Ein politischer Streifzug durch die Schweiz

MB Updated
Ein politischer Streifzug durch die Schweiz
Berner Gemütlichkeit, Demokratie und Waffe, die neuen Alpentunnel, die Clans im Wallis, der Gotthard, das Refugium der Reichen, Hip in Zürich und Zuwanderung ohne Ende. Als Deutscher kennt man selbstverständlich die Schweiz, aber eigentlich kennt man dieses Nachbarland nicht wirklich. Somit wird es höchste Zeit, die Alpenrepublik mal näher zu beleuchten. Und wer sollte dies tun, wenn nicht ein Schweizer selbst?
Kalleman aus der Schweiz hat sich seine Gedanken über sein Heimatland gemacht und unternimmt für das turus Magazin einen politischen Spaziergang. 
 
Berner Gemütlichkeit
Hoch über dem Fluss Aare, eingebettet in einer Flussschlaufe, liegt die Altstadt der Schweizer Hauptstadt Bern. Die sprichwörtliche Langsamkeit, welche den Bernern nachgesagt wird, ist spürbar und hat etwas Gemütliches und Urchiges. Die humorvollen und offenen Bewohner sind sich ihrer Tradition sehr wohl bewusst. Gerade in der sich immer schneller bewegenden Welt wirkt Bern wie ein beruhigender Pol, während Zürich in unentwegter Hast davoneilt. Hier beginnt meine kleine Reise durch die Schweiz, in der ich meine Gedanken frei sprechen lassen will. 

Mitten in der Altstadt Berns liegt das Bundeshaus, dessen grüne Kuppel von weither sichtbar ist. Wer Glück hat, sieht einen Minister und Parlamentarier ohne Bodyguards aus dem Regierungsgebäude kommen und Richtung Bahnhof, Tram- oder Bushaltestelle schlendern.  Wer aber ins Bundeshaus hineingehen will, der muss strengste Sicherheitskontrollen über sich ergehen lassen. Seit in der Stadt Zug ein Verrückter in das Regierungsgebäude eingedrungen ist und die gerade tagende Kantonsregierung niedergemäht hatte, ist man vorsichtiger geworden. Die gelebte volksnahe Demokratie ist seither etwas weiter weg. Das Klima ist rauer geworden. Drohungen und Beschimpfungen gegen Regierungsvertreter nehmen zu.

Im Bundeshaus, diesem alterwürdigen Gebäude, wird seit 1848 Politik gemacht. Nicht viel hat sich seither verändert. Schon Friedrich Engels, der 1848 einer Bundesversammlung beiwohnte, staunte darob, dass dem Land anstelle eines Präsidenten sieben Bundesräten vorstehen. Um zu verstehen, wie dieses politische System funktionieren könne, so folgerte Engels, müsse man Schweizer sein. In der Tat haben so manche Ausländer grosse Mühe mit unseren Volksrechten. Dass sämtliche Gesetze und Verträge dem fakultativen Referendum unterstehen und somit vom Volk gebilligt werden müssen, liess schon manchem Politiker oder Funktionär den Kragen platzen. Es müsste den Bürokraten in Brüssel aber zu denken geben, dass die Schweiz das einzige Land ist, dass sich in Volksabstimmungen klar zu einem EU-Kurs bekannt hat, während der Lissabonner Vertrag wohl weder beim deutschen noch beim französischen Volk (noch bei den Schweizern) Chancen hätte. Deshalb verhindert man die Volksabstimmungen. Ein seltsames Demokratieverständnis. 

Es ist ein typisch helvetischer Wesenszug alle Beteiligten unter Eingehen von Kompromissen bei der Entscheidungsfindung einzubeziehen, sei es in der Politik, in der Firma oder im Verein. Manch ausländischer Manager musste erfahren, dass er mit einem Befehlston ausser Ablehnung und Protest nichts erntet. Nach diesem Wesenszug funktioniert auch der Bundesrat. In diesem Gremium sind Vertreter alle grossen Parteien vertreten, sodass es keine Opposition geben kann. Das ganze System ist nicht auf die Dominanz eines Leaders oder einer Partei ausgerichtet, sondern funktioniert nur durch gemeinsame Beschlüsse.
Am Ende aller politischen Entscheidungen steht ein Kompromiss. Dem Volk haben die Gründerväter mit dem Referendums- und Initiativrecht zwei wichtige Instrumente zugeteilt. Sie bedeuteten, dass jedes neue Gesetz auf Wunsch durch einen Urnengang legitimiert werden muss. Wobei Urnengang das falsche Wort ist. Denn in einigen kleinen Kantonen ist die Demokratie noch sehr lebendig, andere nennen es rückständig. An Abstimmungssonntagen wandern die Einheimischen zur Landsgemeinde und stimmen dort nach reger Diskussion per Handzeichen ab. Wahlzettel und Wahlurnen gibt es dabei nicht. 

