Morgensonne überflutet die Bahnsteige. Ganz bewusst wählte ich den Bahnhof Berlin-Lichtenberg zur Abfahrt in Richtung Strausberg und Eggersdorf. Kaum ein anderer Berliner Bahnhof verströmt noch so viel DDR-Feeling. Genau richtig für den heutigen Ausflug. Spurensuche in Eggersdorf, wo sich in den 80ern das Kinderferienlager von ORWO Wolfen / FCW Köpenick befand. Eintauchen in längst vergangene Zeiten. Erinnerungen aufleben lassen.
Melancholische Zeitreise: Spurensuche im ORWO-Betriebsferienlager Eggersdorf
Dreimal war ich als Kind in Eggersdorf im Betriebsferienlager der Fotochemischen Werke Berlin, die zu ORWO Wolfen gehörten. 1982, 1983 und 1984. Jetzt fiel es mir wieder ein. Damaliger Treffpunkt für die Kinder und Betreuer war der S-Bahnhof Kaulsdorf. Für manche Stippies gab es dort ein freudiges Wiedersehen, bei manchen flossen eher die Tränen. Zwei Wochen ohne Mutti und Papi. Der Großteil der Kinder freute sich allerdings auf die Zeit, die für acht- oder zehnjährige schier unendlich wirkte. 14 Tage?! Das waren gefühlte zwei Monate. Im Prinzip hinkt jeder Vergleich. Sagen wir, in den Kinderköpfen spielte Zeit keine Rolle. Einzig und allein das Bergfest nach einer Woche machte einem bewusst, dass auch die Zeit im Kinderferienlager endlich war.
Statt wie damals mit der S-Bahn fahre ich heute mit der Niederdeutschen Eisenbahn nach Strausberg, um von dort aus wie einst in den 80ern zu Fuß in Richtung Bötzsee zu wandern. Die Fahrt mit der S-Bahn, der Marsch durch Strausberg und Eggersdorf – als Kind eine Weltreise, und das im angenehmen Sinne. Beim ersten Mal im Sommer 1982 war alles die große aufregende Unbekannte, im Jahr darauf war alles ein freudiges aufregendes Wiedersehen.
Mit dem Fahrrad war ich ab und zu in Eggersdorf. Ich weiß, dass das einstige Kinderferienlager nach Jahren des Verfalls komplett abgerissen wurde. Ich hatte es verpasst, Erinnerungsfotos anzufertigen. Das schmerzt. Was blieb, ist eine Brachfläche und die Gegend ringsherum. Grund genug, um mit Notizblock, wachem Auge und Fotokamera auf Spurensuche zu gehen.
Der Zug rollt in Strausberg Vorstadt ein. Vorbei am hübsch sanierten Bahnhofsgebäude geht es weiter quer durch das Neubaugebiet, in dem ebenfalls die meisten Gebäude modernisiert wurden. Die grobe Richtung kenne ich noch, den genauen Weg allerdings nicht. So komme ich in Eggersdorf an einer anderen Straßenecke raus. Ich bin mir nicht ganz sicher. Auch hier befindet sich eine Brachfläche und gleich daneben wurde ein neuer Supermarkt hochgezogen. Soll das hier gewesen sein? Wenn ja, ist das ein echter Schock.
Mir fällt jedoch ein, dass das Ferienlager „Helmut Just“ kurz vor dem Ortseingang gewesen war. Und so ist es. Zwei Straßen weiter erkenne ich auf Anhieb das Gelände. Teile des alten Jägerzaunes sind noch erhalten, die restlichen Abschnitte werden von einem Bauzaun umgeben. Kurzes Durchatmen. Das Gelände sieht aus wie ein ehemaliges Kriegsgebiet. Wo einst die festen Gebäude standen, sind nur noch zugewucherte Sandlöcher zu sehen. Alten Bombenkratern gleich. Es braucht ein paar Minuten, bis ich im Geiste alles rekonstruieren kann. Hier der asphaltierte Vorplatz, auf dem man immer vom Lagerleiter begrüßt wurde. Zudem war dies der Sammelplatz für den nächtlichen Übungsfeueralarm. Raus aus dem Steingebäude oder den Holzbaracken und Aufstellung genommen. In Gruppen. Barfuß. Wehe, wer sich die Mühe gemacht hatte, ganz frech noch Schuhe anzuziehen.
