Wandern auf dem grünen Band: Wie im Sommer 2003 alles begann

MB Updated

Anlässlich des 50. Jahrestages des Mauerbaus in Berlin hiermit ein Rückblick auf die Dokumentation der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze, die im Sommer 2003 in Angriff genommen wurde. Gemeinsam mit Karsten Höft wurde zu Fuß der einstige Grenzstreifen von Süd nach Nord abgewandert. Von Prex nach Priwall - dabei entstanden tausende Aufnahmen, die später in eine Wanderausstellung, in zahlreiche Diavorträge und in dieses Magazin einflossen. Nach der fünftägigen Wanderung entlang des einstigen Mauerstreifens von Berlin im Sommer 2001 folgte von Juli bis Anfang September 2003 die spannende und überaus interessante Tour quer durch Deutschland bis hoch zur Ostsee. Folgend das erste Kapitel aus dem damaligen Tagebuch.

Als wir uns am 20. Juli 2003 in den Regionalexpress in Richtung der sächsischen Stadt Oelsnitz setzten, schwebte die Zahl 1.378 wie ein Damoklesschwert über uns. 1378 Kilometer Fußmarsch lagen in den kommenden Wochen vor uns. Genau dieses Strecke wollten mein Projektpartner Karsten und ich zurücklegen. Vom Dreiländereck bei den kleinen Ortschaften Prex, Papstleithen und Kugelreuth aus bis zum Strand der Ostsee auf der Halbinsel Priwall. Immer entlang an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. 

altMit Wander- und Fotoausrüstung machten wir uns auf den Weg, um die Überbleibsel des Eisernen Vorhangs, der einst die Staaten des Warschauer Pakts und der Nato trennte, möglichst lückenlos zu dokumentieren. Vorbei an den einzelnen Grenzmuseen und Resten der Grenzanlagen.
Karsten und ich waren im Vorfeld des Projektes sehr motiviert, doch die Zahl 1.378 bereitete uns ein wenig Sorgen. Die Strecke vom Vogtland bis zur Ostsee versprach ein hartes Stück Arbeit zu werden. 1997 wanderten Karsten und ich bereits gemeinsam 400 Kilometer durch den Südwesten Irlands, in Schottland rund 150 Kilometer durch die Highlands, auf dem Camino de Santiago de Compostela 300 Kilometer und auf dem ehemaligen Mauerstreifen von Berlin 166 Kilometer. Rechnete man die vier gemeinsamen Wandertouren zusammen, kam man nicht einmal auf die Strecke der bervorstehenden Tour.

Zum wiederholten Male rechneten Karsten und ich im Zug nach Oelsnitz die Tagesetappen durch. Wir konnten es drehen, wie wir wollten, unser Vorhaben blieb ein verdammt hartes Stück Arbeit. Die Tage zuvor wogen wir das Gepäck, sortierten die Utensilien und legten uns das Kartenmaterial zurecht. Es machte keinen Sinn, Wanderkarten mitzunehmen. Das Papier hätte einige Kilo gewogen. Somit kauften wir den größten erhältlichen ADAC-Profiatlas mit dem Königsmaßstab 1:100000 und rissen die für uns wichtigen Seiten heraus und packten sie in Folien. Soweit möglich wollten wir uns in den kommenden Wochen am ehemaligen Kolonnenweg orientieren. An komplett zugewachsen Abschnitten müssten wir auf Landstraßen und Wanderwege ausweichen. Genau dieser Punkt bereitete uns Kopfzerbrechen.
Aus verschiedenen Quellen konnten wir entnehmen, dass der Kolonnenweg mittlerweile an vielen Stellen unzugänglich war. Hohes Gras und Gestrüpp eroberten sich ihren Raum zurück und überwucherten die Lochplatten, auf denen einst die Fahrzeuge der Grenztruppen patroullierten. Zumindest auf dem sächsischen Abschnitt erwarteten wir ein flottes Vorankommen. Dort wurde das Gras auf dem Kolonnenweg regelmäßig gemäht.