Die Schweiz lehnt einen EU-Beitritt verbissen ab. Brüssel wird dem Schweizer Volk kaum Referendums- und Initiativrecht gewähren. Wer gibt schon freiwillig Volksrechte auf? Eine Unterordnung unter EU-Recht wäre eine Aufgabe von Demokratie. Bei dem ganzen Geschwafel über die Eigenständigkeit der Schweiz, wird aber gerne vergessen, dass die Schweiz ein EU-Musterschüler ist und so manche EU-Verordnungen viel schneller und strenger umsetzt hat, als so manches EU-Mitglied. Daneben ist die Confoederatio Helvetica, wie die Schweiz offiziell heisst, durch diverse Abkommen mit der EU, die übrigens allesamt vom Volk durch Volksabstimmungen bestätigt wurden, an gewisse Entscheide aus Brüssel gebunden. Der Bundesrat, der derzeit eine äusserst schwache Figur macht, kuscht artig, wenn ein Donnergrollen aus der EU kommt. Die EU hat auch gelernt, sich besser nicht öffentlich in innenpolitische Diskussionen der Schweiz einzumischen. Der Schweizer reagiert allergisch auf jegliche Einmischung von aussen und würde aus trotz ein „Nein“ in die Urne legen.

Ich verlasse diese liebenswürdige, herzliche Stadt Richtung Süden. In der Ferne sieht man die Berner Oberländer Berge. Die Silhouette der Königin der Alpen, der Jungfrau, ragt majestätisch in den Himmel. Der Anblick dieses Dreigestirns Eiger, Mönch und Jungfrau ist  ein bewegender Moment, eine Aussicht, an der man sich aufgrund der Schönheit kaum satt sehen kann.

Demokratie und Waffe
Zwanzig Minuten später erreicht der Zug Thun. Dieses Städtlein verbindet mich mit einer spezielle Geschichte: Hier war ich kaserniert. Jedes Jahr werden die 18-Jährigen für die Grundausbildung eingezogen, die Älteren müssen alljährlich in den Wiederholungskurs. Die Ausbildung hat sich seit dem letzten grossen Krieg nicht gross verändert. Es gilt vor allem, sich irgendwie die Zeit totzuschlagen. Die Dienstwaffe bleibt dabei stets auf Mann. Jeder Dienstpflichtige hat auch ausser Dienst eine Waffe mit Munition bei sich.

Die Schweizer Armee war lange Zeit eine heilige Kuh. Um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert erschuf man den Mythos, dass die Urväter die Demokratie mit der Waffe erkämpft und verteidigt hatten. Seither gehört zur Schweizer Demokratie die Waffe. 1989 wäre die heilige Kuh aber beinahe geschlachtet worden. Eine Volksinitiative von „Landesverrätern“ verlangte die Abschaffung der Armee. Tief bestürzt war die Classe politique, als die Initiative nur relativ knapp scheiterte. Von diesem Schock hat sich die Armee bis heute nicht erholt. Orientierungslos sucht sie seither nach ihrer neuen Rolle und verliert ständig an Einfluss und Bedeutung. Hartnäckig versucht sie den Mythos aufrecht zu erhalten, dass Demokratie und der bewaffnete Soldat eine Einheit bilden. 

Die neuen Alpentunnel
Der Zug rollt durch den Bahnhof Spiez, den Deutschen ein ganz lieber Ort. Hier logierten an der WM 1954 die deutschen Fussballer. Mit dem „Geist von Spiez“ gelang es ihnen im grossen Finale, die Jahrhundertmannschaft der Ungaren niederzuringen. Vielleicht machte die Langsamkeit der Berner Oberländer die Deutschen auch derart aggressiv, dass sie auf dem Platz Dampf ablassen mussten. Gleich hinter Spiez ändert der Zug seine Richtung und rollt in den Lötschbergtunnel. Früher führte die Fahrt durch eine traumhaft schöne Gegend mitten über die hohen Berge. Nun ist da aber ein Tunnel und so spart man zwar eine Stunde Fahrzeit, aber besonderen Spass macht es nicht. Statt auf eine fantastische Bergwelt glotzt man nun an eine schwarze Wand.