Das Hauptgebäude hatte eine hübsche hölzerne Veranda, in der alle Gruppen bei den Mahlzeiten Platz hatten. Das Betriebsferienlager der Fotochemischen Werke war nicht riesig. Pro Altersstufe eine Gruppe mit etwa 12 bis 15 Kindern. Das Ganze mal sieben oder acht. Klein, aber fein. Sehr fein. So fein, dass ich noch immer in den Erinnerungen schwelge. Nach den drei Aufenthalten in Eggersdorf folgten noch Ferienlager in Thüringen, in Breege auf Rügen und in der Volksrepublik Polen. Allesamt waren es tolle Ferien, doch die Zeit in Eggersdorf war definitiv am schönsten. Dass dies in der Tat so war, spüre ich jetzt noch einmal ganz, ganz deutlich. Obwohl von den Gebäuden nichts mehr zu sehen ist, spüre ich noch den guten Geist. Zwar fehlen die Gebäude, doch sind noch die Bäume, die asphaltierten Wege die hintere Wiese mit dem Sportplatz zu besichtigen.
Bäume?! Klingt banal?! Wir sprechen von uralten Eichen und Kastanienbäumen, unter denen sich linke Hand die hölzernen Schlafbaracken befanden. Die Flächen sind noch erkennbar. An manchen Stellen ragen noch die Blitzableiter aus dem Boden. Ein Trauerspiel. Es schmerzt, dass alles abgerissen wurde. Der Geruch dieser Baracken hat sich fest eingeprägt. Kinderschweiß, muffelnde Socken, vergessene Äpfel in den Schränken. Bei mir waren es sogar Bananen, die mir meine Eltern eingepackt hatten. Die hatte ich glatt vergessen und erst nach zehn Tagen in meinem Fach entdeckt. Der staubige Boden, die Doppelstockbetten, die warme Luft unter dem Dach. Das Kichern der Kinder, die draußen Streiche machten. Die Knallerbsensträuche wuchern immer noch zwischen den hohen Bäumen.
Ich gehe erst einmal nach hinten zu der besagten Wiese. Meine Güte, die Basketballkörbe an den Metallgerüsten hängen immer noch. Die Gerüste wurden wohl für die Ewigkeit gemacht. Die erinnerten mich als Kind immer an sowjetische Hochspannungsmasten. Ein Fußballtor liegt auch noch im hohen Gras. Aufrecht steht noch der hohe hölzerne Fahnenmast. Zu Fuße entdecke ich im Gebüsch einen Stein mit einer Aufschrift. Leider ist nicht mehr viel zu erkennen. Während ich im hohen Gras, das vom Morgentau benetzt ist, spaziere, fallen mir die Sportfeste ein. Die größeren Jungs spielten immer gegen Teams aus Polen. „ORWO vor, noch ein Tor!“ Ich weiß noch, wie ich mich im Weitsprung angestrengt hatte, um Dritter zu werden. Es hatte nicht gereicht. Ich wurde Vierter.
