Ortstermin am S-Bahnhof Mehrower Allee in Berlin-Marzahn. Kamera und Notizblock eingepackt und los. Die Gelegenheit genutzt und mit offenem Auge in den Nordosten der Stadt gedüst. Los geht´s am S-Bahnhof Neukölln. Alles wie immer. Geruch von billigem Bier. Und richtig, der Typ vor mir lässt beim Treppensteigen in der rechten Hand eine Flasche lässig baumeln. Auch auf dem Bahnsteig grüßt das tägliche Murmeltier. „Wegen Schäden am Fahrzeug wird die S41 um 9:22 Uhr heute leider ausfallen.“ „Ist doch nicht mal Schnee“, mault ein Wartender. Richtig, spielt bei der Berliner S-Bahn auch keine Rolle mehr. Im Normalbetrieb verkehrt bei der nix mehr!
Auf nach Marzahn! Ein x-beliebiger Vormittag im Osten Berlins
Ein deutliches Zeichen dafür: In der Gegenrichtung rollt ein Zug der Linie S42 ein. Alte Baureihe der einst neuen Westberliner S-Bahn der 80er Jahre. Erinnerungen an den Herbst 1989 kommen hoch. Aber lassen wir das! Draußen nieselt es. Nasskalter Januartag. Trüber könnte das Wetter nicht sein. Kurz vor Treptow grüßt ein „Ultras Union“ von einer Bahnunterführung. Wenige Meter weiter an einer Ruine ein trockenes: „Fickt euch!“ Im Hintergrund qualmt einer der Schornsteine an der Rummelsburger Bucht. Am Bahnhof Ostkreuz werden indes Betonblöcke gesetzt. Und auch die S7 in Richtung Ahrensfelde lässt nicht lange auf sich warten. Mit blauen Zetteln an den Türen von zwei Waggons. „Achtung! Nicht geheizt!“ Auf der Gegenseite wartet die S3 in Richtung Erkner. Dieses Mal eine aus DDR-Zeiten stammende Baureihe, die wieder reaktiviert und aufgemöbelt wurde.
Mit der Linie S7 geht es gen Osten. Am Bahnhof Lichtenberg überrascht linke Hand der riesige Klotz. Nach 20 Jahren Stillstand wurde dieser kürzlich saniert. Im Vordergrund steht noch immer der Reichsbahn-Sonderzug, der in einigen Kinoklassikern als Requisite zu sehen war. Weiter geht´s nach Friedrichsfelde Ost, wo Hochspannungsleitungen die Gleise kreuzen. Hier biegen die S75 in Richtung Wartenberg und die S7 in Richtung Ahrensfelde nach Nordosten ab. Aber hier beginnt ein etwas anderes Berlin. „Teuer hat hier Hausverbot“. Mit diesem Slogan wirbt ein dortiges Einrichtungshaus. Die Linien gabeln sich hinter Springpfuhl. Ab nun fehlen auf den Bahnsteigen die elektronischen Anzeigetafeln. Die Zeit scheint stehengeblieben. Viel hat sich auf den kommenden S-Bahnhöfen seit DDR-Zeiten nicht mehr getan.
Hinter dem Bahnhof Raoul-Wallenberg-Straße ist die S-Bahn zu dieser Zeit ziemlich leer. Auf der einen Seite sanierte Plattenbauten. Auf der anderen Seite ein Friedhof, Brachflächen, Industrieanlagen und ein Zirkus neben eine Ruine und Gestrüpp. Nächste Station: Mehrower Allee. Das erste Ziel der kleinen Tour ist erreicht. „Ein kluger Kopf weiß alles zu benutzen.“ Dieser Shakespeare-Spruch begrüßt den überraschten Ankömmling am Ausgang. Eine später verlegte Stromleitung verdeckt jedoch das „alles“. Des Weiteren schmücken Ritter, Drachen, diverse Wappen und weitere Zitate die 80er-Jahre-Unterführung bzw. den Aufgang. „RBC Berlin. Hier brennt der Ball.“ Aufkleber zieren den Handlauf.
Trotz Nieselregen wird ein kleiner Spaziergang in Angriff genommen. Ein Freund zeigt mir die dortigen „Sehenswürdigkeiten“. Zu dieser Jahreszeit erscheint gegen 10 Uhr vormittags die Gegend als echte Katastrophe. Trostloser und lebloser kann ein Stadtbezirk kaum wirken – und das trotz der durchaus aufwändig sanierten Wohnblocks. Was fehlt, sind gastronomische Einrichtungen, kleine Geschäfte und sonstige Dinge, die in Altbauquartieren einen Kiez ausmachen. An einem Punkt gebündelt – in Form einer kleinen Passage – findet man einen Supermarkt und ein paar Läden. Auch eine Kombination aus Fleischerei und Bäcker ist zu finden. Filterkaffee und Gebäck zu guten Preisen. Keine Frage, ein Milchkaffee ist hier ein Kaffee im Pappbecher mit einem Schuss H-Milch. Erwähnenswert sind die Pfannkuchen (in anderen Landesteilen auch Berliner genannt). Äußerlich und geschmacklich ähneln diese sehr stark jenen der Backstuben in Warschau, Poznan, Prag und Budapest. Etwas kleiner, fettiger, feuchter und nicht so wohlgeformt. Dafür jedoch umso leckerer! Beim Fleischerstand nebenan gibt´s gleich ein ganzes Repertoire an warmen Speisen, die der Kunde sich selbst zusammenstellen kann. Nicht wenige ältere Bürger schauen vorbei und lassen sich was einpacken. Kartoffeln 1 Euro, Bratkartoffeln 1,20 Euro, Sauerkraut 1 Euro, Bratwurst 1 Euro. Da spart sich manch einer – der noch gut zu Fuß ist – den Lieferservice der allgemein bekannten Caterer.
