Schiffbruch, Überfälle, eine Busentführung, schwere Autounfälle. Einige Male wurde es auf seinen Reisen brenzlig, doch immer wieder kam er mit einem blauen Auge davon. Immer wieder kam es zu äußerst gefährlichen Situationen, doch letztendlich ging er seinen Weg. Der Autor und Fotograf Marco Bertram (36) lebt und arbeitet in Berlin. Seine Projekte führten ihn in die verschiedensten Ecken der Erdkugel. In Lateinamerika, Asien und auf dem Balkan fertigte er zahlreiche Fotodokumentationen an. Zuletzt arbeitete er im Auftrag des EU-Parlaments mit die Balkanetappen für den geplanten Iron Curtain Trail aus. Spektakulär war Ende der 90er Jahre das Segelprojekt Berlin-Sydney 2000, das bei schwerem Sturm auf der Nordsee abgebrochen werden musste. Für dieses Jahr sind zwei Buchveröffentlichungen und einige Diavorträge geplant. Das turus Magazin führte mit Marco Bertram ein ausführliches Interview.
Die Gefahr war stets mein Reisebegleiter
HotMarco B.: Schwer zu sagen. Meist war ich zu zweit unterwegs. Diese Form des Reisens hatte sich immer bewährt. Egal, ob auf einer Wanderung durch die Hohe Tatra oder bei einer Zugfahrt mit der Transsib. Doch ich war bereits auch schon zu dritt, zu viert und sogar zu sechst unterwegs. Wenn die Chemie stimmt, klappt es auch als kleine Gruppe. Allein zu reisen ist eher nicht mein Ding.
turus: Wieso?
Marco B.: Ich fuhr mal im Winter zwei Wochen allein durch England und Schottland. Das war im Februar 1995. Das Wetter war grau und ich fühlte mich sehr allein. Mir fehlte einfach jemand zum quatschen. Und als ich an einem regnerischen Abend auf dem Liverpooler Bahnhof von einem finsteren Typen angemacht wurde, merkte ich, dass man allein echt aufgeschmissen ist ...
turus: Das war nicht der einzige Zwischenfall auf deinen Reisen ...
Marco B.: Das kann man wohl sagen. In den 90er Jahren passierten wirklich heftige Dinge auf meinen Reisen. Da war die Sache in Liverpool noch harmlos. Im Banff Nationalpark hatten ein Freund und ich uns fast verlaufen. Das war im Sommer 1993. Wir waren jung und naiv und hatten viel zu wenig Proviant dabei. Wir nahmen die Bergtour in den kanadischen Rocky Mountains auf die leichte Schulter. Fast hätte diese Tour in einer Tragödie geendet. Wirklich mit letzter Kraft erreichten wir Lake Louise. Die Knie kaputt, völlig erschöpft, der Hunger elendig groß ...
Marco B.: Stimmt. Im Sommer 1996 wurden meine Reisebegleiterin und ich gleich am ersten Abend in Rio de Janeiro an der Copacabana von fünf Typen mit Messern überfallen und ausgeraubt. Wieder waren wir zu naiv. Glücklicherweise wurden wir nicht verletzt und konnten unsere siebenwöchige Reise fortsetzen.
turus: In deinem Buch "13 Reise-Fragmente" ist etwas von einer Busentführung zu lesen. Was geschah da genau?
Marco B.: Das ist rasch geschildert. Unser Linienbus von Goiânia nach Belém wurde kurz hinter der Stadt Imperatriz gekidnappt und ausgeraubt. Zwei Männer mit Strumpfmasken und Revolvern gingen durch die Reihen und sammelten Geld und Wertgegenstände ein. Die Fahrgäste wimmerten vor Angst. Draußen war es dunkel, der Bus stand mitten im Urwald. Auch die Räuber hatten Angst und atmeten hektisch unter ihren Strumpfmasken. Eine sehr schlimme Situation.
turus: Die schlimmste in deinem Leben?