altVon Berlin aus fuhren wir mit dem Wochenendticket der Deutschen Bahn über Jüterbog und Leipzig ins vogtländische Oelsnitz. Dort mussten wir feststellen, dass die Angaben im Internet ihre Richtigkeit hatten. Sonntags fuhr kein einziger Bus in Richtung Triebel, Posseck oder Tiefenbrunn. Verwaist lagen die Bushaltestellen im grellen Sonnenlicht vor dem trostlosen Bahnhofsgebäude. Ganz Oelsnitz wirkte am Sonntag wie ausgestorben. Langsam setzte die Regionalbahn ihre Fahrt in Richtung Adorf fort und ließ uns am Bahnhof von Oelsnitz zurück. Kaum ein Bewohner der kleinen sächsischen Stadt ließ sich auf den Kopfsteinpflasterstraßen sehen.
Bereits vor dem Start am Dreiländereck mussten wir die ersten Kilometer zu Fuß zurücklegen. Da es nur auf Asphaltstraßen voranging, war die Motivation nicht sonderlich groß. Ich rechnete Karsten spaßhaft vor: 1.378 plus die 15 Kilometer bis Hinterprex. Die Ortsnamen bereiteten uns an jenem Tag die einzige Freude. Obertriebel und Kugelreuth. Die Strecke zog sich. Es ging leicht bergauf, und die Temperaturen lagen im oberen Bereich. Schnell stellte sich Durst ein, und bereits nach zehn Kilometern machten wir uns erste Gedanken, ob die Rucksäcke nicht doch zu schwer sind.
Hinter Tiefenbrunn und Kugelreuth machten wir uns auf die Suche nach dem Dreiländereck. Die Karte gab wenig Aufschluss, wie man zu diesem Punkt gelangen konnte. Wir folgten einfach einer kleinen Straße zum oberfränkischen Hinterprex und sahen schon bald am rechten Straßenrand auf einer Wiese den ersten ehemaligen Beobachtungsturm der DDR-Grenztruppen. Heute wurde der Turm für Amateurfunkzwecke genutzt, was auf einem angebrachten Schild unschwer abzulesen war. Ein Stück zurück lag zur linken Seite das »Café zum Dreiländereck«. Ein gelbes Schild der Brauerei Bürger Bräu aus Hof machte uns bei diesem sonnigen Wetter Appetit für ein kühles Bier, doch fanden wir zu unserer Enttäuschung die Tür verschlossen vor. Ich sprach im anliegenden Garten einen Mann an, ob er uns ein wenig Wasser in die mitgebrachten Plastikflaschen abfüllen könnte. Er bat uns zum Hintereingang und brachte zwei große Flaschen mit, deren Inhalt wir in unsere umfüllten. Auf meine Frage, weshalb das Café nicht mehr geöffnet sei, erklärte er, dass zwei Jahre zuvor seine Frau gestorben sei. Danach habe er das Café zugemacht.
Weiterhin erklärte er uns den Weg zum Dreiländereck. Er zeigte auf die Wiese hinter dem Grundstück. Dort hinüber hatten wir zu laufen. Einfach den Traktorweg bis zum Waldrand, dann nach links und nach wenigen hundert Metern wieder nach rechts. Dort sei schließlich die Lichtung mit einem Holzkreuz und den Grenzschildern zur tschechischen Republik. Das Dreiländereck wäre schwer zu verfehlen.