Der Lötschbergtunnel ist das eine Herzstück der Neuen Alpen Transversale. Gebaut für Lastwagen im Transit durch die Schweiz. Angefangen hatte alles vor rund 15 Jahren. Ein kleiner Landammann aus dem Kanton Uri reichte die Alpeninitiative ein. Sie sah den kompletten Schutz der Alpen vor. Keine neue Strasse soll mehr im Alpenraum gebaut werden dürfen, Lastwagen im Transit dürfen die Schweiz nur noch auf einem Eisenbahwagen durchqueren. Das Volk nahm die Initiative an, es war der Anfang einer neuen, zukunftsgerichteten Politik - träumte man. Und so begann man voller Enthusiasmus mit einem Jahrhundertprojekt: Ein neuer Eisenbahntunnel, der längste der Welt! Da man sich nicht auf einen Standort einigen konnte, fand man einen typisch schweizerischen Kompromiss: Man baute zwei Tunnel: Lötschberg und Gotthard. Aber was wurden wir betrogen! Die Schweizer Regierung hatte nie im Sinn, sich dem Druck der Transportlobby zu beugen. Während der Lötschbergtunnel bereits fertig gestellt ist, rollen die Lastwagen nach wie vor meist auf der Strasse und bereits wird über einen neuen Strassentunnel nachgedacht. Die Alpeninitiative wurde Schritt für Schritt ausgehöhlt. Die Lastwagen werden nicht auf die Bahn gezwungen und freiwillig tun sie das nicht. Derzeit sieht alles so aus, als ob die Schweiz für Milliarden Löcher buddelt, die Lastwagen sich aber weiterhin Stossstange an Stossstange durch die natürliche Alpenwelt drängen. Bereits redet man über die Zulassung von 60-Tönnern.

Die Clans im Wallis
Am anderen Ende des Tunnels liegt der zweisprachige Kanton Wallis, der hauptsächlich aus einem langem Tal, vielen kleinen Seitentälern und sehr hohen Bergen besteht. Der Kanton ist eine Welt für sich und für einen Aussenstehenden, also auch für mich, nur schwer zu durchschauen. Auffallend sind hier die mächtigen Patrons, ich nenne sie mal Clanchef, welche alle Zügel fest in der Hand halten und die Ränkespiele der Macht exzellent beherrschen. Es ist wohl kein Zufall, dass Sepp Blattner, der FIFA-Generalsekretär ein Walliser ist.

In Brig steige in den Zug Richtung Andermatt. Hier, zwischen dem Wallis und dem Berner Oberland ist das Herz der Alpen. Zwischen den viertausend Meter hohen Bergen bietet der grandiose Aletschgletscher ein spektakuläres Naturereignis. Im Hintergrund lässt sich bei gutem Wetter das Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau ausmachen. So weit das Auge reicht Eis. Ich würde mich aber hüten, dem Drang nachzugehen und auf dem Gletscher herumzuspazieren. Tiefe Gletscherspalten wurden schon manchem fahrlässigen Alpinisten zum Verhängnis.

Am Gotthard
Der Zug bummelt durch diverse Kehrtunnel über den Furkapass nach Andermatt im Kanton Uri. Hier, am Fusse des Gotthardpasses, zwischen der deutschsprachigen und der italienisch sprechenden Schweiz liegt die Wiege der Eidgenossenschaft. Am Gotthardmassiv, einer eher kargen, felsigen, von Geröll durchsetzten Landschaft, entbehrt das Bild einer friedvollen, idyllischen Schweiz jeder Grundlage. Ganze Berghänge wurden in den Weltkriegen ausgehöhlt. Es wimmelt von Festungen, die zumeist gar nicht oder nur bei genauem Hinsehen sichtbar sind. Schon manche Armee versuchte den Gotthard zu kontrollieren oder zu überqueren. Die Geschichte der Eidgenossen ist keineswegs friedvoll, bezeichnend ist aber, dass es nie einen Siegfrieden unter Helvetiern gab. Den Verlierer demütigen ist ein den Helvetiern fremder Wesenszug. Die Sieger haben die Verlierer stets durch Kompromisse und grosszügige Zugeständnisse das Gesicht wahren lassen und somit ein zukünftiges friedvolles Zusammenleben ermöglicht. Es ist diese historische Erfahrung, die Schweizer Diplomaten in Krisenzeiten zu erfolgreichen Vermittlern macht und Grundlage der Arbeit des IKRK.