Marco B.: Ich glaube, ja! Auch die Autounfälle waren arg und der Schiffbruch war auch übel - aber diese Hilflosigkeit in diesem Bus. Das war das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe. Ich erstarrte vor Angst, als die Typen mit den Knarren durch den Bus liefen. Noch nie hatte ich so große Angst gehabt. Horror pur. Gracias a Deus, dass die Sache glimpflich ablief.
turus: War die Angst während des Schiffbruchs auf der Nordsee genauso groß?
Marco B.: Kurioserweise nicht. Nein, das war ganz anders. Wir wollten ja mit den beiden Segelbooten nach Australien segeln. Wir kamen zu spät los und fanden uns Anfang November 1999 auf der stürmischen Nordsee wieder. Zwei Tage kämpften wir gegen den Sturm an. Man wusste, dass jederzeit ein schwerer Brecher kommen kann. Man war aufgeputscht vor lauter Adrenalin. Die hohen Wellen, die Gischt, die körperlichen Strapazen. Als wir am Abend des 6. Novembers 1999 vor der Insel Vlieland durchgekentert sind und ich ins offene Meer stürzte, verspürte ich keine Angst. Für paar Sekunden war alles ausgeblendet. Mir fehlen ein paar Sekunden Erinnerung. Ich sehe noch die einstürzende Wasserwand. Dann war alles schwarz. Die Erinnerung setzt bei dem Moment ein, als ich in der dunklen Nordsee trieb.
Marco B.: Ohne Hilfe wäre ich ertrunken. Allein schafft man es nicht zurück ins Boot. Ich schwamm zurück ans Heck und mein Segelpartner Raimar half mir ans Deck. Später wurden wir dann von der niederländischen Marine mit Helikopter gerettet.
turus: Das war ein Bruch in deinem Leben, oder? Der Lebenstraum war zerplatzt.
Marco B.: Von 1997 bis Ende 1999 arbeiteten wir nur noch am Segelprojekt. Wir wollten die Erde umrunden. Aus dem Leben in Deutschland aussteigen. Es war nicht leicht, wieder Fuß zu fassen. Ich zog wieder in die City von Berlin, begann zu studieren, kaufte mir eine Fotoausrüstung und fuhr im Herbst 2000 erst einmal weg. Weit weg. Ich wollte Olympia 2000 nicht im Fernsehen verfolgen. Mit der Transsibirischen Eisenbahn fuhr ich nach Irkutsk, Ulan Bator und Peking. Das war eine meiner schönsten Reisen. Die angefertigten Fotos waren mein erster Einstieg in ein neues berufliches Leben.
Marco B.: Ja, auch. Ich wollte mich nie genau festlegen. Schreiben, Fotografieren und Reisen waren bereits meine Kindheitsträume. Ich habe das große Privileg, dass ich meine Träume erfüllen konnte. Wenn gleich es ein harter Weg war. 2003 machte ich mich selbständig, doch es dauerte eine ganze Weile, bis ich wirklich Fuß fasste. Nun arbeite ich als Autor, fertige Fotodokumentationen an, halte Diavorträge und arbeite auch beim Film als Komparse und Kleindarsteller.
turus: Beim Film auch? Verzettelt man sich nicht bei so vielen Tätigkeiten?
Marco B.: Ja und nein. Sicherlich ist es finanziell besser, wenn man sich nur auf eine Sache konzentriert. Doch wie gesagt, ich möchte alles ausprobieren. Ich bin von Natur aus unglaublich neugierig und es war auch ein Traum, mal beim Film zu arbeiten.
turus: Winkt nun auch Hollywood?
Marco B.: Wieso? Babelsberg ist auch nett. Aber im Ernst, es gibt tausende Leute, die auf einen Quereinstieg als Darsteller hoffen. Ich bleibe da entspannt. Ich hatte bereits über 200 Einsätze an den verschiedensten Sets. Ich halte die Augen offen und lerne reichlich dazu. Ich freue mich über jeden Satz und über jede Spielzulage - alles andere wäre vermessen. Mein täglich Brot verdiene ich mit Text und Fotos.
turus: Wo genau liegen die thematischen Schwerpunkte deiner Arbeit?
