20 Jahre sind mal eben ins Land gegangen. 20 Jahre! Verrückt, was alles inzwischen passiert ist. Privat. In unserem Land. Auf der ganzen Welt. Im Sommer 2003 wurde ich 30 Jahre alt, studierte an der Humboldt Universität zu Berlin Germanistische Linguistik und Geographie, jobbte bei der Tusma, lebte zusammen mit einer Kroatin in Berlin-Neukölln und genoss in der Freizeit das Leben in vollen Zügen. Der Schiffbruch auf der stürmischen Nordsee im November 1999 lag bereits über drei Jahre zurück, und in Berlin war noch der unbeschwerte Hauch der 90er zu spüren. Brunchen für schlappe fünf Euro im Friedrichshain am Sonntagvormittag, literweise Milchkaffee und lange Abende in den Kneipen der Stadt. Wenngleich das Geld als Student bereits damals stets knapp war, fühlte sich das finanzielle Korsett keinesfalls zu arg an. Touren nach Madeira, Kroatien, Lyon, in die Hohe Tatra und zum Jakobsweg waren zu Beginn des Jahrtausends immer drin. Im Sommer 2003 sollte dann das Berufliche mit dem Privaten in Form eines einmaligen Projektes verknüpft werden. Wie das Funktionieren könnte, hatte ich bereits auf meinen beiden Fahrten mit der Transsibirischen und Transmongolischen Eisenbahn gelernt, als nach den Reisen meine konzipierten Diavorträge durchaus gefragt waren.
20 Jahre danach: Erneute Spurensuche am einstigen Grenzstreifen
Nachdem im Juni 2001 bereits eine fünftägige Wanderung auf dem einstigen Berliner Mauerstreifen erfolgte, wollten Karsten und ich uns an ein größeres Projekt wagen. Über 1.000 Kilometer zu Fuß entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze von Süd nach Nord. Von Prex nach Priwall. Mitgenommen und dokumentiert werden sollten all die Grenzmuseen, Gedenkstätten und Spuren auf dem einstigen Grenzstreifen. Mit Zelt und Schlafsack und reichlich Wasser im Gepäck arbeiteten wir uns im heißen, sonnigen Jahrhundertsommer 2003 Kilometer für Kilometer voran. Vorbei am einst geteilten Dorf Mödlareuth, vorbei am Point Alpha, an Teistungen, an Tettenborn und am Brocken.
Angekommen in Marienborn, legten wir ein mehrtägige Pause ein, um in Berlin im August 2003 meinen 30. Geburtstag in einem brasilianischen Restaurant am Mehringdamm in großer Runde zu feiern. Hey, hoch die Tassen! Die Ostsee rief, auch die restliche Strecke von Marienborn bis zur Ostseeküste bei Lübeck Travemünde sollte doch zu schaffen sein. Folgend ein Auszug aus dem Tagebuch vom Sommer 2003:
Als wir ein paar Tage später wieder in Marienborn starteten, bemerkte man sofort, dass der Hochsommer vorbei war. Licht, Atmosphäre und Luft bescherten ein leicht melancholisches, vorherbstliches Gefühl. An gleicher Stelle fertigten wir vor dem alten Bahnhofsgebäude ein Vergleichsfoto für später an. Die Rucksäcke waren wieder schwerer und praller gefüllt. Wohlweislich hatte ich wieder das größere, wetterfeste Zelt und einen Pullover mehr mitgenommen. Mit dabei war auch eine rote, über den Knien abgeschnittene Jeans, die auf früheren Reise Mitte und Ende der 90er Jahre mit auf Reisen war. Nachdem ich rund sieben Kilo abgenommen hatte, passte sie wieder perfekt, und ich brauchte für sie sogar einen Gürtel. Der rote Stoff war bereits von der Sonne und vom häufigen Waschen abgeblasst und mürbe, doch ich freue mich sehr, das gute, alte Stück auf einer Reise mal wieder tragen zu können. Ich verband mit der Hose schöne Erinnerungen an Bergtouren quer durch Brasilien und Irland sowie Segeltouren auf der Ostsee nach Schweden und Dänemark. Nun sollte die Wanderung quer durch Norddeutschland hinzukommen.
Wir folgten der Straße nach Morsleben, um dann weiter in Richtung Weferlingen zu wandern. Die Straße überquerte die Autobahn 2, und in westlicher Richtung konnten wir die Gebäude und Lichtmasten der Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn sehen. Dort wollten wir zu einem späteren Zeitpunkt einmal mit dem Auto hinfahren. Die Gedenkstätte befindet sich auf dem Gelände der einstigen Grenzübergangsstelle Helmstedt-Marienborn, welche die am häufigsten frequentierte außerhalb Berlins war. Nach der Fertigstellung im Jahre 1974 wurde hier der Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik abgefertigt.