Noch einen Kaffee und dann ab zum Bürgerpark, der an der Raoul-Wallenberg-Straße endet. Im Sommer wird diese Grünanlage mit der kleinen Erhebung durchaus nett sein. Allerdings möchte man auch nicht wissen, wer dort zu den Abendstunden sein Unwesen treibt. „Und wer weiß, wie viele Kinder hier schon gezeugt wurden...“, merkte mein ortskundiger Begleiter an. Wohl wahr, wohl wahr. Apropos: Die Quote der kinderkriegenden Teenager ist hier in Marzahn so hoch wie kaum woanders in Europa. Gefühlt sowieso.
Noch einen Kaffee! Bei solch einem unangenehmen Wetter muss man einfach nachlegen. Viele vernünftige Möglichkeiten bleiben nicht. Ein Betriebsrestaurant wird spontan aufgesucht. Den Filterkaffee kann man sich dort einfach selbst eingießen. Herzallerliebst auch die schlichte Einrichtung und der Blick nach draußen. Nicht dass sich lustig gemacht werden soll. Vielmehr zeigt sich wieder einmal, wie trostlos eine Großstadt im Winter wirken kann. Dass die dortigen Bahnhöfe nicht viel dazu beitragen, das Ganze erträglicher zu machen, zeigt sich noch einmal auf der Rückfahrt. So spottet die komplett entglaste Überführung am Bahnhof Marzahn wirklich jeder Beschreibung! Welch ein Gegensatz zum dortigen Einkaufszentrum Eastgate! Die Überführung erinnert an die entlegendsten Provinzbahnhöfe in Russland oder der Ukraine. Selbst im Umland von Vladivostok sehen die rostigen Brücken nicht trauriger aus.
Weiterfahren zum Bahnhof Poelchaustraße. Dort gibt es ein aus DDR-Zeiten stammendes Mosaik zu sehen. Weltzeituhr, Rotes Rathaus, ein S-Bahntriebwagen der Deutschen Reichsbahn und weitere markante Dinge aus längst oder zumindest fast vergessener Zeit. Obwohl – wie vorhin erwähnt – auf Grund der hausgemachten Kapazitätsdefizite die DDR-S-Bahnen teilweise noch immer verkehren. Am Bahnhof Springpfuhl wird man schnell auf die sehr hohen Plattenbauten aufmerksam. 20 Stockwerke und mehr haben die dortigen Blocks. Im Vordergrund hängt eine Werbung in Fetzen von der hölzernen Tafel. Auf der Fahrt nach Ostkreuz gönne ich mir noch einen weiteren Zwischenstopp am S-Bahnhof Friedrichsfelde Ost. Bereits vor einigen Tagen fiel mir dort eine kleine Ladenpassage ins Auge.
Verlässt man das Bahnhofsgebäude wird man zuerst von zwei Imbiss-Ständen begrüßt. „Curry & Pommes“. „Chinapfanne“. Links daneben ein Stand aus Planen mit diversen Verkaufsartikeln. Passiert man die dortige Busendhaltestelle kommt man zur besagten Passage, die ihren ganz eigenen Charme hat. Ich fühle mich nach Osteuropa versetzt. Nicht, dass mich das stört. Ich liebe das Marode, das Muffige, das Skurrile. Kein Wunder, dass es mich einst mit der Transsib bis nach Irkutsk und Vladivostok verschlagen hatte. Geruch und Erscheinungsbild der Passage lassen mich an Polen der 90er Jahre denken. Ein Imbiss, ein Zeitungsgeschäft, ein Bäcker, eine Änderungsschneiderei, ein Klamottengeschäft. Dazu ein wenig Leerstand. Natürlich ist das Ganze auch traurig, ja geradezu desaströs. Natürlich wirkt es schräg, wenn als „Feinschmecker-Angebot“ alle Körnerbrötchen zu 35 Cent das Stück angeboten werden. Alle Körnerbrote für 1,80 Euro.
„Wir sind ein Berliner“, heißt es auf einer Werbung draußen am Rand der Bushaltestelle. Im Hintergrund die Bahngleise, Gestrüpp und ein qualmender aus DDR-Zeiten stammender Schornstein. „Starke Partner für ein starkes Berlin“, heißt es weiter unten. Das Plakat wirkt völlig fehl am Platze. Starkes Berlin? Nach dem S-Bahn-Desaster, dem Großflughafen-Desaster und all den anderen Desastern verlässt einen langsam aber sicher der Glaube an ein starkes Berlin. Bei einem Ausflug nach Marzahn wird dieses mulmige Gefühl noch weiter gestärkt...
Fotos: Marco Bertram
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