Was geschah vor dem Mauerfall 1989? Ein Hausaufgabenheft gibt Auskunft!

MB Updated
Was geschah vor dem Mauerfall 1989? Ein Hausaufgabenheft gibt Auskunft!

DDR VisumWas hat man eigentlich am 09. November 1989 gemacht, bevor am Abend auf dem Fernsehbildschirm die historische Botschaft übermittelt wurde? Eine gute Frage! Genauso gut könnte man fragen, was am 23. Mai 1985 oder am 04. Februar 1987 auf dem Programm stand. Woher kann man das wissen, wenn nicht ein Erlebnis herausragte?! Etwas Licht ins Dunkel können Tagebücher oder ein Hausaufgabenheft bringen. In diesem Fall sind es die orangefarbenen bzw. gelblichen Hausaufgabenhefte aus der Zeit an der Polytechnischen Oberschule, die Auskunft geben. Nicht lückenlos, aber für ein paar Denkanstöße genügen die gekritzelten Einträge.

Also fix den Stapel Hausaufgabenhefte hervorgeholt aus der Kiste. Vorhanden sind noch die Hefte von der 5. bis 10. Klasse (1985 bis 1990) an der 10. POS in Mahlsdorf am östlichen Stadtrand von Ostberlin. Eine Zeitreise in die DDR. Eine Reise im Geiste, die sich anfühlt, als führe sie zurück in ein anderes Leben. Deutsche Demokratische Republik? Schulzeit? Sozialismus? Republik-Geburtstag am 07. Oktober? Fahnenappelle? Meine Güte – all dies wirkt inzwischen skurril und vor allen Dingen fern. Sehr, sehr fern!

HA-HeftDie auf dem Tisch liegenden leicht zerfledderten Hausaufgabenhefte riechen nach Altpapier, nach Schweiß und nach – ja, wie kann man das nur nennen? Wehmut? Da liegen die Hefte. Damals nicht sonderlich gemocht, da in ihnen auch Verwarnungen und Tadel eingetragen wurden. Heute sind sie ein persönliches Zeitdokument, da in ihnen auch private Notizen gemacht wurden. So steht am Donnerstag 14.09.1989 zwischen den Einträgen „D: Wörter des Klassengegners Manipulation“ und „Rus: Seite 16 Vokabeln, Seite 11 Sachverhalte schriftlich“ kurz und knapp: „Max Headroom Poster“. Es mussten wieder Bravo-Poster getauscht bzw. verkauft worden sein. Allerdings kann ich mich nicht an Max Headroom erinnern, vielmehr blieben die Zweiseiten-, Vierseiten- und Achtseitenposter von Madonna, Sabrina, Mandy Smith, Michael Jackson, The Cure, Motörhead und Depeche Mode hängen. Zehn bis 20 DDR-Mark konnte ein frisch entheftetes Bravo-Poster auf dem Schulhof einbringen. Von diesem Geld konnte man einen ganzen Monat lang Streuselschnecken und Amerikaner kaufen, schließlich kosteten diese damals nur 20 bzw. 11 Pfennige.

HA-HeftApropos Preise. Auf dem Hausaufgabenheft ist neben „Hermes Art.-Nr. 573711015“ der einheitliche Verkaufspreis zu lesen: „EVP 0,65 M“. Blättert man durch die Hefte, kommen als erstes die Stundenpläne und die Liste der Lehrer zum Vorschein. Es folgt die Seite mit dem Vorsitzenden des Elternbeirates, dem Stellvertretenden Vorsitzenden des Elternbeirates und den Mitgliedern des Klassenelternaktivs. In meinem Fall blieb diese Seite stets blanko. Nach drei Termin-Seiten (Ferien, Ferienveranstaltungen, AGs, Übungs- und Trainingsgruppen, Leistungsvergleiche, Wettstreite, Wanderungen, Exkursionen) folgt der eigentliche Teil: „Hausaufgaben der Woche“. Falls oben das „vom... bis...“ ordentlich eingetragen wurde, ist es leicht, das Schuljahr nachzuvollziehen. Ich war jedoch meist zu faul, oben die Daten zu notieren. Des Öfteren hatte deshalb ein Lehrer oben zwei rote Fragezeichen eingetragen. 

MarcoBevor es zum Tag des Mauerfalls und der Grenzöffnung geht, ein rascher Querblick in die verschiedenen Hefte. Die Suche nach den echten Perlen. Das Heft der neunten Klasse. Die Schulwoche ging von Montag bis Samstag. An den letzten beiden Tagen Englisch in der sogenannten nullten Stunde. Produktive Arbeit (PA) und Einführung in die sozialistische Produktion (ESP) beim VEB Landbau am Montag. Und schau an: Am Dienstag um 15:30 Uhr stand ein Informatik-Kurs auf dem Programm. Lernen und arbeiten am KC85 aus dem Hause VEB Mikroelektronik „Wilhelm Pieck“ Mühlhausen. Blättert man durch die Seiten, so sind immer wieder ähnliche Einträge zu finden. „Geo: Seite 64“, „Ma: Seite 103 Nr. 3, Seite 121 Nr. 8“, „Rus: Vokabeln lernen!“, „Mus: Lied wiederholen!“, „Freitag BZA-Lauf“, „4. Stunde Zahnarzt“, „Gesch: Vortrag Deutschlandpolitik“, „Badeerlaubnis“. Am 23. März 1989 ragt ein Eintrag hervor: „Für Sabrina Bros-Poster mitbringen! Für Michael Jackson Aufkleber“. 

