Spurensuche in einer DDR-Grenztruppenkaserne

MB Updated
altVor 21 Jahren fiel die Berliner Mauer, vor 20 Jahren wurde die deutsche Wiedervereinigung gefeiert. Die Bilder jenes spannenden Zeitabschnitts sind noch immer im Geiste präsent, die Spuren in Berlin und anderswo verwischten seitdem jedoch mehr und mehr. Berliner Mauer, deutsch-deutsche Grenze, Sozialismus - nur noch wenig erinnert an die Zeit vor und während der friedlichen Revolution. Um die Spuren der DDR und der deutschen Teilung zu bewahren, ging es seit 2001 mehrmals auf Tour.
In Berlin und an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Im Sommer 2003 wurde der ehemalige Todesstreifen vom einstigen Dreiländereck bei Prex bis hoch zum Priwall an der Ostsee zu zweit zu Fuß abgelaufen und dokumentiert. Folgend ein Tagebucheintrag von der Wanderung, die weit über 1.000 Kilometer lang war.
 
Die Landstraße von Everingen über Lockstedt und Gehrendorf nach Oebisfelde verlief unmittelbar parallel zum Grenzverlauf. Alle vier Orte befanden sich in der 5-Kilometer-Schutzzone, die vor 1989 nur mit einem Passierschein zu betreten war.
Hinter der Maxdorfer Mühle nahe des Flüsschen Aller wurden wir kurz hinter dem Ortseingang von Gehrendorf auf ein verlassenes Gelände der NVA-Grenztruppen aufmerksam. An dem Metalltor, das offen stand, hing ein DDR-Emblem, das bereits stark angerostet war. Trotzdem waren noch deutlich die Farben sowie Hammer, Zirkel und Ährenkranz erkennbar. Links neben dem Eingangstor stand ein Blumenkasten aus Beton, der in der Mitte durchgebrochen und völlig verkrautet war.

Es war nicht das erste Mal, dass wir auf ein verlassenes Gelände der Grenztruppen stießen, doch in Gehrendorf hatten wir sofort das intuitive Gefühl, dass man hier etwas genauer schauen müsste. Neugierde und Spannung kamen auf. Wir stießen das Tor auf und sahen uns auf dem Gelände rings um einem dreistöckigen Betonbau um.
Auf der Treppe zum Gebäudeeingang gedeihten inzwischen diverse Pflanzen, und die weiße Farbe blätterte an Tür- und Fensterrahmen ab. Am vergitterten Fenster rechts neben der verriegelten Eingangstür befand sich ein für NVA und Volkspolizei üblicher Spiegel, über dem man von innen sehen konnte, wer draußen Einlass wünschte.

Ein Blick durch die Kellerfenster zeigte bereits, dass hier zu einem bestimmten Zeitpunkt alles stehen und liegengelassen wurde. Die Schubläden einer Werkbank standen offen, und auf der Bank befanden sich diverse Farbtöpfe und Pinsel. An der Wand hing ein Kalender von 1990 des Neuen Deutschlands, damaliges Zentralorgan der SED. An der geöffneten Tür eines Werkzeugschranks hingen verblichene, staubige schwarz-weiß Poster mit knapp bekleideten Frauen, und auf einem Regal ruhte eine orangefarbene Teekanne. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit im Keller weichten diverse Pappkartons auf und ließen den Inhalt aus einem Regal auf den Fußboden purzeln. Schraubsicherungen, Nägel und Rohrmuffen. Eine aufgerissene ATA-Packung gab das weiße Scheuerpulver preis.

altAuf dem Fußboden lag eine Ausgabe des Neuen Deutschlands vom 24./25. März 1990 mit dem amtlich bestätigten Endergebnis der DDR-Volkskammerwahl vom 18. März 1990. Eine Grafik zeigte die Verteilung der Sitze: CDU - 163, DSU - 25, BFD - 21, SPD - 88, PDS - 66, Bündnis 90 - 12, AVL - 12, Grüne und UFV - 8, NDPD - 2, DFD - 1, DBD - 9.
Diese Wahl besiegelte das Ende der Deutschen Demokratischen Republik, soviel stand fest. Symbolisch lag diese Ausgabe der Zeitung auf dem Boden, so, als wenn, am nächsten Tag geräumt wurde. Ganz so konnte es jedoch auch nicht sein, denn der 1990er-Kalender an der Kellerwand wurde noch auf die zweite Jahreshälfte umgedreht.

Auf einem Brettchen neben zwei Heizungsrohren stand eine leere Fit-Flasche. Neben ihr lag eine weitere ATA-Packung. Alles wurde von einer braunen, schmierigen Staubschicht bedeckt. In einem anderen Kellerraum lagen ausgefüllte Nachweiskarten für Truppenvorräte. Sorgfältig wurden die Litermengen an Vergaserkraftstoff und Diesel in die entsprechenden Spalten eingetragen und abgezeichnet. Auf einer Mülltonne lag ein gelbes, verdrecktes Schild mit der Aufschrift: Schutzstreifen – Betreten und Befahren verboten!