Die Gotthardbahnstrecke gehört zu den Alpenklassikern. In vielen Kehrtunnels verliert die Bahn an Höhe. Dreimal passiert man das berühmten Kirchlein von Wassen. Aber der Genuss wird gestört durch das Transportmittel: einem Cisalpino. 

Der Cisalpino ist ein Relikt aus den Tagen, indem man alles privatisieren wollte. Die Privatisierung wurde uns als Lösung aller Probleme präsentiert. Was wurde uns nicht alles vorgelogen. Privatisierung führt dank dem Wettbewerb und dem besseren Management zu tieferen Preisen, zu besserem Angebot etc. „Vollgas in die Katastrophe“ hätte es besser getroffen. Die Swissair, einst reichste Fluggesellschaft der Welt, wurde von den kräftig absahnenden Privaten innert kürzester Zeit in den Bankrott geflogen. Bei Strom und Post kennen die Preise nur eine Richtung, nämlich nach oben. Und während sich die Chefetage üppig entlöhnt, steigt der Lohndruck für das Personal. Der Service wird laufen abgebaut und Tausende von Stellen verschwanden und verschwinden. Was hat mir denn die Privatisierung unterm Strich gebracht? Meine Antwort fällt ernüchternd aus.

Auch die Schweizerischen Bundesbahnen, kurz SBB, wurden privatisiert, mit allen guten und schlechten Folgen. Die SBB gehörten wie die Swissair oder die Banken zum Stolz und Selbstverständnis eines jeden Schweizers. Dass waren unsere Flaggschiffe. Der erste Akt des neuen Verwaltungsrates der SBB war es, die Löhne der Manager und von sich selbst dem „Markt“ anzupassen, was einer Verdoppelung gleichkam.
Danach spaltete MCKinsey das Unternehmen in drei Firmen auf, über dessen Sinn bis heute gerätselt wird. Mit dieser Dreiteilung begannen die Probleme und ein Flop jagte den nächsten. Dafür wurden und werden Bahnhöfe dichtgemacht, Personal entlassen, die Züge schmutziger. An die alljährlichen Preiserhöhungen von 10% und mehr hat man sich schon fast gewöhnt. Das muss mir erstmals einer erklären können. Der Steuerzahler subventioniert die Bahnpreise, finanziert die neuen Gleisanlagen und sieht sich mit immer teureren Fahrkarten konfrontiert, aber der Gewinn wird den Aktionären ausgeschüttet. 

Auch der Cisalpino ist ein Relikt aus dieser Privatisierungseuphorie. Damals glaubten diese Dilettanten, dass eine neue Firma den Zugsverkehr mit Italien revolutionieren werde. Um die Italiener zufriedenzustellen,  wurden die Neigezüge bei einer italienischen Firma bestellt. Herausgekommen ist diese Plastikkiste. Die ersten Züge schafften es nicht einmal vom Abstellgleis in den Bahnhof, ein ankommender Zug war schon ein tolles Erlebnis. Wenn man sich ab dem Cisalpino nicht zu sehr aufregen muss, also wenn man mal eine funktionierende Toilette findet, die Türen aufgehen, nicht gerade ein Deckenstück herunterfällt oder wenn er gar einmal pünktlich ist, was selten genug vorkommt, dann sollte man aus sich die Zeit nehmen und aus dem Fenster schauen. Der Zug rollt nun am spektakulären Vierwaldstättersee vorbei. Steile Bergwände bilden das Ufer. 

Refugium der Reichen
Vorbei an Rigi und Pilatus erreichen wir die Stadt Zug und Zug hat es geschafft. Der reichste Kanton der Schweiz lockt mit niedrigen Steuersätzen Firmen und Vermögende aus aller Welt an. Die Folgen dieses Ausverkaufs werden den Schweizern erst allmählich bewusst. Die bürgerlichen Politiker gaukeln uns vor, dass wir alle von reichen Mitbürgern profitieren. Wie sie auf diese absurde Idee gekommen sind, bleibt mir ein Rätsel. In Tat und Wahrheit geht es um nichts anderes, als die Vermögenden sich aus ihrer sozialen Verantwortung entziehen können. Die Staatsausgaben sollen gefälligst die anderen berappen. Und so steigen Mehrwertsteuer und Gebühren und vor allem die Miet- und Grundstückpreise ins bodenlose. Für die einheimische Bevölkerung in Zug heisst das nun, dass sie die Koffer packen müssen. Noch sind nicht alle vertrieben, aber das gelingt schon noch. Ohne Quartierleben verschwinden auch die Quartierläden. Dafür haben Golfplätze Hochkonjunktur. Die Zuger Politik löste jüngst einen Proteststurm aus, als sie vorschlug, sämtliche Amtsdokumente und Tageszeitungen in Englisch zu verfassen, damit man den zugewanderten reichen, meist integrationsunwilligen Managern die Integration erleichtern könne. Jedem Kosovaren, Portugiesen oder Türken, der in Integrations- und Deutschkurse gezwungen wird und bei mangelnder Anpassung und Sprachkenntnisse die Ausweisung droht, muss dies als reiner Hohn vorkommen. 

