Es wurde höchste Zeit, sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Kaum ein anderes Bauvorhoben ließ die Wogen dermaßen hochschlagen wie das Bahnprojekt Stuttgart 21. Ich persönlich kannte den Stuttgarter Hauptbahnhof mehr oder weniger nur aus dem Fernsehen. Stuttgart ist von Berlin aus eine ganze Ecke entfernt. Die Male, in denen ich in Stuttgart war, kann man an einer Hand, genauer gesagt an zwei Fingern abzählen. Zweimal waren Fußballspiele ausschlaggebend für zwei Kurzreisen in die Landeshauptstadt von Baden-Württemberg. 1993 VfB Stuttgart – HSV, 2003 VfB Stuttgart – Celtic Glasgow.
Ortsbegehung: Stuttgart 21, Bauzaun, Schlossgarten und Parkschützer
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Da es mich nun berufsbedingt ins Ländle verschlug, nutzte ich die Gunst der Stunde, um dem heiß umkämpften Bahnhof einen Besuch abzustatten. Was ist zu erwarten? Wie viel wurde tatsächlich bereits abgerissen? Was hat es mit dem Bauzaun auf sich? Wo genau liegt der Schlossgarten? Wie viele Bäume wurden gefällt? Wie viele Zeichen des Protestes sind noch zu sehen? Welchen Eindruck macht eigentlich der Stuttgarter Bahnhof in der Ist-Form?
Fangen wir beim letzten Punkt an. Die Bahnsteige muffeln stark nach 70er Jahre. Die Überdachungen ähneln denen des Duisburger Bahnhofs. Kurzum: Kein Ort der Gemütlichkeit. Einiges strahlt eher doch das Provinzielle aus. Keine Frage. Hier muss angepackt werden! Stuttgart hat einen weltstädtischen Bahnhof verdient. Allerdings wirken nur die Bahnsteige provinziell, die großen Bauten am Kopf des Bahnhofs sind durchaus sehenswert. Würde man sich den grandiosen Leipziger Hauptbahnhof als Vorbild nehmen, könnte in Stuttgart ebenso ein toller Kopfbahnhof entstehen. Was in Leipzig hervorragend funktioniert, sollte doch auch in Stuttgart möglich sein, oder nicht? Soweit mein erster Eindruck als Berliner Außenseiter.
„TurmForum Stuttgart 21“ ist rot auf weiß zu lesen. Auf der Seite zum Schlossgarten hin befindet sich die Stelle, an der man sich über das Projekt Stuttgart 21 informieren kann. „Ihre Fragen liegen uns am Herzen.“ Vor Ort gibt es sogar ein „Bistro 21“. Der eine oder andere nutzt die Gelegenheit und steckt sich ein paar Broschüren ein.
Nun ein Blick in die großen Empfangssäle des Bahnhofs. „Unter Wilhelm II. während des Krieges in den Jahren 1914 bis 1917 erbaut“, ist an einer steinernen Fassade eindrucksvoll zu lesen. An der Außenwand steht „Reichsbahn seit 1920“. Darunter ein Reichsadler. Keine Frage, dieser Bahnhof hat Geschichte.
Und wo wurde bereits etwas abgerissen? Entgegengesetzt zum TurmForum, am anderen Ende des Hauptgebäudes, ist zu sehen, wo Bagger und Abrissbirne sich bereits vorgefressen haben. Nicht allzu viel ist entfernt worden, aber immerhin. Eine entstandene Freifläche, ein paar offengelegte Keller und ein riesiges Werbeplakat. „Der neue Stuttgarter Hauptbahnhof – Schneller, komfortabler, zukunftsorientiert“. Ein Bauzaun umgibt diese Baustelle. Der Bauzaun. Hunderte Zettel, Pappen, Aufkleber und selbst gemalte Zeichnungen zieren diesen Bauzaun. Das Ganze hat etwas von Berliner Mauer. Der Bauzaun wird zu einer echten Touristenattraktion. All die Zeichen des Proteste dokumentieren die Geschehnisse von 2010 und 2011. Vor Mappus, nach Mappus. Die Wortwahl der Protestler ist deutlich: „Lügenpack!“, „Wer S21 liebt, hasst Stuttgart!“, „Schreckschraube mit Wendehals-Vorrichtung“. Gemeint ist Bundeskanzlerin Angela Merkel, die neben Mappus das meiste Fett abbekommt.