altGanz so einfach war es dann doch nicht. Zwar stießen wir schon bald auf den Kolonnenweg, doch fanden wir keinen Abzweig, dem wir nach rechts folgen konnten. Es war ein komisches Gefühl, das erste Mal den Kolonnenweg mit seinen Lochplatten mit eigenen Augen zu sehen. Zwei Jahre zuvor wanderten wir auf dem ehemaligen Mauerstreifen einmal im Uhrzeigersinn um den Westteil von Berlin nur auf asphaltierten Wegen oder Kolonnenwegen mit durchgängigen Betonplatten.
Dort bei Prex suchten wir das erste Mal den richtigen Rhythmus, die richtige Schrittlänge, um mit den Füßen stets zwischen den Löchern aufzukommen. Später konnten wir fast blind auf den Lochplatten entlangwandern, doch anfangs blieb man leicht mit den Stiefelspitzen an den scharfen Betonkanten hängen. Der Beton konnte im unglücklichsten Fall die Sohle aufreißen.
Aus dem Unterholz brach vor mir ein Wildschwein, das über die angrenzende Wiese flüchtete. Ich wartete kurz ab, ob noch mehr folgen würden, und ging vorsichtig weiter. Karsten befand sich gut hundert Meter hinter mir und fotografierte. Beim Anblick des Wildscheins hoffte ich, dass wir nicht allzu häufig auf verwilderte Hunde und grunzende Keiler und Bachen treffen würden. Bei der besagten Wanderung auf dem Berliner Mauerstreifen wurden wir im sogenannten Eiskeller im entlegensten Zipfel von Berlin nach dem Aufbau unseres kleinen Zeltes von einer ganzen Rotte Wildschweine vertrieben. In der Dunkelheit brachen wir wortwörtlich unsere Zelte ab und machten in einer nahen Siedlung einen neuen Übernachtungsplatz ausfindig.
Schon bald mussten wir feststellen, dass der Kolonnenweg über das Dreiländereck hinauslief. Wir befanden uns bereits an der deutsch-tschechischen Grenze, die bis 1989 auf den ersten Kilometern vom Dreiländereck aus genauso scharf bewacht wurde.

altAuf der Höhe von Papstleithen wurden wir auf angebrachte Gedenk- und Informationstafeln aufmerksam, auf denen Fotos, Zeitungsartikel und zwei Behördenbriefe abgedruckt waren. 1974 wurden an dieser Stelle im Zuge des Ausbaus der Grenzanlagen Häuser und ganze Bauernhöfe abgerissen. Betroffen waren nach Schätzungen 52 Familien, die meist in Neubauwohnungen nach Oelsnitz umgesiedelt wurden. Die kleinen Ortschaften Wieden, Gräben im Thal und Hammerleithen, die allesamt zu Papstleithen gehörten, verschwanden komplett von der Erdoberfläche. Manch ein Zwangsumgesiedelter verkraftete den Umzug nicht. So nahm sich Herbert Korndörfer aus Papstleithen das Leben, nachdem er dazu aufgefordert wurde, Heim und Hof aufzugeben.
Die Zwangsumsiedlungen 1974 waren die 3. Welle der »Grenzbereinigungen«. Bereits 1952 erfolgten mit der »Aktion Ungeziefer« die ersten Zwangsumsiedlungen und Gebäudeabrisse in der Nähe der innerdeutschen Grenze. Betroffen waren vermeintlich politisch unzuverlässige Leute. 1961, nach dem Bau der Berliner Mauer, folgte die »Aktion Kornblume«, die im damaligen Bezirk Karl-Marx-Stadt auch »Aktion Frische Luft« genannt wurde. 1974 traf es bei der 3. Welle nicht nur Leute, die in den Augen der SED-Funktionäre unzuverlässig und verdächtig waren. Beim weiteren Ausbau der Grenzanlagen mussten an einigen Stellen sämtliche Gebäude weichen. Ortschaften verschwanden von der Bildfläche, wurden komplett ausradiert.
Für die verlorenen Grundstücke erhielten die Zwangsumgesiedelten damals 8 bis 12 Pfennige pro Quadratmeter. Besaß man demzufolge ein Grundstück von einer Größe von 5000 Quadratmetern, erhielt man die Summe von 400 bis 600 Mark. Diese Regelung betraf allerdings nur Grundstücke bis zu einer Größe von einem Hektar. Über diese Größe hinaus erfolgte gar keine Entschädigung.