Juli 2023. Angekommen am Bahnhof von Marienborn, an dem sich in den letzten 20 Jahren nicht wirklich verändert hat. Statt des großen Treckingrucksacks hatte ich nun einen kleinen Rucksack dabei. Als Tagestour sollte es die knapp 40 Kilometer von Marienborn bis Oebisfelde gehen. Veranschlagt hatte ich für die Strecke zwischen sieben und acht Stunden, und ich wollte exakt die gleiche Route nehmen wie im August 2003. Mit mir stiegen reichlich Kinder und Jugendliche aus, die eine Radtour zur Gedenkstätte Marienborn machen wollten. Ihre Mietfahrräder wurden von einem LKW abgeladen und standen somit bereit.
Ich lief die Straße nach Morsleben entlang, ließ die Fahrrad-Truppe an mir vorbeiziehen und überquerte die A2. Angekommen in Morsleben staunte ich nicht schlecht, als ich sah, dass ein Wachschutz den Zaun des einstigen DDR-Endlagers ablief und skeptisch zu mir herüberschaute. Im Gegensatz zu damals weckte Morsleben an diesem Tag eher nicht mein Interesse. Vielmehr freute ich mich auf den romantischen Abschnitt der Strecke. Ich hatte das Ganze gar nicht mehr so recht auf dem Schirm. Und erst nachdem ich den Eintrag im Tagebuch gelesen hatte, wurde mir deutlich, dass mich nicht nur die platte Ödnis der Börde empfangen würde:
Parallel dem Grenzverlauf folgten wir der Straße der Romanik, die sich hinter Beendorf als wirklich bemerkenswert schöne Straße entpuppte. Karsten und ich fühlten uns beim Anblick der der Landschaft nach Irland oder Nordspanien versetzt. Die Straße war schmal und folgte schlängelnd der landschaftlichen Beschaffenheit von einem Dorf zum nächsten. Rinder- und Schafherden grasten auf den sattgrünen Wiesen, und alte Kirchturmspitzen erhoben sich in der Ferne. Baumgruppen, Büsche, Mäuerchen und leichte Erhebungen sorgten für landschaftliche Abwechslung.
Im Ortszentrum von Weferlingen warb ein an einem Laternenmast befestigtes Plakat für eine Musik-Band, die man getrost auch als Musik-Dions aus DDR-Zeiten bezeichnen kann. Die Puhdys kommen – 14. September um 18 Uhr in Helmstedt in der Open Air Arena bei OBI unmittelbar an der B244. Fünf ältere Herren mit Hut und Sonnenbrille zeigten mit dem Zeigefinger auf uns und wurden vom nachträglich aufgeleimten Terminblatt fast verdeckt.
Interessant war auch ein kleines Haus auf einem Privatgrundstück, das früher ein Geschäft gewesen sein musste. Über den Fenstern hingen noch ein paar blaue Buchstaben auf weiß-grau gestreiftem Untergrund. -UFSSTÄTT- Vorn und hinten fehlte etwas. Es war eine nette Aufgabe zum Grübeln, was das wohl mal hieß.
Gegenüber hatte jemand Grenzzaunfelder aus Streckmetall für seinen Gartenzaun verwendet. Damit diese Zaunfelder dem vorbeigehenden Spaziergänger möglicherweise nicht so übel aufstoßen, hatte der Besitzer kurzerhand ein paar Tiersilhouetten aufgemalt. Graue Wildschweine, Hirsche, Rehe und Hasen auf rostig braunem Untergrund vor einer Hecke aus Edelfichten.
Am Ortsausgang lag zur linken ein dreistöckiges Gebäude, das einst von den Grenztruppen als Unterkunft und Verwaltungsgebäude genutzt wurde. Mittlerweile war es ein Heim für Asylbewerber, und an jedem Fenster hing mindestens eine Satellitenschüssel. An einem Seitenfenster hatte es jemand tatsächlich geschafft, gleich drei Schüsseln zu montieren, die kurioserweise alle in die gleiche Himmelsrichtung zeigten.
Hinter Everingen stießen wir auf den Grenzstreifen. Obwohl wir erst gegen 15 Uhr in Marienborn gestartet sind, hatten wir gut 20 Kilometer zurückgelegt. Zufrieden mit der Leistung suchten wir abseits der kaum befahrenen Landstraße, die nach Lokstedt führte, eine geeignete Stelle, an der wir das Zelt aufbauen konnten.
Der Abschnitt von Beendorf über Schwanefeld und Walbeck nach Weferlingen wurde sogar noch weitaus schöner, als ich es in Erinnerung hatte. Ich freute mich überaus, als ich kurz vor Schwanefeld den Fluss Aller überquerte, ist doch meine jetzige Partnerin in einer Ortschaft an der Aller - allerdings etliche Klometer weiter nordwestlich - aufgewachsen. Die Aller sollte mich fast den ganzen Tag begleiten. Auch das hatte ich gar nicht mehr in Erinnerung.
