hinterfragte kaum jemand. Die Schlagzeilen standen fest. Punkt. Fertig. Das Desaströse am Ganzen: Von den in Berlin „112 verletzten Polizisten“ wurde sogar in englischen Provinzzeitungen geschrieben. Das dortige Fazit der Medien: Seht Ihr, solche Probleme haben wir beim englischen Fußball nicht mehr. Hier wurde alles richtig gemacht! Vor Ort war bekanntlich kaum ein Medienvertreter, doch übernommen wurde die Meldung fast 1:1. Nun aber: Meldet sich ein langjähriger Mitarbeiter eines Fanprojektes, der Jahr ein, Jahr aus, wirklich nah am Geschehen ist, zu Wort, sind die Medien skeptisch.
Hässliche Szenen beim Spiel RB Leipzig vs. 1. FC Nürnberg: Eine ausführliche Nachlese
HotWorum es geht? Heino Hassler (59 Jahre alt) vom Fanprojekt Nürnberg verfasste einen offenen Brief an den sächsischen Innenminister Ulbig, der zugleich oberster Dienstherr der Sächsischen Polizei ist. In ungewohnt deutlicher Form kritisiert der Fanprojekt-Mitarbeiter die Polizeieinsätze im Rahmen des Zweitligaspiels RasenBallsport Leipzig vs. 1. FC Nürnberg am 05. April 2015. Seit 26 Jahren begleitete Heino Hassler den Club bei über 1.000 Spielen, und wenn er in dem offenen Brief schreibt, dass der Polizeieinsatz beim Auswärtsspiel in Leipzig - gelinde gesagt - der Übelste war, muss das wahrlich was heißen. Logisch, dass vor Ort bei einem Auswärtsspiel, bei dem rund 5.000 Fans anreisen, niemand alles sehen und alle Ereignisse objektiv einschätzen kann. Kein Journalist der Welt kann das, kein Polizeisprecher, kein Fußballfan und auch kein Mitarbeiter eines Fanprojektes. Fakt ist jedoch, dass Fanprojekt-Mitarbeiter meist dicht am Geschehen sind, um zu klären, zu beobachten und um notfalls schlichtend einwirken zu können.
Einer der Hauptkritikpunkte im offenen Brief war die Einlasssituation an der Leipziger Arena. War die Stimmung zuvor bei der Anreise im Sonderzug und in den Shuttle-Bussen eher entspannt, so wurde dort am Eingangsbereich des Gästeblocks unnötigerweise Druck aufgebaut. Es gab penible Kontrollen von Seiten des Ordnerdienstes - das Fanprojekt schreibt sogar von Leibesvisitationen - und die Masse staute sich an den sechs zur Verfügung stehenden Eingängen. Schon bald kippte die Stimmung und die polizeilichen Einsatzkräfte setzten Schlagstock und Pfefferspray ein. Dabei wurden auch zahlreiche jugendliche Fans attackiert. So berichtet Heino Hassler, dass viele Nürnberger Fans wegen Nichtigkeiten von mehreren Beamten zu Boden gerissen wurden. Ein zirka 50-jähriger Fußballfan wurde von der Polizei gezwungen, seine zuvor angefertigten Fotos von seinem Handy zu löschen. Obwohl nach Angaben des Nürnberger Fanprojektes bereits ein Großteil der Gästefans gegen 12 Uhr vor dem Einlass stand, erreichten zahlreiche Fans erst nach Anpfiff der Partie den eigentlichen Gästeblock.