Zurück zum Teil des Geländes, auf dem die Gebäude standen. Hier war der Hintereingang zum Hauptgebäude. An einem Fenster stand immer ein Behälter, aus dem die Kinder schwarzen Tee mit Zitrone zapfen konnten. Hier muss der Saal gewesen sein. Dieser Saal wirkte in den Augen eines Kindes schon marode, muffig und uralt. Das Parkett schien bereits Generationen überstanden zu haben. In diesem Saal wurden die Kinderdisko und das Bergfest abgehalten. Manche Erinnerungen gleichen Fotografien, die sich im Hirn eingebrannt haben. Ich versuche, diese geistigen Fotos in Filme umzuwandeln. Es funktioniert nicht. Ich hatte dies bereits seit Jahren probiert. Manches bleibt nur als Standbild erhalten. Der geistige Rekorder hakt. Halb so wild, immerhin kommen jetzt wieder ein paar Bilder dazu. Zumindest werde ich nicht enttäuscht. Der Platz unter den Kastanien und Eichen ist so romantisch, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Mein Entzücken ist schwer in Worte zu fassen. Ich krieche in die Büsche. Hier muss sich doch was finden lassen. Wetten?!
Es braucht nicht lange, bis ich die ersten Gegenstände finde. Glasflaschen aus der DDR. Leere Schnaps- und Bierflaschen. Kein Wunder, dass die hinter die Holzbungalows geworfen wurden. Ob von den größeren Lagerkindern oder den Betreuern – das weiß nur der Wind. Mitten im Gestrüpp steht tatsächlich noch eine steinerne Tischtennisplatte. Man muss schon direkt davor stehen, um sie zu erkennen. Ringsherum sind alte, zerknautschte Tischtennisbälle zu finden. Von einem Spielzeugauto ist nur noch das aus Plastik bestehende Unterteil vorhanden. Es kommt noch besser. Eine Alu-Verpackung eines Schokoriegels. „bon“ steht schwarz auf rot geschrieben. „Kokos mit Milchschokolade“. Stolze 0,60 Mark. Nicht wenig für damalige Zeiten. Echte Schokolade hatte in der DDR ihren Preis! Ich finde auch Verpackungen, die aus der Übergangszeit stammen. Kurz nach der Wende, als das Ferienlager noch ein Weilchen weiter betrieben wurde.
Ein roter zerbrochener Zahnputzbecher aus Kunststoff weckt meine Aufmerksamkeit. Umgedreht. Tatsächlich. „EVP -,47 M“. Mich packt das Jagdfieber. Wenig später entdecke ich ein rotes Portemonnaie. Käfer und Assel krabbeln aus den halb vermoderten Kunstlederfächern. In einem Sichtfenster sind FDGB- und Konsummarken zu sehen. Und was ist das? Ein kühler Schauer auf meinem Rücken. Ein Passfoto. Leider kaum noch als solches auszumachen. Das ist unheimlich. Nur noch vage Umrisse. Im Fach finde ich noch ein Klebeschildchen. „Heidrun“. Sie war sicherlich Betreuerin. Kein Kind trug Konsummarken und schon gar nicht FDGB-Marken durch die Gegend. Zu gerne wüsste ich, wer diese Heidrun war. Lebt sie noch? Wenn ja, wird sie eines Tages diesen Bericht lesen?
Von der Stelle, wo einst die Baracken unter den Eichen und Kastanien standen, kann ich mich schwer trennen. Es fühlt sich an, als sei ich zu Hause angekommen. Das spätsommerliche Wetter sorgt zudem für ein wohliges Gefühl. Auf der asphaltierten Fläche zwischen den einstigen Hauptgebäuden lasse ich mich nieder. Im Geiste rekonstruiere ich. Wo habe ich geschlafen? Einmal auch in einem Nebentrakt des Hauptgebäudes. Später dann in einer Holzbaracke. Recht spartanisch waren Anfang der 80er Jahre die sanitären Einrichtungen. Als Waschbecken dienten steinerne Tröge. Nicht dass dies einen als Kind gestört hatte. Vielmehr war dies ein weiteres Puzzlestück für einen aufregenden Ferienlageraufenthalt. Einmal die Woche wurde heißes Wasser aufgesetzt, dann hieß es Duschen. Gruppenweise. Recht rustikal das Ganze. Ich kann mich erinnern, dass es Beschwerden von Seiten der Eltern gab. Später wurde ein weiterer Nebentrakt ausgebaut. Mit richtigen Waschbecken und allem Drum und Dran. Man hatte viel vorgehabt.
