Zurück liegt ein brisanter Tag im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Ein Rückblick auf den 02. Februar 2011 - die Geschehnisse von früh morgens bis Mitternacht. Über 18 Stunden hielten die Hausräumung in der Liebigstraße 14 und die zahlreichen Proteste die Polizei in Atem. Gigantisch der Aufwand, groß die Wut, heftig die abendlichen Auseinandersetzungen, hoch die Kosten. War es das Ganze wert? Für ein Wohnhaus an der Ecke Liebigstraße / Rigaer Straße - in einem Kiez, der noch immer alternativ geprägt ist.
Liebig 14: Räumung, Proteste, Krawalle und Polizeigewalt / Video und Fotos
7 Uhr. Noch ist es dunkel. Vor dem Liebig 14 postiert sich die Polizei. Das Gebiet ist weiträumig abgesperrt. Nur Anwohner und die Presse haben jetzt noch Zutritt. An der Ecke vor dem zu räumenden Haus sammeln sich TV-Leute und Fotografen. Noch kann man aus verschiedenen Blickwinkeln Aufnahmen anfertigen. Es dämmert, die Polizei bringt reichlich Fahrzeuge in Stellung. Alles, was man so für eine Räumung notfalls benötigt. Ein Rammfahrzeug, zahlreiche Mannschaftswagen und ein grüner LKW mit zahlreichen Gerätschaften. Von der Kettensäge bis zu Leitern, Brecheisen und diversen Werkzeugen.
Gegen 7:30 Uhr wird die Presse abgeschoben, besser gesagt zur Seite hinter eine Absperrung geschoben. Nicht freundlich, nicht mit Gewalt, jedoch recht unliebsam. "Schlimm. Die Presseleute machen mehr Ärger als die Demonstranten", meckert ein Beamter. Kein Wunder, denn Demonstranten gibt es auf der Straße nicht.
Hinter einem rot-weißen Absperrband reihen sich die Vertreter der Medien ein. Man ist gespannt, noch weiß niemand, was genau passieren wird. Die Luft knistert förmlich. Verbalen Protest gibt es vom Balkon des gegenüber liegenden Hauses. Und auch nebenan manchen die Bewohner von den Balkonen aus mobil. Kochgeschirr klappert. Aus dem besetzten Haus ertönt das Lied "Spiel mir das Lied vom Tod".
Nachdem alles postiert wurde, geht es nun ab 8 Uhr los. Die Polizei beginnt mit der Räumung und wird in den folgenden Stunden von den Umständen im Gebäude überrascht. Stacheldraht soll ausgelegt sein, ein Teil des Treppenhauses fehlt völlig. Man spricht von einer Badewanne voll Flüssigkeit.
Draußen geht der Protest auf den Balkonen weiter. Auf den Dächern befinden sich polizeiliche Einsatzkräfte in Stellung. Es sieht aus wie bei einer Geiselnahme. Immer noch gibt es am Absperrband Hickhack zwischen der Presse und der Polizei. Manch ein Beamter aus Sachsen und Berlin nimmt seine Aufgabe sehr genau. Es geht um Zentimeter. Das Band reißt. Schmunzeln auf manch einem Gesicht. Ein neues Band wird geknüpft.
Gegen 8:45 Uhr trifft Hans-Christian Ströbele am Ort des Geschehens ein. Gelassen schließt er sein Fahrrad an einem Laternenmast an. Die dunkel gekleidete Polizeitruppe aus Sachsen staunt nicht schlecht. Lässig nimmt Ströbele den Sattelbezug und spricht anschließend mit den Leuten vor Ort.
9:15 Uhr. "An der Frankfurter soll es mächtig abgehen". Diese Nachricht verbreitet sich unter den Presseleuten an der Liebigstraße. Was tun? Hier kann das Ganze noch lange dauern. Die Polizei kommt nur langsam voran, von der kompletten Räumung der Liebig 14 sind die Einsatzkräfte noch weit entfernt.