Nach dem Spiel wurde es richtig hässlich. Auswärtsspiel in Leipzig? Ein gemütlicher Fußballausflug sieht anders aus! Bereits viele andere Fanszenen können ein Liedchen davon singen. Bei diesem Punkt schien sich der Mitarbeiter des Fanprojektes richtig in Rage geschrieben zu haben. Wortwörtlich heißt es: „Nach dem Spiel begannen dann die richtigen „Jagdszenen“ auf Nürnberger Fans von Seiten der Polizei. Bei Betreten des Hauptbahnhofs versuchte die Polizei, die Gruppe der Nürnberger Ultras ohne ersichtlichen Grund zu trennen. Als dies offensichtlich nicht schnell genug von statten ging, wurden einzelne Fans zu Boden gebracht, ihnen wurden Handschellen angelegt und sie wurden anschließend über den Boden schleifend zur Einsatzwache im Bahnhof bzw. zu den vor dem Bahnhof stehenden Polizeifahrzeugen gebracht. Der absolute Höhepunkt war dann der Einsatz einer ca. 25 Mann starken Polizeigruppe, die plötzlich im Laufschritt auf den Bahnsteig der auf ihren Sonderzug warteten Fans rannte, um dort wahllos auf Fans einzudreschen.“
Klingt übertrieben? Zu banal ausgedrückt? Mag sein, aber manchmal müssen es solch einfache Worte sein, damit verstanden wird, wovon die Rede ist. Die Aussage kommt indes von keinem „Fußball-Frischling“, bei dem bereits bei einem vorsorglich aufgesetztem Helm die Muffe kommt, sondern von einem Mann, der weiß, wovon er spricht. Von einer Person, die seit Jahrzehnten vor Ort beim Fangeschehen ist. Einer Person, die ganz gewiss manch witziges und manch arges miterlebte. In den 80ern, in den 90ern und im neuen Jahrtausend. Ja, es mag sein, dass man im sächsischen Innenministerium den offenen Brief mit einem Lächeln las, weil die Wortwahl teilweise etwas unbedarft herüberkommt. Aber ja, es ist keine Pressemitteilung einer Polizeidienststelle, bei der man ganz genau weiß, was hineinzupacken ist, damit die Medien ein fürs andere Mal zuschnappen und die Sache in ihren Artikeln 1:1 verwursten.
In seinem offenen Brief heißt es weiterhin: „Fanprojekte stehen im ständigen Dialog mit allen an Fußballspielen beteiligten Institutionen, auch der Polizei. Sie können sich gerne in Nürnberg erkundigen, ich stehe nicht im Verdacht, bei jeder Kleinigkeit die Polizei zu kritisieren. Was wir allerdings in Ihrem Bundesland erleben durften, war ein negativer Höhepunkt der unglaublichsten Art. Auf der Rückfahrt hatten alle Fans den Eindruck geäußert, dass die Polizei richtiggehend „heiß“ darauf war, die Fans zu provozieren, anstatt deeskalierend einzuwirken wie es nach unserer Ansicht ihre Aufgabe wäre.“
Traurig, aber wahr. Im sächsischen Innenministerium wird man das Ganze sehr schnell vom Tisch wegwischen. Polizeieinsatz am Leipziger Hauptbahnhof? Alltag in der Messestadt. Zum einen ist dieser Hauptbahnhof Dreh- und Angelpunkt für viele reisende Fußballfans, die in der Region Nordost von A nach O wollen. Zum anderen gibt es selbst bei Spielen des 1. FC Lok Leipzig und der BSG Chemie Leipzig gewisse Risiken. Nur als Beispiel: Die Loksche zu Gast in Markranstädt vor wenigen Wochen. Jedoch ist dies ein anderes Thema. Ein Punkt, der auf jeden Fall genauer unter die Lupe genommen werden muss: Der Gästebereich der Leipziger Arena, in der RasenBallsport Leipzig seine Heimspiele austrägt. Kritik am eingesetzten Ordnerdienst gab und gibt es immer wieder. Reif für die 1. Bundesliga? In Sachen Infrastruktur darf gern noch nachgearbeitet werden. Wir sprechen schließlich von der Bundesliga und nicht von einem Bolzduell in der NOFV-Oberliga Süd. Vorbei die Zeiten, in der im Leipziger Zentralstadion unterklassige Krawall-Duelle à la FC Sachsen - 1. FC Lok Leipzig ausgetragen wurden. In der Bundesliga darf Professionalität auch in Sachen Betreuung der Gästefans erwartet werden.