10. POSAm Ende des Schuljahres wurde es farbenfroh. „Today we´ll get the Wisch! Ha ha!“ Gemeint war wohl das Zeugnis. Zudem wurden Planungen für die Ferien gemacht. Eine gemalte Ostseeküste. Dazu der Kommentar „Trip to Stettin!“ Fein säuberlich wurde außerdem gezeichnet und umrahmt: „Zwei Monate frei von diesen scheußlichen, widerlichen Wesen!“ Konnte man machen, denn nach Abschluss des Schuljahres nahm kein Lehrer mehr dieses Heft in die Hand. Neues Schuljahr, neues HA-Heft. Unter „Mitteilungen“ am Ende des 9. Klasse-Heftes ein merkwürdiger Eintrag: „Welche Mittel setzt der Imperialismus ein, um die Bevölkerung geistig zu beeinflussen?“ Eine Projektarbeit? Die Aufgabenstellung für eine geplante Wandzeitung? Diese Frage kann nicht beantwortet werden.

Neues ForumDeshalb der Sprung in die 10. Klasse. Der bewegte Herbst 1989 stand vor der Tür. Am Donnerstag, den 01. September 1989 begann das Schuljahr mit einem morgendlichen Fahnenappell. Dann folgte der Schulalltag. Wie so oft wurden die Einträge im Heft anfangs ordentlich geschrieben, ja fast gemalt. Später wurde daraus ein wüstes Gekritzel. In Geographie standen damals die Handelsbeziehungen des RGW mit den Entwicklungsländern an der Tagesordnung. Am 22. September 1989 ging es um 13:30 Uhr mit der Schulklasse in das Zeiss-Planetarium an der Prenzlauer Allee. Sport und Englisch fielen dafür aus. Am 03. Oktober 1989 heißt es im Heft im Fach Geschichte: „Wandzeitung anfertigen. 40 Jahre DDR. Schwierigkeiten.“ Ich nahm damals die Aufgabenstellung wörtlich und bastelte eine gepfefferte Wandzeitung, die nur so vor Kritik gestrotzt hatte. Nach der Stunde durfte ich mit der Lehrerin ein Vier-Augen-Gespräch führen. 

WehrkundeDas System wankte, doch unerschrocken wurde am 07. Oktober 1989 der Fahnenappell durchgezogen. Das Thema im Fach Geschichte war mittlerweile ein anderes: „Koloniale Entwicklung in Ägypten, Algerien und Kongo.“ Wie die Lehrerin damals diesen thematischen Sprung geschafft hatte, bleibt ein Rätsel. Am 17. Oktober 1989 folgte während des Wehrunterrichtes eine Untersuchung bei der Schulärztin. Ein Tag später wurde die Kernkraft thematisiert. Ein Passbild sollte auch mitgebracht werden. Das Ganze liest sich wie eine Akte im Geheimdepot. Über das Wochenende musste eine Text von Wilhelm Ostwald zum Thema Düngemittel gelesen werden. In der Woche darauf ist bei Geographie zu lesen: „Standorte des Schwermaschinenbaus aufsuchen!“ 

Go WestMit dem 06. November 1989 ging es in die neue Schulwoche. Als ich mit meinen Schulkameraden am Montagmorgen vier Stunden bei ESP saß und mich fragte, was dieser ganze Scheiß wohl soll, ahnte noch niemand, dass sich vier Tage später die ganze Welt ändern würde. Am Dienstag, den 07. November, wurde eine liebevolles „Claudia“ eingetragen. Am Mittwoch sollte im Russischbuch die Aufgabe Nummer 18 auf Seite 35 abgearbeitet werden. Die Spalten des 09. Novembers sind noch gefüllt wie immer. Russisch-Vokabeln lernen, Mathe-Aufgabe lösen, in Astronomie einen Text lesen. Am kommenden Tag schaut es anders aus. Sämtliche Aufgaben wurden durchgestrichen. Stattdessen wurde mit Bleistift nur ein einziges Wort notiert: „West!“ Am Samstag folgte ein „no homework“. Die Mauer war gefallen. Am Freitag, den 10. November 1989 fiel die Schule aus. Fast alle Schüler düsten in den Westteil der Stadt. Bahnhof Zoo. Süßigkeiten kaufen im Ullrich Markt. Gedächtniskirche. Das folgerichtige Programm. 

VerwarnungInteressant indes, wie am Montag, den 13. November 1989, die Schule an der POS weiterging. Scheinbar mit dem üblichen Programm. Was blieb den Lehrern auch anderes übrig? „Ma: S. 64 Nr. 2a“, „Ma: Siehe Hefter!“, „Engl: Vokabeln! Dialog!“, „Gesch: „Kuba! Seiten 112 – 117 lesen!“, „Ch: Liebich. Leben + Wirken! Düngemittel“, „Passbilder machen lassen!“, „Geo: Ruhrgebiet – Text vorbereiten!“, „Astr: Uranus, Neptun“, „Wimpel für Stefan P. mitbringen!“ Das Heft endet am 09. Februar 1990. Ich hatte für das letzte Schulhalbjahr kurzerhand ein neues Hausaufgabenheft angelegt. Am Ende des alten Heftes prangte ein Totenkopf mit einer furchteinflößenden Ankündigung: „4. Mai 1990. Russisch Prüfung schriftlich!“ In der Tat. Diese Prüfung muss schrecklich gewesen sein. Aber! Wir schreiben den 09. November 2012. Hurra, hurra, wir leben noch! 

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