Ein Kellerfenster stand offen, und somit nutzte ich die Gunst der Stunde und schaute mich auch in den anderen Räumen des Gebäudes um. Ich war beeindruckt und fasziniert, solch eine intensive Zeitreise hatte ich nicht erwartet. Über den Türen hingen graue Gegensprechanlagen mit roten Knöpfen, und in einer Ecke lagen NVA-Ausbildungsanleitungen für den Sprechgerätesatz SGS15.
In der Küche packte mich noch mehr Entzücken. All die Dinge aus der Kindheit befanden sich dort. Das weiß-orange Kombiset aus Plastik zum Beispiel. Auf der einen Seite Pfeffer, auf der anderen das Salz, und in der Mitte der Mostrich. Am Fenster stand die manuelle Brotschneidemaschine, die wohl jeder DDR-Haushalt kannte, eingerahmt von einem Tauchsieder und zwei leeren Maracuja-Brause-Flaschen. Was war das für eine Neuheit, als 1987 die neue Geschmacksrichtung in den HO- und Konsum-Kaufhallen in die Regale gestellt wurde. Als Jugendlicher fragte man sich, was zum Teufel eigentlich Maracuja ist.

Auf einem Küchentisch lag die Packung eines AKA-Handrühr- und Mixgerät. Typ RG28, wer es genau wissen will. Eine geöffnete Packung Weizen Auszugsmehl lag neben einer Schale Senfkörner, mehreren Plastikverpackungen und einer kleinen Flasche Würzsouce. Die Packung Mehl tat es mir am meisten an. Wenn ich als Fünf- oder Sechsjähriger zum Konsum in unserer Siedlung einkaufen gehen musste, erklärte mir meine Mutter immer vorher, wann sie die Packung mit den blauen Streifen oder mit den roten Streifen brauchte. Je nachdem, ob zum Panieren oder zum Backen. In der Mitte der Papierpackung war ein oranger Kreis mit einer weißen Ähre aufgedruckt. Marco, sei so lieb und gehe mal zum Konsum Knappe und bringe Milch, Haferflocken und Mehl mit, das mit den blauen Streifen. Und wenn es dort nur das rote Mehl gibt, gehe doch bitte zur Kantstraße. Das lag nun bereits 20 bis 25 Jahre zurück ...

Auf einem anderen Tisch befanden sich vier weiße Plastikbecher mit Bautzener Senf. Drei Becher waren geöffnet und halbvoll. Deren Inhalt war undefinierbar schwarz und hart, doch im vierten verschlossenen Becher schimmerte tatsächlich etwas senffarbenes durch den transparenten Deckel. Ich hätte ihn als Souvenir mitnehmen sollen, vierzehn Jahre alter Senf für meine liebsten Freund aus Frankfurt an der Oder, der auch heute nur dieses, noch erhältliche Produkt bei seinen Heimatbesuchen in Brandenburg kauft.
Ich arbeitete mich in die nächste Etage hoch. Keller und Großküche hatte ich bereits abgearbeitet und hinter mir gelassen. Gleich zwei Filme hatte ich innerhalb weniger Minuten verknippst. Ich war im Jagdfieber nach mehr Beute, nach mehr Utensilien, die vom Alltag in diesem Gebäude zeugten. Gerade stand ich vor der Tafel der Komission, auf der jemand mit Kreide erwischt geschrieben hatte, als draußen die Gänse in einem Freigehege krakeelten und ein Fahrzeug auf dem Hof vorfuhr.

altIch griff zu Kamera und Blitzlicht und hastete hinunter in den Keller. Ich verspürte keine Lust, in dem Gebäude erwischt zu werden und zwängte mich hastig durch das winzige Kellerfenster, das nach hinten hinaus zeigte. Als ich vorn am Eingang ankam, war vom Fahrzeug kein Spur mehr zu sehen, und die Gänse hatten sich auch wieder beruhigt.
Karsten und ich ließen es jedoch lieber dabei und durchstreiften das Außengelände. An einer Kellertreppe standen eine leere Flasche Orangentrunk und eine kleine leere Flasche Cola-Hit. Etwas abseits wurden die Schäferhunde und Rottweiler der DDR-Grenztruppen in kleinen Zwingern untergebracht. Mittlerweile wucherten Büsche und Gras hüfthoch, und die Gittertüren waren vom Rost arg angefressen. Eine Reckstange für Klimmzüge, eine Kohle-Silo, eine große Sturmbahn mit aufgestellten Holzwänden und metallene Schießscheiben komplettierten das Bild auf dem Gelände.
Das Bauwerk ist in der Mastenbauwiese errichtet. Störungen im Baugrund in und um das Gebäude sind nicht gestattet! warnte ein Schild mit Hand geschriebenen Buchstaben an einer Garage neben dem Eingangstor. Mit diesem letzten Eindruck verließen wir das Gelände und wanderten weiter nach Oebisfelde.

> zur turus-Fotostrecke: Berlin in den 50er und 60er Jahren

> Bilder von der ehmaligen deutsch-deutschen Grenze bei frontalvision.com

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