Harsche Kritik gab es im Nachfeld nochmals vom Nürnberger Fanprojekt. Einen Nachtrag verfasste Katja Erlspeck-Tröger. Wenn mit 5.000 Gästefans gerechnet wird, erwartet man nach all den vorherigen Besprechungen eine sinnvolle Einsatzstrategie. Genau diese war aus Sicht des Nürnberger Fanprojektes allerdings nicht erkennbar. Pünktlich, vor dem Eintreffen der Nürnberger Fans, gab es vor Ort einen Rundgang und eine Sicherheitsbesprechung. Genutzt hatte dies wohl wenig, denn wie folgt ist in der Schilderung von Frau Erlspeck-Tröger zu lesen:
„Um ca. 11:45 Uhr erfolgte an einem Seiteneingang die Kontrolle der Fanmaterialien und die Brandschutzkontrolle der Choreografie, an der ein Fanbeauftragter des 1. FCN, ein Mitarbeiter des Fanprojekts Nürnberg und, wie vereinbart, ca. acht Ultras teilnahmen. Ungefähr zeitgleich startete der Gästeeinlass. Die Fans stellten sich vor der Vereinzelungsanlage mit ca. sechs Drehkreuzen an. Hinter den Drehkreuzen standen viele Ordner und nahmen jede einzelne Person mit einer Leibesvisitation in Empfang. Die Fans mussten ihre Schuhe ausziehen und die T-Shirts bis auf die sichtbare Haut nach oben ziehen. Nach ca. drei Minuten kippte die Situation, und plötzlich brach eine Auseinandersetzung zwischen Ordnungsdienst und Fans aus. Die Polizei schritt ein. Dabei kam es zu massivem Pfeffersprayeinsatz wahllos in die Menge. Fans wurden durch einen seitlichen Personaleingang wieder von der Polizei und dem Ordnungsdienst vor das Stadion gebracht bzw. geschleift.“
Es darf von ausgegangen werden, dass sich das Fanprojekt Nürnberg diese Angelegenheit nicht ausgedacht hat. Nun darf zum einen nachgefragt werden: Weshalb um Himmels Willen muss vor Ordnern die blanke Haut präsentiert werden? In was für einem Staat leben wir? Wo soll dieser Irrsinn noch hinführen? Wer soll in Anbetracht solcher Kontrollen noch Lust verspüren, als Auswärtsfan zu RB Leipzig zu fahren? Ist es so gewollt, dass letztendlich kein Gästefan mehr anreisen möchte? Sagt es nur, dann kann das Kasperletheater sicherlich auch unter Ausschluss sämtlicher Auswärtsfans durchgeführt werden. Mal schauen, wie lange es dem Leipziger Publikum gefallen würde. Ja, jetzt mögen manche wieder zetern und die Polemik-Keule beklagen. Aber sorry, was soll man dazu noch sagen?!
Und es kommt ja noch „besser“: „Der Einlass wurde für ca. 17 Minuten nach der Auseinandersetzung unterbrochen, um allen Einsatzkräften ein Sammeln zu gewährleisten. In dieser Zeit kämpften unsere Fans, die Pfefferspray oder Schläge abbekamen, mit Atemnot, Augenproblemen und anderen Blessuren. Leider gab es kaum Sanitätspersonal in der Gästekurve, was schon zu diesem Zeitpunkt zu einer mangelhaften Notfallversorgung führte. Dringend zu empfehlen wäre eine Wasserversorgung für den Notfall im Gästeeingang. Als der Einlass wieder aufgenommen wurde, wurden die Kontrollen inklusive der massiven Leibesvisitationen fortgesetzt. Selbst Kinder mussten die Schuhe ausziehen und ihre T-Shirts bis zur sichtbaren Haut nach oben ziehen. Diese Kontrollen geschahen teilweise auch in einem separaten Nebengebäude, das man aber nur durch den seitlichen Personaleingang erreichen konnte und wofür die Fans wieder den Stadioninnenraum verlassen mussten. Fans, die sich weigerten, eine Leibesvisitation zu machen, wurden des Stadions verwiesen.“
Ehrlich, es fehlen einem schlichtweg die Worte. Ja, wir schenken den Aussagen des Fanprojektes Nürnberg Glauben. Warum auch nicht? Verein und Polizei dürfen gern ihre Gegendarstellungen abgeben. Und da bekanntlich zwischen Pressemitteilungen der Polizei und dem mit eigenen Augen Gesehenem mitunter eine eklatante Lücke klafft, lesen wir einfach mal weiter, was Katja Erlspeck-Tröger zu sagen hat:
„Die nicht weniger werdende Fanmenge vor den Vereinzelungsanlagen stellte nach ca. 90 minütiger Wartezeit für unsere Fans auch ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar, denn die Menge drückte von hinten auf die Fans im vorderen Bereich an den Einlassgittern. Dies hätte im Vorfeld schon durch vernünftig abgestufte Absperrmaßnahmen verhindert werden können, gerade wenn man als Veranstalter 5.000 Gästefans erwartet. So kam, was kommen musste: Die ersten Personen klappten in der Menge zusammen, darunter eine ca. 50-jährige Frau, die fast bewusstlos vor den Drehkreuzen lange Zeit warten musste, bis sie nach innen in den Stadionraum geholt wurde. Ihr in Wut und Angst versetzter und zu recht aufgebrachter Ehemann wurde von Ordnern festgehalten und beschimpft.