Bereits in den Jahren 1972 und 1973 wurde den meisten betroffenen Einwohnern mitgeteilt, dass in Kürze der Abriss der Gebäude bevorstand. Mit der kleinen Entschädigung und den bereit gestellten Neubauwohnungen versuchte man, die Bewohner freiwillig zum Umzug zu bewegen. 1952 und 1961 erfolgte bei den ersten beiden Aktionen die Zwangsumsiedlungen noch über Nacht. Viele konnten damals Hals über Kopf nur das Notwendigste mitnehmen.
Die 1974 bei Papstleithen leer stehenden Gebäude wurden im Rahmen einer Zivilverteidigungsübung dem Erdboden gleichgemacht. Heute erinnerten nur noch teilweise Reste der Fundamente an diese zerstörten Bauernhöfe.
Nach der Wende versuchten ehemalige Bewohner und Nachkommen der betroffenen Familien Entschädigungen zu erhalten oder ihr Grundstück zurückzubekommen. In Thüringen erhielten die Betroffenen pro Grundstück 4.000 D-Mark von einer Stiftung. In Sachsen wurde den Betroffenen gar keine Entschädigung zu gesprochen. Die Betroffenen konnten dies nicht verstehen. Regierten doch in Thüringen und in Sachsen die Christdemokraten. Man schob das Ausbleiben der finanziellen Unterstützung auf die in Sachsen fehlende Lobby. In Thüringen waren weitaus mehr Menschen betroffen, der Grenzabschnitt in Sachsen war dagegen nur 30 Kilometer lang.

altEberhard und Gustav Wunderlich kämpften weiter für eine Entschädigung. Sie besaßen bis 1974 einen typisch vogtländischen Bauernhof in Hammerleithen – die Nummer 21. 1972 erhielt die Familie Wunderlich ein Schreiben mit der Mitteilung, dass auch ihr Hof geräumt werden müsse. 1974 zogen sie wie so viele andere nach Oelsnitz um. Mit der Ablehnung in Bezug auf die Entschädigungen wollten sie es nicht dabei beruhen lassen. Das Verwaltungsgericht in Chemnitz lehnte allerdings die Forderungen erneut ab. Mit der Begründung, beim Zwangsumzug 1974 handelte es sich um »keinen Willkürakt im Einzelfall«.
Neben der aufgestellten Gedenktafel waren zwei Briefe zu lesen, die Herr Eberhard Wunderlich Anfang 2000 erhielt. Im ersten Brief aus dem Sächsischen Staatsministerium für Umwelt und Landwirtschaft wurde erklärt, dass es in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Rechtslagen geben könne. Das widerspreche sich nicht mit dem Grundgesetz. Die Zahlungen in Thüringen erfolgten freiwillig, einen Anspruch gebe es demzufolge in Sachsen nicht. Der zweite Brief stammte von der Sächsischen Staatskanzlei – Stabstelle für Bürgeranliegen. In ihm war zu lesen, dass die Forderung nach einer Entschädigung wiederholt abgelehnt werden müsse. Zudem kann der Forderung nicht nachgegeben werden, Herr Biedenkopf persönlich müsse sich mit dieser Angelegenheit befassen. Der Ministerpräsident bekäme täglich hunderte Briefe und Anfragen, und da sei es für ihn nicht möglich, auf jedes Anliegen persönlich einzugehen. Weiterhin müsse festgestellt werden, dass man nichts mehr bezüglich der Forderung nach der finanziellen Entschädigung tun könne. Ein kurzer Gruß. Stempel. Fertig.

Beeindruckt vom Schicksal der dortigen Ortschaften liefen Karsten und ich eine halbe Stunde später weiter. Die gesamten Zusammenhänge der Begebenheiten um die geschleiften Ortschaften entlang der innerdeutschen Grenze konnte ich erst im Laufe und nach der Wanderung verstehen.
Der Weg zum Dreiländereck war nicht leicht finden, und da wir nicht den allergrößten Wert darauf legten, unbedingt vom genauen Messpunkt aus zu starten, kehrten wir um und folgten dem Kolonnenweg in Richtung Posseck und Gassenreuth. Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont, und somit beschlossen wir, in der Nähe von Posseck unser Zelt aufzubauen und im Ort ein Gasthaus aufzusuchen.

 

> zur turus-Fotostrecke: Bilder von der ehm. innerdeutschen Grenze



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