Ortswechsel. 10:00 Uhr. Ecke Frankfurter Allee / Proskauer Straße. Hunderte linke Demonstranten blockieren die Kreuzung. Auf der Frankfurter Allee geht nichts mehr. Der Verkehr muss umgeleitet werden. Erste Böller, Unruhe kommt auf. Zahlreiche schwarz gekleidete Demonstranten wollen in den Kiez in Richtung Simon-Dach-Straße. Berliner Polizei versucht die Nebenstraße abzuriegeln. Erste Handgemenge, weitere Böller. Die Jungs mit den dunklen Uniformen und dem sächsischen Wappen auf der Seite müssen ran. Brachial bahnen sie sich den Weg. Erste Festnahmen, eine Frau kreischt, die Menge ist aufgebracht.
"Ihr scheiß Sachsen, verpisst Euch nach Hause. Dreckspack!", wettert ein Demonstrant. Die Lage ist angespannt. Wenig später strömen hunderte Demonstranten zum Frankfurter Tor, dort gelingt es ihnen kurzzeitig, die komplette Kreuzung zu blockieren. Menschen stellen sich vor die Fahrzeuge, nun befestigen sie Absperrbänder. Autogehupe. Die Polizei hat gut zu tun und schiebt die Massen Zentimeter für Zentimeter von der Kreuzung.
Zahlreiche Demonstranten zieht es nun in die Nähe der Liebigstraße. Von hinten über Bersarinplatz und Weidenweg laufen zahlreiche Protestler zur Absperrung. Auf dem Weidenweg liegen schon bald erste Gegenstände. Die Lage bleibt explosiv. Auch an der Ecke Proskauer Straße / Rigaer Straße ist die Stimmung aufgeheizt. Polizeihunde ohne Maulkorb sind im Einsatz, den Protestlern schmeckt dies gar nicht. Beschimpfungen, auch hier rücken weitere Einsatzkräfte nach.
Eine Ecke weiter werden gegen 11:30 Uhr rund 40 Leute von der Polizei eingekesselt. Das wird auch geraume Zeit so bleiben. Auf dem Balkon darüber bauen zwei Frauen Lautsprecher und spielen Musik ab.
11:45 Uhr vor dem Liebig 14. Noch hält die Festung. Sirenengeheul und das Geschepper des Blechgeschirrs übertönen alles. Von einem verbarrikadierten Balkon des besetzten Hauses aus wird eine schwarze Fahne geschwenkt. Jubel auf den Balkonen der Nachbarhäuser. Wenig später wird ein weißes Pulver versprüht. Die letzten Lebenszeichen. Im Gebäude soll es erbitterten Widerstand geben, bei dem auch Chemikalien zum Einsatz kommen. Wenig später wird auch der letzte Widerstand gebrochen. Das Gebäude ist geräumt, die Bewohner sind festgenommen.
Sieben Stunden später. 19:30 Uhr. Vom Boxhagener Platz aus startet die kurzfristig angemeldete Demonstration, an der rund 2.000 Menschen teilnehmen. Martialisch geht es durch den Kiez. Fast alle komplett in schwarz, ein paar Fahnen werden hochgehalten.
Dicke Luft. Groß ist die Wut bei den Demonstranten. "Ganz Berlin hasst die Polizei", hallt es durch die Straßen. Auch das berühmte "ACAB" ertönt immer wieder lautstark. Anschließend ein kräftiges "Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass!"
Die Demonstration gleicht einem Pulverfass. All zu klar, dass es gleich krachen wird. Der Demonstrationszug biegt in die Warschauer Straße ein und marschiert in Richtung Frankfurter Tor. Bis dorthin lässt die Polizei die Massen erst gar nicht kommen. Von der Seiten fallen Sondereinheiten aus Niedersachsen ein. Der Startschuss für die Krawalle ist gefallen. Bengalische Fackeln, laute Polenböller. Erste Flaschen fliegen, derbe Handgemenge. Immer wieder fällt die Polizei von der Seite ein und versucht die große Menschenansammlung in kleinere Gruppen aufzuspalten.