Hip in Zürich
Der Zug füllt sich mit Ravern. In Zürich findet zum 18. Mal die Streetparade statt, ein Ableger der Berliner Loveparade. Nach Zürifest, Carneval, Caliente, und Langstrassenfest, Europride und Christopher-Street Day der nächste Riesenanlass. Unterscheiden tun sich diese Anlässe kaum mehr. Man torkelt in einer endlosen Schlange von Menschen von Bierstand zu Bierstand. Da macht auch die Streetparade keine Ausnahme mehr. Mittlerweile hat sich auch dieser Anlass hemmungslos dem Kommerz untergeordnet.  

Wie sehr muss es Zürich schmerzen, dass Bern die Hauptstadt ist. Es scheint, als brauche das Zürcher Ego eine Kompensation. Die Zürcher sehen sich als die besten, coolsten und geilsten. Zürich misst sich an London und Paris, nicht an Bern und Genf. In ihrer Selbstbeweih-räucherung werden die Zürcher nur noch von den Baslern übertroffen. Das Nachtleben in Zürich, das sich gerne mit der Partyszene europäischer Metropolen vergleicht, ist alles andere als wild, eher langweilig. Die Clubs sind wahnsinnig teuer, aber meist öde. Haltung und Dresscode dominieren die Szene. Für einen Zürcher ist es wichtig, dass man sieht, dass er finanziell potent ist. Da hilft eine Champagnerflasche viel. Spontanität ist da nicht zu erwarten; flirtende Frauen sind meist keine Zürcherinnen.     

Vor ein paar Monaten kam es hier zu einem politischen Erdbeben. Ausgerechnet die Stimmbürger des bürgerlichen Zürich beendeten die unsägliche Pauschalbesteuerung für reiche Ausländer durch eine angenommene Volksinitiative. Diese ekelhafte Anbiederung der Gemeinden und Kantone an Superreiche, ich bezeichne es als eine Form von Prostitution, dürfte bald auch in anderen Kantonen aufhören. Es wäre nur recht, wenn diese Steuerflüchtlinge, die dank der Pauschalbesteuerung nur noch einen lächerlichen Steuerbetrag abliefern müssen und in ihrer Heimat unverständlicherweise trotz ihrer Steuerflucht noch geliebt werden, wie Schuhmacher, Becker, Heidfeld, Turner, Halliwell, um nur wenige zu nennen, endlich ihren Beitrag an die Gesellschaft leisten. 

Zürich ist auch die Stadt der Banken, mit all den Facetten und wird mit der Finanzkrise gehörig durchgeschüttelt. Insgeheim mag man diesen einfältigen und unsäglich arroganten Versagern der Finanzindustrie ihren Absturz gönnen. Doch während die Täter mit Millionen-Abfindungen belohnt werden (statt ins Gefängnis zu wandern), zahlt die Allgemeinheit die Zeche. Nun, nachdem die selbsternannten Herren des Universums brutal abgestürzt sind und sich an den über Generationen zusammengesparten Volksvermögen vergreifen, ist von ihnen keine Demut zu erwarten. Ihrer Selbstüberzeugung scheint die Krise nichts anhaben zu können. Es wird einem speiübel bei dem Gedanken, dass die Bank UBS in den USA gegen geltendes Recht verstossen hat und so reichen Amerikanern verhalf, ihr Vermögen am Fiskus vorbeizusteuern, aber niemand der verantwortlichen Bankspitze mit einer Anklage rechnen muss. Der Spruch, um zu klauen ist man besser Banker als Bankräuber, bestätigt sich in ekelhafter Weise. Die Regierung, die sich als „Pudel der Banken“, als willfährigen Erfüllungsgehilfe entpuppte, sieht die „Gefahr“ nicht, die sich am Horizont anbahnt. Eine Volksinitiative will die UBS zerschlagen, eine weitere die absurd hohen Löhne und Milliarden Bonuszahlungen, welche sich die Banker trotz Staatshilfe und hohen Verlusten zuschanzen, reduzieren. Zumindest die zweite Initiative, als Abzocker-Initiative bekannt, wird mit Bestimmtheit angenommen werden. 