Bunte Laken wurden an den Bauzaun gespannt, Teppichklopfer wurden angebracht, unzählige Plüschtiere fristen zudem ihr Dasein bei Wind und Wetter. Das mit den Plüschtieren hat etwas Trauriges an sich. Es scheint, als läge man ein Kuscheltier auf das Grab eines verstorbenen Kindes. „Irrtum Herr Schmiedel! Auf S21 ruht nicht Gottes Segen. Bei S21 führt der Weg nach unten – geradewegs in die Hölle!“, hatte passenderweise jemand geschrieben.
„Kulturbanausen! Das vergessen wir euch nie! 25.08.2010“ Abrissmonster zermalmen die Grundmauern. Harsche Kritik auch am Polizeieinsatz vom 30. September 2010. „Stresstest jetzt! Lügenpack!“ Ein kleiner Teddy an der Spitze eines Astes. Dazu ein winziges Fähnchen. „K21 – oben bleiben!“
„Kapitalisten-Manager raus! Widerstand und Neugestaltung!“, „Der Trog bleibt gleich, nur die Schweine wechseln!“, „27. März 2011: 0190 Mappus: Wähl! Mich! Ab!“, „Mama, sind wir jetzt in Stuttgart? Nein! Ihr braucht aber nicht bei jedem Tunnel fragen!“
Immer weiter, immer mehr. Fotos vom Polizeieinsatz. Verletzte. Weinende Leute. Blumen. Aufkleber. Gebete. Zeichnungen. Kreuze. Puppen und weitere Plüschtiere. Bemerkenswert auch dieses Plakat: „Beide werden oben bleiben! Stuttgart – Kairo (Partnerstadt von Stuttgart), Magistrale der Gewalt gegen friedliche Demonstranten.“
Am Zugang zu S- und U-Bahn befindet sich eine Mahnwache, die zugleich Info-Stand der S21-Gegner, K21-Befürworter und Parkschützer ist.
Apropos Parkschützer. Leicht benommen auf Grund der zahlreichen Eindrücke ging es rüber in den Schlossgarten. Dort war ich äußerst überrascht, wie viele Zelte dort noch aufgebaut sind. In großen farbenfrohen Zeltgruppen wird dort dauergecampt. Zwischen uralten Kastanienbäumen haben zahlreiche Parkschützer ihr Domizil errichtet. Und auch hier hängen unzählige kleinere und größere Plüschtiere an den Baumstämmen.
„Fortschritt? Wohin schreiten wir? Beschleunigte Umwandlung von Ressourcen in Müll!?“, steht auf einem grünen gespannten Stoff geschrieben. „Komm in den totgesagten Park und schau...“, ist an anderer Stelle zu lesen.
Vor einem riesigen Baum eine Art Gabentisch mit Blumen, Bucheckern und Kastanien. Tücher, Zettel und Bändchen wurden am Baumstamm befestigt. Ein Hauch von Tibet und Nepal.
Am Rande des Parks wurde auf einer eingezäunten Baustelle etwas errichtet. Was genau das ist, erschließt sich einem Ortsfremden nicht auf Anhieb. Ich vermute, dass es hier um Grundwasser geht. Wasser – von ihm ist im Zuge der Bahnprojekte Stuttgart 21 und Stuttgart – Ulm immer wieder zu hören. Mineralquellen unter der Stadt. Nicht wenige befürchten, dass im Zuge der Bauarbeiten diese Gabe der Natur Schaden nehmen könnte.
Aufgestellt wurden am Rande des Schlossgartens ein paar Info-Tafeln zum Alternativprojekt K21. „Ja zum Kopfbahnhof!“ „Der Südflügel an den Parkterrassen – eine Vision.“ Ein paar Tafeln wurden zerstört und notdürftig zusammengeflickt. „Ist das die Sprache der S21-Befürworter?“, wurde auf einem blauen Zettel gefragt. „Wer diese Blätter immer wieder entfernt oder beschädigt, gesteht ein, dass er die Wahrheit nicht vertragen kann!“, wurde zudem auf einem roten Zettel gleich daneben angemerkt. „Wer keine Argumente hat, greift zur Gewalt“, fügte jemand hinzu.
Nach all den Eindrücken fühlte ich mich benommen. Etwas ziellos eierte ich bei 20 Grad und Sonne – es war wahrlich ein goldener Oktobertag – durch die Stuttgarter Innenstadt. Lust auf ein Eis oder einen Milchkaffee? Nicht wirklich. Ein rascher Abstecher zur Arena des VfB Stuttgart? Auch nicht. Ich verharrte noch ein wenig im Park. Stunden später saß ich im Flieger nach Berlin. Angekommen in Berlin-Tegel wirkt mit einem Mal wieder alles weit entfernt. Wenn ich jedoch das nächste Mal in den Nachrichten etwas über Stuttgart 21 höre, kann ich das Ganze ein wenig besser einordnen. Wenn auch nur ein bisschen...
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