Dem Tod mehrmals entronnen: Geboren um zu leben

MB Updated
altEine Katze habe sieben Leben, so sagt man. Wie viele Leben hat eigentlich ein Mensch? Besser gefragt, wie viel Glück kann man haben, wie häufig kann man am Tod vorbei schrammen, wann ist das Glück aufgebraucht? Ob wir es wahr haben möchten oder nicht: Meister Tod ist unser steter Begleiter. Ein Unfall, eine Kugel im Kopf, eine plötzliche Krankheit. Wie aus dem Nichts kann es einen treffen - zu Hause, auf der Arbeit oder auf einer Reise. Wenn es vorbei ist, ist es vorbei, doch wie fühlt es sich an, wenn man dem Tod knapp entkommen ist - und das nicht nur einmal? Wie verarbeitet man Grenzerfahrungen und wie geht man mit ihnen um?

Das Schicksal wollte es, dass ich nicht nur einmal in heikle Situationen geraten bin. Schwere Unfälle, Überfälle, Schiffbruch. Drei Schlagworte, die sogleich ausführlich abgearbeitet werden.
Nicht nur einmal hat mein Schutzengel ganze Arbeit leisten müssen. Nicht nur, dass ich stets lebendig aus den gefährlichen Situationen herausgekommen bin. Besser noch - nicht einmal trug ich körperliche Schäden davon. Tiefe Schmarren blieben zwar nicht am Körper, jedoch in der Seele - ganz, ganz tief versteckt.

Der Sturz in die Tiefe

altFall eins. Als Kind und Jugendlicher zog ich außerhalb Berlins gern in die nahen Wälder, um dort Holzhütten zu bauen oder einfach nur die Gegend zu durchstreifen. Auf einer Lichtung, auf der einige Zeit zuvor die Kiefern abgeholzt wurden, befand sich ein freistehender Hochstand, der sich als optimaler Abenteuerspielplatz anbot. Mit einem langen Seil zog ich als 14-jähriger bei schönstem Sonnenschein wieder einmal zum besagten Hochstand, um dort Klettern zu üben. Fix ganz oben das Seil befestigt, fix ganz unbedarft an der Außenseite hinabgelassen.
Etliche Male ging es gut, einmal war ich zu forsch. Ich rutschte ab und stürzte rückwärts aus gut sieben Metern hinab. Dunkelheit. Das Bewusstsein setzte aus. Für paar Sekunden. Das Aufwachen war der pure Albtraum. Der Rücken fühlte sich taub an, links und rechts sah ich in Augenhöhe die Baumstümpfe und Wurzeln des einstigen Kiefernwaldes. Ich mochte keine Prognose abgeben, ob ich nun auf einem Baumstumpf gelandet war oder nicht. Rückgrat gebrochen? Unfähig, Arme und Beine zu bewegen? Minutenlang verharrte ich regungslos auf dem staubigen Lichtungsboden. Nach einer gefühlten Ewigkeit wagte ich es, die Gliedmaßen zu rühren. Erst die Arme, ganz zaghaft. Dann die Beine. Ich konnte mein Glück nicht fassen, alles ließ sich bewegen. Ich stand behutsam auf und sah, dass ich exakt zwischen zwei Baumstümpfe gefallen war. Zu beiden Seiten nur wenige Zentimeter Freiraum. Ich verspürte nur eins: Unendliches Dankgefühl für meinen Schutzengel oder eben für das unsagbare Glück.

Überschlag mit 80 km/h

Es war im Herbst 1998. Zu fünft ging es in der Dämmerung auf einer Hauptstraße durch eine größere Gemeinde am Rande von Berlin. In einem alten Honda. Ich auf der Rücksitzbank in der Mitte. Wir alle hinten: Unangeschnallt. Gute Laune, Vorfreude auf den abendlichen Abstecher in die Stadt. Laut dröhnt die Musik, Ausgehstimmung macht sich breit. Ein Szenario wie in einem Film. Der Asphalt schimmert feucht im Lichte der fahlen Laternen. Mit 80 der großen, bunten Stadt entgegen. Und dann. Eine Katze kreuzt den Weg, der Fahrer versucht auszuweichen. Gut für die Katze, blöd für uns. Der Wagen bricht hinten aus. Ein scheiß Moment. Man wusste, verdammt, das war´s. Augen zu, Kopf runter. Unten wird oben, oben wird wieder unten. Es kracht, es splittert, es riecht nach zerborstenem Glas, Benzin und Erde. Ein abschließendes Scheppern - dann folgt Totenstille. Stille wie im Grab, Geruch wie im Grab.
Die Ruhe bleibt nur Sekunden. Stimmen. Alles okay bei Euch? Augen auf. Verwunderung. Das Auto liegt auf der Seite. Alles Fenster sind raus, das Dach ist eingedrückt. Eine Frage - vier Antworten.
Alle waren relativ unverletzt, bis auf ein paar blaue Flecken und Platzwunden. Einer nach dem anderen kletterte aus dem Seitenfenster und konnte das Glück nicht fassen. Das Auto: Totalschaden. Mit dem Dach an einer uralten Eiche. Der Blick zurück: Von der Straße kommend eine regelrechte Schneise. Ein umgewalzter Zaun, umgepflügtes Gras...