Zuwanderung ohne Ende
Zürich war schon immer eine internationale Stadt, die Schweiz ist sich eine hohe Zuwanderung gewohnt. Aber mit der Einigung über die Personenfreizügigkeit mit der EU ist ein enormer Bevölkerungszuwachs zu verzeichnen. Auch während der Wirtschaftskrise hält der Zustrom von Zuwanderern ungebrochen an. Die Vorzüge für die Wirtschaft liegen auf der Hand: Ausländer sind bereit, für einen Bruchteil des Lohnes zu arbeiten. Das grösste Problem spielt sich aber auf dem Wohnungsmarkt ab. Die Nachfrage nach Wohnungen, insbesondere billigem Wohnraum, kann nicht befriedigt werden. Selbst kleine Schweizer Städte erleben einen immensen Bauboom. Ganze Landschaften werden zubetoniert. Grüne Zonen zugemacht. Die Blöcke werden höher. Alte Quartiere werden abgerissen und durch teure Appartements ersetzt. Es ist die Zeit der Spekulanten und daher werden in erster Linie teure Wohnungen für die Gutverdienenden gebaut. Diese Entwicklung ist in der ganzen Schweiz zu beobachten. Die Mietpreise explodieren überall, für viele heisst es Koffer packen.

Die Deutschen, die in Scharen in die Schweiz ziehen, haben oft ein völlig verklärtes Bild von der Schweiz. Sie unterliegen der Täuschung, dass es keinen grossen Unterschied macht, ob man in Hamburg, München oder Zürich arbeitet und reden von einem Schlaraffenland. Ich staune jeweils über eine derartige kulturelle Oberflächlichkeit, die ich eher den Amerikanern zugetraut hätte. Mag man im von den leidvollen Erfahrungen der Kriege geprägten Deutschland über die Frage, ob es eine deutsche Leitkultur gibt, streiten, in der Schweiz gibt es da keinen Diskussionsbedarf. Parallelkulturen werden nicht geduldet. Man hat sich anzupassen und die vielen ungeschriebenen Regeln im Alltag zu befolgen oder man erntet starke Ablehnung. Für die Deutschen kommt dabei erschwerend hinzu, dass Deutsche und Schweizer kaum Gemeinsamkeiten haben. Die Eidgenossenschaft ist ein labiles und zerbrechliches Gefüge. Sie ist eine Willensnation. Das Zusammenleben zwischen den vier Landesteilen wird regelmässig auf eine harte Probe gestellt. Die Wahrung des Gleichgewichts zwischen den einzelnen Sprachgruppen geniesst höchste Priorität. Um diese Balance zu halten werden  bemerkenswerte Zugeständnisse gemacht. Bei einem Bundesrat ist die Herkunft wichtiger als seine Fähigkeiten, Amtstellen sind über alle Landesteile verzettelt. Um keine Region zu benachteiligen hat man zwei Eisenbahntunnel gebaut, obwohl einer gereicht hätte. Wenn zu Beginn eines Fussballländerspiels elf Deutschweizer auflaufen sollten, würde dies eine Krise auslösen. Diese Rücksichtsnahme der Mehrheit auf die Minderheiten beschränkt sich aber nicht nur auf die vier Landesteile, sondern sie setzt sich in diversen Bereichen fort. So beispielsweise zwischen Stadt und Land, Berg und Tal, Mann und Frau, Auto- und Fahrradfahrer, Käufer und Verkäufer. Die Sucht nach Harmonie geht soweit, dass man nachgibt um einen Streit zu verhindern. Angstvoll blicken daher die Eidgenossen auf grössere Zuwanderergruppen, welche auf die Balance keine Rücksicht nehmen könnten. Und deshalb verstehen die Schweizer bei der Integration keinen Spass. Der Assimilationsdruck für Zuwanderer ist hoch, wie auch manch Deutscher feststellen musste und dem sich offenbar niemand entziehen kann. Nicht selten sind diese Zuwanderer nach ein paar Jahren  „schweizerischer“ als mancher Schweizer.
(Kalleman) 
 
 
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