Marco B.: Früher waren es die Reisen. Nun kommen auch Gesellschaft und Zeitgeschehen dazu. Seit 2001 arbeite ich mit meinen Partnern am Thema deutsch-deutsche Grenze. Die Wanderausstellung, die K. Höft, Frank Schael und ich erstellt hatten, zieht bereits seit April 2005 erfolgreich quer durch das Land. Das Thema "Bereits Gras über der deutsch-deutschen Grenze?" kommt gut bei den Leuten an. Besonders in den kleineren Städten. In Berlin geht so eine Ausstellung unter.
Marco B.: Ja, das war eine parallele Entwicklung. Von Hause aus interessiere ich mich neben Lateinamerika für Osteuropa und den Balkan. Dass ich im Auftrag des EU-Parlaments mithelfen durfte, die Balkan-Etappen des geplanten Iron Curtain Trails auszuarbeiten, war ein Glücksfall. Seit 2005 arbeite ich diesbezüglich mit Michael Cramer MdEP zusammen. Im April 2005 hatte er unsere Wanderausstellung zur Eröffnung zum Europäischen Parlament nach Brüssel geholt. Dafür bin ich heute noch dankbar. Im Anschluss entstand dann die gute Zusammenarbeit in Sachen Iron Curtain Trail.
turus: Auf den Touren durch den Balkan wurde die Zuneigung zu dieser Region geweckt?
Marco B.: Ja. Karsten, Sebastian und ich - wir alle waren fasziniert von Serbien, Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Ich bereiste so häufig Osteuropa, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich Kroatien und Serbien so lieben werde. Die Region hatte irgendetwas in mir geweckt. Ich war selber überrascht.
turus: Sind weitere Touren auf den Balkan geplant?
Marco B.: Vor kurzem waren wir noch einmal in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina. Die Stadt Banja Luka war eine große Überraschung. Im positiven Sinne. Ich mag die Leute dort auf dem Balkan. Die Musik. Die Dramatik.
turus: Noch mehr als Brasilien?
Marco B.: Ich weiß es nicht. Brasilien ist vielleicht mein Favorit. Trotz der Zwischenfälle im Sommer 1996 verliebte ich mich in dieses Land. Im Frühjahr 2008 kehrte ich zurück nach Rio de Janeiro. Ich hatte ein wenig Angst, dass das Gefühl verschwinden würde. Doch ganz im Gegenteil, der zweite längere Aufenthalt in der Stadt am Zuckerhut war genial. Wir wohnten privat bei Brasilianern und die Zeit dort war wundervoll.
turus: Hast du Vorbilder, denen du nacheiferst?
Marco B.: Vorbilder direkt nicht, aber es gibt natürlich Menschen, die ich bewundere. Ich lernte Mitte der 90er Jahre in Hamburg und Kiel Rüdiger Nehberg und Christina Haverkamp kennen. Zwei beeindruckende Persönlichkeiten mit so viel Ausstrahlung und Power. Grandios! Ich schätze sehr ihre Projekte. Besonders die Krankenstationen bei den Yanomami Indianern.
turus: Und im journalistischen Bereich?
Marco B.: Ich habe eine Hochachtung vor dem Lebenswerk von Peter Scholl-Latour. Und auch in meinem persönlichen Umfeld gibt es eine Person, vor der ich den Hut ziehe.
turus: Und die wäre?
Marco B.: Gerade gestern stöberte ich im Netz und stieß auf Interviews meines Schulkameraden Marcus Michaelsen. Wir gingen gemeinsam in eine Klasse der POS. Nun ist er Islamwissenschaftler und lebte einige Jahre in Frankreich, Iran und Pakistan. Seine aktuellen Interviews zum Thema Iran fand ich wirklich klasse. Toll, wie manche Menschen ihren Weg gehen. Das ist natürlich besonders spannend zu beobachten, wenn man als Kind gemeinsam Cowboy und Indianer gespielt hatte ...
turus: Habt Ihr noch Kontakt zueinander?
