Grotesker könnte es in einem Kaufhaus nicht aussehen. Das Szenario, das sich auf den vier Etagen des Textilienkaufhauses in Berlin-Neukölln bietet, spottet jeder Beschreibung. Das große Kaufhaus, in dem es Kleidung für Jung und Alt gibt, schließt Anfang Januar 2012 seine Pforten. Gleich gegenüber in der Karl-Marx-Straße existiert ein neuer Store, somit kann der 60er-Jahre-Bau nun getrost geschlossen werden. Räumungsverkauf. Alles muss raus. Und das zum halben Preis.
Der Kunde als wilde Sau: Berliner Schnäppchenjagd zum Jahresende
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Schnäppchen. Alles zu 50 Prozent reduziert. Kein Wunder, dass dort gerade täglich von 10 Uhr bis 20 Uhr eine echte Schlacht ausgetragen wird. Bereits um halb zehn sammelten sich heute die ersten Schnäppchenjäger vor dem Eingang. Drinnen wurden im Erdgeschoss noch die gröbsten Schäden beseitigt. Wenigstens im Erdgeschoss sollte der Anblick am frühen Vormittag nicht einer Katastrophe gleichen. In den drei Stockwerken höher war bereits Hopfen und Malz verloren. Die Eröffnungsschlacht wurde bereits am Tag zuvor ausgefochten. Die besten Stücke wurden bereits erbeutet, hunderte, ja tausende Kleidungsstücke fanden ihre neuen Besitzer.
Die Schlacht zu Beginn des Räumungsverkaufs hatte Spuren hinterlassen. Und was für welche. Zwischen den Regalen sah es aus, als hätte die Detonationswelle einer heftigen Bombe gewütet. Gewütet – das haben die Kunden. Zerbrochene Kleiderbügel, Kleiderhaufen auf dem Boden. Fußspuren auf den Kleidungsstücken. Ein heilloses Durcheinander in den Reihen und Gängen. Abgerissene Preisschilder. Besonders die Unterwäscheabteilung hatte es extrem hart getroffen. Männerslips und Boxershorts waren nicht mehr zu finden, die restlichen BHs bildeten nur noch ein Knäuel. Ja, hier wütete wohl die Sau. Wenn der Mensch zum Tier wird, existieren keine Grenzen mehr. Gerät der Mob erst einmal in richtige Kauf- und Sammelwut, dann gibt es kein Halten. Verhaltensregeln werden über den Jordan geworfen. Wirft der eine das Zeug achtlos in die Ecke, tut es der andere mit noch mehr Schmackes.
Als um zehn Uhr die Tore geöffnet wurden, strömen die Jäger ins Erdgeschoss. Zielstrebig schiebt sich die Meute in Richtung Rolltreppe. Jeder möchte als erster ganz oben ankommen und schauen, was die Käuferrotte am Vortag übrig ließ.
Bock zum Einkaufen? Die vergeht jedem Kunden, der noch halbwegs normal tickt. In manchen Ecken erscheint es, als wühle man auf der Müllhalde. Kleidung, die von ordentlicher Qualität ist, erscheint ganz plötzlich unattraktiv und billig. Selbst die extrem niedrigen Preise locken nicht mehr so recht. Mit dem Kinderwagen schiebe ich mich durch die Reihen. Man kann sich denken, dass ich nicht der einzige mit einem Buggy bzw. Kinderwagen bin. Ständig verklemmen sich die Räder. Die zerbrochenen Kleiderbügel verhaken sich zwischen ihnen.
Um 16 Uhr noch einmal Ortstermin. Das Schlimmste ist vorbei. Langsam aber sicher erlischt die heiße Kaufwut der Kunden. Manche Ecken sind bereits komplett leer. Die Angestellten demontieren die ersten Regale. Der Anblick wird immer trauriger. Einzeln stehende Stiefel, verschmutzte Kinder-Shirts auf dem Boden, ein Schlüpfer hängt auf halb neun an der Stange. Na, welch ein Wortspiel. Passt aber.
Noch einmal durch alle Etagen. Die Kinder- und Babyabteilung ist bereits sauber ausgeräumt. So, als hätten die Aasgeier bereits die Kleiderstangen abgenagt. Na fein, runter ins Erdgeschoss. Dort wühlen Männer um die 50 aufgeregt im Jackenhaufen. Da geht doch noch was. Oder doch ein Fleecepullover? Die letzten Neugierigen strömen ins Kaufhaus. Teils interessiert, teils sichtlich angewidert. Empörung bei älteren Damen. Hm ja, aber auch jene Generation hatte munter in den Regalen gewütet. Das war schließlich nicht zu übersehen. Woran das Ganze erinnert? An Plünderungen, an besagte Bombenanschläge, an einen Panikausbruch oder an Panikkäufe. So, als wenn es kein morgen geben würde. Na, dann allen einen guten Rutsch ins Jahr 2012...
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