Er musste von mir beruhigt werden, was aber nicht unbedingt gut funktionierte, da er verständlicherweise zu seiner verletzten Frau wollte. Die Frau musste im Utensilien-Container, der sich auch im beengten Raum am kleinen seitlichen Personaleingang befindet, ca. 20 Minuten auf einen Sanitäter warten. Da ihr Mann nicht in den Container durfte, versicherte ich ihm, mich um seine Frau zu kümmern, was ich dann auch tat. Die Frau äußerte ständig, sie bräuchte dringend etwas zu trinken und rang am Boden liegend im Container um Luft. Als Antwort vom Ordnungsdienst bekam sie zu hören, sie hätten kein Wasser. Ich griff nach der nächstbesten Wasserflasche, die dort herumstand, und versorgte die Frau.
Anschließend wirkte ich massiv auf den Ordnungsdienst ein, endlich den Ehemann in den Container zulassen, was dann auch endlich umgesetzt wurde. Unser Fanbeauftragter und ich drängten darauf, dass wenigstens ein Sanitätsfahrzeug zusätzlich zu den zwei Sanitätern im Container, die anscheinend für 5.000 Personen zuständig waren, für die Fanmenge außerhalb des Stadions zur Verfügung gestellt wird. Schließlich galt es, die Verletzten auch vor dem Stadion zu versorgen, bzw. Vorsorge zu treffen für größere Notfälle, die jederzeit hätten passieren können. Nach einer Viertelstunde fragte ich im Container den Sanitäter, wann denn endlich das Sanitätsauto kommen würde. Dieser versicherte mir, dass ein Wagen angefordert worden wäre. Er meckerte mich aber auch an, was ich denn erwarten würde, schließlich wäre Ostersonntag und die Rettungsstelle hätte doch sowieso schon alles an ehrenamtlichen Helfern, was zur Verfügung gewesen wäre, für diesen Spieltag zusammenkratzen müssen. Dieser Satz hinterließ bei mir neben einem wütenden Fragezeichen hinsichtlich des Veranstalters auch ein sehr ungutes und verunsichertes Sicherheitsgefühl in Bezug auf den Umgang mit den Fans des 1. FC Nürnberg.“
Im nachfolgenden Abschnitt wurde eine Sache auf den Punkt gebracht: Die gefährliche Situation am Eingang des Gästebereichs sei mit voller Absicht verursacht worden. Fanprojekte sind landesweit jederzeit für eine bedachte Wortwahl bekannt. Wenn sich zweifach auf solch eine deutliche Art und Weise zu Wort gemeldet wird, sollten die Alarmglocken schrillen. Was soll noch passieren? Die ersten Schwerverletzten, die zu beklagen sind? Um dann einen medialen Aufschrei zu erzeugen: Fußballkrawalle, Schwerverletzte - gegen Fußballfans / Ultras muss strenger vorgegangen werden? Landesweit finden sich derzeit Zwischenfälle, die sehr nachdenklich stimmen. Vor wenigen Wochen vor dem Gästeblock nach der brisanten Regionalliga-Partie 1. FC Union Berlin II - BFC Dynamo zum Beispiel. Die überaus gefährliche Situation nach dem Spiel war so notwendig wie ein Kropf. Die „112 verletzten Polizisten“ (zwei nachweislich ambulant behandelt) wurden medial ausgeschlachtet ohne Ende, von verletzten Fußballfans, die es jedoch gab, war in der breiten Öffentlichkeit keine Rede.
Wie verhielt es sich denn nach den Vorfällen in Leipzig? Den Pressevertretern kann man beim Punkt Gästeblock nicht mal einen Vorwurf machen. Der Einlass der Gäste liegt gefühlt einen Kilometer entfernt vom Einlass der Medien. Wer soll da was mit eigenen Augen gesehen haben? Und am Leipziger Hauptbahnhof, der bekanntlich ein Kopfbahnhof ist? Polizeieinsätze gibt es dort Monat für Monat. Wer schaut da schon genau hin, wenn Nürnberger Fans Hartgummi und Pfeffer zu spüren bekommen? Aber was genau zu lesen ist? In der Leipziger Internet Zeitung steht wortwörtlich geschrieben: „Die Anhänger des 1. FC Nürnberg seien rund ums Auswärtsspiel bei RB Leipzig von den Sicherheitskräften willkürlich schikaniert worden. Die Darstellung der Polizei und Wahrnehmungen der Reporter von L-IZ.de lassen an dieser Sichtweise zweifeln.“ In einem zweiten Artikel wird die Sache indes etwas offener beleuchtet. Und sonst? Nichts zu lesen. Außer in den bekannten fannahen Portalen. Und bei nordbayern.de. Neutral und sachlich wurden einige Passagen aus den offenen Briefen des Nürnberger Fanprojektes übernommen. Die restliche Medienwelt hüllt sich eher in Schweigen.
Fotos: M. Müller (weitere Bilder folgen)