Bereits als Zehnjähriger war ich mir sicher, dass ich hier später im Sommer als Gruppenleiter arbeiten würde. Am Besten gleich alle vier Zwei-Wochen-Einsätze hintereinander. Aber hallo! Nicht vergessen: Die Schulferien dauerten damals zwei Monate. Und die Betriebe stellten gerne frei, wenn man als junger Mitarbeiter im Betriebsferienlager arbeiten wollte.
Dazu kam es nicht mehr. Mauerfall. Wende. Das Ende der DDR. Das Ende der volkseigenen Betriebe. Das Ende der meisten Betriebsferienlager. Aus die Maus.
Um meine Erinnerungen noch mehr auf die Sprünge zu helfen, mache ich vor Ort in Eggersdorf einen Spaziergang. Ich folge dem Fließ, der zum Bötzsee führt. Hier fingen die Kinder immer Krebse. Später sollten die Küchenfrauen aus ihnen das Abendbrot bereiten. Probiert hatte ich nie. Ich weiß noch, als ein älterer Junge aus einer anderen Gruppe barfuß im Bach stehend kräftig aufschrie. Er war wohl auf einen spitzen Stein getreten. Ich dachte jedoch, ein Krebs habe zugebissen. Ich war schockiert. Humpelnd lief der Junge in Richtung Badestelle. „Karl-Heinz! Karl-Heinz!“, rief er seinen Gruppenleiter. Das Jammern und sein Gesicht haben sich eingebrannt. Richtig, hier läuft sogar ein Stück Film im Geiste ab. Jedoch immer nur rund 45 Sekunden. Als Endlosschleife.
Die Badestelle am Bötzsee sieht in der Gegenwart quasi aus wie früher. Wahnsinn! Hier tobten wir herum. Hier wurde auch das Neptunfest gefeiert. Sand in die Badehose, ekelhafte Flüssigkeit in den Mund. Einseifen und ab ins Wasser. Ich blieb glücklicherweise immer verschont. Friedlich ruht der See, nur wenige Leute haben sich heute am kleinen Strand eingefunden.
Melancholie. Alles ist vergänglich. Das Lager ist weg. Zuwachsende Spuren. Wenn es bitter kommt, steht dort auch recht bald ein Supermarkt samt betoniertem Parkplatz. Zum Heulen. Gab es keine Möglichkeit, diese Gebäude zu erhalten? Schlimmer noch die Tatsache, dass die Uhr nicht mehr zurückgedreht werden kann. Ich müsste lügen, wenn ich bestreite, dass es nicht schockierend ist, dass es nun fast 30 Jahre her sind, als ich das erste Mal als kleiner Bub (2. Klasse der POS) in Eggersdorf war. Das Schicksal von Objekten – das Vergängliche – erinnert uns daran, dass auch unsere Zeit gezählt ist. In der Hektik des Alltages wird dieser Fakt fix verdrängt.
Was bleibt? Ich laufe die Straße in Richtung S-Bahnhof Strausberg zurück. Damals war es ein staubiger Weg, auf dem wir mit Rucksäcken nach zwei Wochen pralles Ferienabenteuer samt Nachtwanderung und Jungenstreichen zur S-Bahn marschierten. Der heutige Tag hat den Alltag wenigstens für einen Moment entschleunigt. Ich kann mich glücklich schätzen, solch eine tolle Kindheit gehabt zu haben – und ich sollte dafür Sorge tragen, dass auch das eigene Bübchen solch schöne, einprägsame Kindheit haben wird. Zwar wird er nicht mehr in das Betriebsferienlager in Eggersdorf fahren können, doch ein adäquates Kinder- oder Jugendcamp wird sich zwischen Kap Arkona und Vogtland wohl finden lassen...
... und ja, beim Korrekturlesen schleicht sich nun doch ein Tränchen die Nase herunter...
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