Marco B.: Nicht wirklich, die Lebenswege liefen doch zu weit auseinander. Ich müsste allerdings mal eine E-Mail schreiben. Ich fand neulich in einer Kiste einen alten Vertrag. Als Jugendliche wollten wir 1988 gemeinsam einen Film drehen. Mit einer Schmalfilmkamera. Es sollte ein Western werden, doch das Vorhaben scheiterte an den hohen Produktionskosten. Eine Filmrolle für 3 Minuten kostete etwa 20 Mark. Ja, ja, schon damals scheiterten die besten Filmideen an den Finanzen. Aber hey, damals waren wir erst 15 ...
turus: Was ist für die Zukunft geplant?
Marco B.: Am Ball bleiben! Schauen, was alles so passiert. Viele Fotos machen, viele Texte schreiben, hoffentlich endlich die beiden geplanten Bücher veröffentlichen und im Herbst wohl einige Diavorträge zum Thema deutsch-deutsche Grenze halten. 20 Jahre Mauerfall - da muss man dabei sein. Als die Berliner Mauer im Herbst 1989 fiel, war ich 16 Jahre alt. Es war eine sehr bewegende Zeit. Ohne dem Fall des Eisernen Vorhangs wäre alles ganz anders gekommen. Auch mein Leben hätte einen anderen Verlauf genommen.
Marco B.: Sicherlich wäre ich nicht Autor oder Fotograf geworden. Bereits zu DDR-Zeiten hatte ich einen Lehrvertrag als Elektromonteur in der Tasche. Bei den Fotochemischen Werken Berlin, die zu ORWO gehörten. Tja, ich hätte gelernt und dann gearbeitet. Und immer an die weite Welt gedacht. Ich hätte immer geträumt. Vielleicht hätte ich auch eine Flucht über ein Drittland versucht. Wer weiß. Schwer zu sagen. Mit Sicherheit hätte ich es in der DDR nicht leicht gehabt. Bereits in der Schule lief ich etwas quer und eckte politisch an. Vielleicht hätte ich auch den Stasi-Knast in Hohenschönhausen von innen gesehen. Ich wäre echt so ein Kandidat gewesen. Ein Dickkopf, der sich von niemanden etwas sagen lassen wollte...
turus: Und wenn du als Jugendlicher in den 60er Jahren im Westen gelebt hättest?
Marco B.: Ich weiß, worauf die Frage hinaus läuft. Ja, 1967 und 1968 hätte ich bei den Studentendemos in der ersten Reihe gestanden. Wenn ich die Aufzeichnungen von damals sehe, bekomme ich Gänsehaut.
turus: Welche Drehs waren noch beeindruckend?
Marco B.: Viele Dreharbeiten waren klasse. Bei der Doku "Schabowskis Zettel" hatte ich in einer Szene eine Stasi-Offizier gespielt. Mit Zigarette im Mund vor dem Funkgerät in so einem kleinen Raum. Die hatten mir eine Uniform, einen Scheitel und eine 80er-Jahre-Brille verpasst. Ich war fasziniert und schockiert zugleich, was das ausmachte. Meine Güte, dachte ich, jeder konnte so aussehen. Wirklich jeder. Auch ich hätte in der DDR so ein Typ vom MfS sein können.
turus: Sind aktuell größere Reisen geplant?
Marco B.: Aktuell nicht, eher kleinere Touren. Ich vermisse momentan ein wenig die großen Wanderungen und langen Radtouren. Die über 1.000 Kilometer lange Wanderung im Sommer 2003 war wirklich erfüllend.
turus: Jemand schenkt dir eine Million Euro. Was würdest du damit anstellen?
Marco B.: Mir eine eigene professionelle digitale Filmkamera kaufen, den besagten Marcus Michaelsen anrufen und sagen: Hey, lass uns endlich den Film drehen!
Update: 5 Jahre später:
Das Jobben beim Film wurde an den Nagel gehängt. Stattdessen volle Kraft voraus in Sachen turus.net und den geplanten Fußball-Büchern. Das erste kam ja jüngst auf den Markt: "Zwischen den Welten - Adrenalin pur: Fußball von 1990 bis 2014".
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