Von vorn rückt schweres Gerät an. Die Situation droht vollends zu eskalieren. Vor einem Bioladengeschäft werden die Leute zusammengedrückt. Im Laden versorgt sich manch einer mit einer Packung Eier. Farbbeutel kommen auch zum Einsatz.
Bei der Sparkasse klirren die Scheiben. Wenig später erfolgt der gezielte Zugriff der dunkel gekleideten Polizisten mit dem niedersächsischen Pferdchen auf dem Ärmel. Gorleben erprobt machen diese Polizisten wenig Federlesen. Ein Krawallmacher wird ohne Rücksicht auf Verluste zu Boden gerissen. Viel anders schaut es auf einer Demo in Moskau, Minsk und Jakarta auch nicht aus...
Gegen 21 Uhr zieht ein Teil der Demonstranten in Richtung Oberbaumbrücke. Kreuzberg als Ziel? Aus der Ferne ertönen mächtige Böller. Niemand weiß so richtig, was passiert. Die Polizei fährt mit Blaulicht zum Ort des Geschehens. Auch Wasserwerfer und Räumfahrzeuge sind auf den Achsen. Einige Autonome haben versucht, die O2 World zu stürmen. Wenig später verlagern sich die Proteste zum Ostbahnhof. Auch dort ein riesiges Polizeiaufgebot. Polizei aus diversen Bundesländern ist unterwegs, nun mit dabei auch die Bundespolizei.
Manch ein Demonstrant zieht nun wieder zurück in den Friedrichshainer Kiez. Am S-Bahnhof Warschauer Straße strömen aus der S-Bahn zahlreiche Protestler. Der Kiez bleibt unruhig. Blaulicht hier und dort. Nun auch unterwegs Polizeiwagen aus NRW, Kennzeichen aus Bochum und Münster. In der Kreutziger Straße haben sich ein paar NRW-Fahrzeuge verfahren. Ein Blick auf die Karte, das Navigationsgerät wird bedient. Ganz geheuer ist es manch einem Polizisten das Ganze nicht.
Auf der Simon-Dach-Straße wurde eine kleine Barrikade aufgebaut, der Sparkassenautomat ist mit Farbe übergossen. Menschenansammlungen gibt es nun an der Ecke Frankfurter Allee / Proskauer Straße und am Frankfurter Tor. Dort erteilt die Polizei bereits Platzverweise.
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Eine ganz ekelhafte Geschichte ist am dortigen U-Bahnof-Eingang um 22:35 Uhr zu beobachten. Beim Vorbeirennen tritt ein Berliner Polizist einem Mann mit Bierflasche die Beine weg, so dass dieser stürzt und fast in die Glasscherben der zersplitterten Flasche stürzt. Hitzige Wortgefechte. Achselzucken bei den verbliebenden Polizisten.
23 Uhr. Rund um die Rigaer Straße sind noch immer Leute unterwegs. Die Ecke um das Liebig 14 ist weiterhin abgeriegelt. Scheinwerfer beleuchten das Gebiet mit gleißendem Licht. In einer Nebenstraße brennt in einer Toreinfahrt ein Gegenstand lichterloh. Die Feuerwehr rückt an. An der Proskauer Straße rücken auch wieder die Polizisten aus Niedersachsen an.
"Hopp. hopp, hopp. Schweinchen im Galopp!", wird ihnen zugerufen. "Mensch, verpisst euch nach Hannover! Was wollt Ihr in Berlin?", schreit jemand aus der Menge.
Noch immer kreist der Polizeihubschrauber über Friedrichshain. Erst gegen Mitternacht kehrt wirklich Ruhe ein. Zurück liegt ein ungemütlicher Tag, der vielleicht hätte auch anders kommen. Liebig 14. Ein Altbau von tausenden in Berlin - und doch ein echtes Politikum...
> zur turus-Fotostrecke: Liebig 14 - Räumung - Proteste
15-minütige turus-Doku:
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