Die Knarre vor dem Gesicht

altDem Tode vielleicht nicht ganz so nah, dafür um so schrecklicher war ein Erlebnis im Norden Brasiliens. Kurz umrissen: Ein Linienbus von Goiânia nach Belém. Wir zu zweit ganz vorn in der ersten Reihe. Hinter uns ausschließlich Brasilianer. Später Abend, Dunkelheit, kurz hinter Imperatriz. Die Schnellstraße führte durch den Regenwald. Die Fahrgäste schlummerten friedlich, am frühen Morgen würde die Amazonasmündung erreicht werden.
Plötzlich rumpelte der Bus. Ein verwunderter Blick aus dem Fenster: Die Hauptstraße wurde verlassen, rings herum nur düsterer Wald. Bevor man sich versah, sprang ein Typ auf und zog eine Waffe, aus der Fahrerkabine stürzte ein zweiter Kerl raus. Ebenfalls einen Revolver in der Hand, eine Strumpfmaske verzerrte sein Gesicht. Energische Aufforderungen der Busentführer - Wimmern und Weinen unter den Fahrgästen. Auf den Boden! Einer der beiden fuchtelte mit der Waffe vor meinem Gesicht. Ich erstarrte, mein gesamter Körper schien in Schockstarre, Eiseskälte durchzog alle Gliedmaßen. Ich auf den Boden? Das Ende schien zu nahen, doch nicht ich sollte auf den Boden, sondern mein Geld.
Zehn Minuten später war der Spuk vorbei. Die Räuber waren im Wald verschwunden, die mit Pumpguns bewaffnete Bundespolizei traf ein, im Schlepptau ein Fernsehteams mit Scheinwerfern. Skurril ist gelinde ausgedrückt, wie diese Situation erschien...

Bei Windstärke 10 über Bord

altFast exakt vor elf Jahren hatte der Schutzengel wieder alle Hände voll zu tun. Mit zwei selbst gebauten Segelbooten sollte es im Rahmen des Projektes Berlin-Sydney 2000 auf dem westlichen Seeweg nach Australien gehen. Mit etwas Zeitverzug ging es Mitte Oktober 1999 bei Sralsund los, Anfang November starteten wir zu viert von Cuxhaven aus in Richtung Ärmelkanal. Ein Zwischenstopp auf Helgoland, dann hieß es Kurs West / Südwest. Windstärke 6 war vorhergesagt, bereits in der ersten Nacht hinter Helgoland wurde es Beaufort 10. Dazu meterhohe Wellen, reichlich Gischt und kreuzende Berufsschifffahrt in pechschwarzer Dunkelheit. Seemeile für Seemeile boxten wir uns durch, zwei strapaziöse Tage lang. Am Nachmittag des 6. Novembers wurde versucht, den Hafen der niederländischen Insel Vlieland anzulaufen. Keine Chance. Troglage, der Sturm nahm an Heftigkeit zu.
Parallel zur Küste musste weiter in Richtung Den Helder gesegelt werden. Brechende Wellenkämme aussteuern, mit der Kraft fast am Ende. Alles nass, alles kalt. Unter Deck ein reinstes Chaos. Nichts gegessen, kaum getrunken - und das über zwei Tage lang. Allein das Adrenalin sorgte dafür, wir alle über uns hinauswuchsen. Das Adrenalin konnte jedoch nicht verhindern, dass schwere Brecher unsere kompakten Boote zum Durchkentern brachten. Zuerst das andere Boot, dann das Boot, auf dem ich mit segelte. Ich hechtete gerade den Niedergang hinauf, als uns ein weiß schäumendes Monstrum erwischte. In jenem Moment unangeleint wurde ich über Bord gespült. Wieder setzte das Bewusstsein aus. Stille. Als ich zu mir kam, schwamm ich mutterseelenallein in der tosenden Nordsee. Um mich herum die Dunkelheit. Aus, vorbei, das war´s. Im Normalfall würde es paar Minuten dauern, bis das Leben beendet ist. Glück, Zufall, Fügung sorgten dafür, dass ich sofort unser entmastetes Boot sah. Mit letzter Kraft schwamm ich zum Heck, wo ich mit Hilfe meines Mitseglers und der angebrachten Badeleiter wieder an Bord kam.
Rote Leuchtkugeln in den finsteren Himmel. Abwarten, verharren auf dem nicht mehr manövrierbaren Boot. Noch einmal legte ein schwerer Brecher unser Boot fast auf den Kopf. Eine halbe Stunde später sorgte ein niederländischer Marinehelikopter für Rettung. Mit Hilfe einer Seilwinde wurden wir geborgen und nach Den Helder gebracht. Die Segler des anderen Bootes wurden von einem Rettungsboot der KNRM geborgen und nach Vlieland gefahren.
Der Traum der Weltumseglung war geplatzt, doch körperlich fast unversehrt standen wir auf festem Boden.

Mehr davon?

altAuf Grund einer eklatanten Fehleinschätzung verhungerten ein Freund und ich fast in den kanadischen Rocky Mountains. Wann das war? Im Sommer 1993. Man war jung, war noch naiv, aber man war fit. Allein die letzte Tatsache sorgte dafür, dass wir mit Mühe und Not nach einer Woche das Ziel erreichten...
Schlimm genug der Autounfall im Herbst 1997. Nur ein Jahr später kachelte ein Auto mit 90 Sachen in die Beifahrerseite. Wer auf dem Beifahrersitz saß? Ich! Warum ich noch ein gesundes Becken und beide Beine habe? Ein Bruchteil einer Sekunde sorgte dafür, dass das andere Fahrzeug nicht in die Tür sondern gegen das vordere Rad prallte...
Nicht ganz so übel und trotzdem eine Lehre: Auf einer Radtour quer durch den Balkan wählten ein guter Freund und ich in Serbien eine Abseitsroute quer durch extrem abgelegene Berge. Was dort geschah? Ein Hirte schoss mit seinem Gewehr in unsere Richtung und verfehlte uns nur knapp. Ob gewollt oder aus Versehen - keine Ahnung!

Fazit

altWas sagen einem diese Erlebnisse? Was tun mit solchen Erfahrungen? Ein paar Dinge standen im Anschluss fest. Klettern? Nie wieder! Wandern in den Bergen, ja. Klettern am Seil? No way!
Autofahren? Extrem ungern. Wenn ja, nur mit Fahrern, die man gut kennt, denen man wirklich sehr vertraut. Herbstliche Landstraßen am Abend? Ein Albtraum - bis heute. Auch 13 Jahre danach.
Segeln auf hoher See? Seit dem Schiffbruch nicht mehr. Bisher reichte es nur für ein paar Touren auf Brandenburger Binnengewässern. Immerhin. Das eine Mal sogar im November bei steifer Brise auf dem Schwielowsee.
Brasilien? Angst vor erneuten Überfällen? 2008 ging es schließlich erneut dorthin. Mit Erfolg. Die Liebe zu diesem Land überwand die Furcht vor der dortigen Kriminalität, die wie ein Damoklesschwert über einen hängt.
Wie man Grenzerfahrungen am Besten aufarbeitet, ist schwer zu sagen. Nächtliche Albträume blieben bisher glücklicherweise aus, aufgearbeitet wurde meist tagsüber. Eine Sache steht so oder so fest: Ich lebe bewusster. Auch der Moment, in dem ich hier sitze und diesen Bericht verfasse, ist ein Geschenk des Schicksals oder eben der Schutzengel. Wer weiß...

> zu den turus-Fotostrecken

> zur privaten Website des Autors

Benutzer-Bewertungen

In diesem Beitrag gibt es noch keine Bewertungen.
Hast du schon ein Konto?
Ratings
Weiterempfehlen
Datenschutz
Durch das Anhaken der folgenden Checkbox und des Buttons "Absenden" erlaube ich turus.net die Speicherung meiner oben eingegeben Daten:
Um eine Übersicht über die Kommentare / Bewertungen zu erhalten und Missbrauch zu vermeiden wird auf turus.net der Inhalt der Felder "Name", "Titel" "Kommentartext" (alles keine Pflichtfelder / also nur wenn angegeben), die Bewertung sowie Deine IP-Adresse und Zeitstempel Deines Kommentars gespeichert. Du kannst die Speicherung Deines Kommentars jederzeit widerrufen. Schreibe uns einfach eine E-Mail: "kommentar / at / turus.net". Mehr Informationen welche personenbezogenen Daten gespeichert werden, findest Du in unserer Datenschutzerklärung.
Ich stimme der Speicherung meiner personenbezogenen Daten zu:
Kommentare