Wie damals im Sommer 2003 fühlte ich mich beim Wandern entlang der Landstraße an Irland und Galizien erinnert. Sanfte Hügel, weite Landschaften, enge kurvige Straßen in den Ortschaften - im Kopf hatte ich den wunderschönen Song „Dreams“ der irischen Band The Cranberries. Das absolute Highlight des Tages war der Ottonen-Ort Walbeck, der bereits 930 gegründet wurde. Damals nicht gesehen hatten wir die Ruine der Stiftskirche, die sich auf einem Hügel nahe der Hauptstraße befindet. Ich folgte einem Weg und erreichte die überaus sehenswerte Ruine, deren Grundmauern weitgehend erhalten blieben. Die auf einem Kalksteinmassiv befindliche Stiftskirche wurde ab 942 erbaut, und fertiggestellt wurde der ursprüngliche Bau bereits vor dem Jahre 964. In den Jahren 1000 und 1100 wurde der Bau erweitert, nach einer zwischenzeitlichen Zerstörung wurde sie im 13. Jahrhundert restauriert.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich die Ruine der Kirche in der Sperrzone der deutsch-deutschen Grenze. Aufgrund dieser Lage war die Ruine unzugänglich, allerdings schützte die besondere Lage im Sperrgebiet die Ruine vor weiteren Beschädigungen. Ab 1998 erfolgte eine erneute Restaurierung der Grundmauern, und aktuell ist die Ruine frei zugänglich.
Ich war schwer beeindruckt, als ich durch das Kirchenschiff lief und an den Mauern empor blickte. Vom Hügel aus hat man zudem einen wunderbaren Blick auf die im Allertal gelegene Ortschaft Walbeck. Hier muss ich mal mit meiner Freundin hin, schoss es durch meinen Kopf. Gern könnte es dort unten im Ort auch eine Übernachtung sein. Oben auf dem Hügel vor der Kirchenruine abends einen Wein zu trinken, müsste wahrlich romantisch sein, und ich gab ihr in Gedanken einen liebevollen Kuss. Werfen wir zunächst einen weiteren Blick in das Tagebuch vom Sommer 2003:
Fest im Blickpunkt stand natürlich zudem der Wunsch, möglichst nahe am ehemaligen Grenzverlauf zu wandern und trotzdem weite Strecken zu schaffen. Das Zusammenrechnen der Kilometerstände begleitete uns die sieben Wochen genauso wie das Verlangen nach gekühlten Getränken.
Die Landstraße von Everingen über Lockstedt und Gehrendorf nach Oebisfelde verlief unmittelbar parallel zum Grenzverlauf. Alle vier Orte befanden sich in der 5-Kilometer-Schutzzone, die vor 1989 nur mit einem Passierschein zu betreten war.
Hinter der Maxdorfer Mühle nahe des Flüsschen Aller wurden wir kurz hinter dem Ortseingang von Gehrendorf auf ein verlassenes Gelände der NVA-Grenztruppen aufmerksam. An dem Metalltor, das offen stand, hing ein DDR-Emblem, das bereits stark angerostet war. Trotzdem waren noch deutlich die Farben sowie Hammer, Zirkel und Ährenkranz erkennbar. Links neben dem Eingangstor stand ein Blumenkasten aus Beton, der in der Mitte durchgebrochen und völlig verkrautet war.
Es war nicht das erste Mal, dass wir auf ein verlassenes Gelände der Grenztruppen stießen, doch in Gehrendorf hatten wir sofort das intuitive Gefühl, dass man hier etwas genauer schauen müsste. Neugierde und Spannung kamen auf. Wir stießen das Tor auf und sahen uns auf dem Gelände rings um einem dreistöckigen Betonbau um.
Auf der Treppe zum Gebäudeeingang gedeihten inzwischen diverse Pflanzen, und die weiße Farbe blätterte an Tür- und Fensterrahmen ab. Am vergitterten Fenster rechts neben der verriegelten Eingangstür befand sich ein für NVA und Volkspolizei üblicher Spiegel, über dem man von innen sehen konnte, wer draußen Einlass wünschte.
Ein Blick durch die Kellerfenster zeigte bereits, dass hier zu einem bestimmten Zeitpunkt alles stehen und liegengelassen wurde. Die Schubläden einer Werkbank standen offen, und auf der Bank befanden sich diverse Farbtöpfe und Pinsel. An der Wand hing ein Kalender von 1990 des Neuen Deutschlands, damaliges Zentralorgan der SED. An der geöffneten Tür eines Werkzeugschranks hingen verblichene, staubige schwarz-weiß Poster mit knapp bekleideten Frauen, und auf einem Regal ruhte eine orangefarbene Teekanne. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit im Keller weichten diverse Pappkartons auf und ließen den Inhalt aus einem Regal auf den Fußboden purzeln. Schraubsicherungen, Nägel und Rohrmuffen. Eine aufgerissene ATA-Packung gab das weiße Scheuerpulver preis.
Auf dem Fußboden lag eine Ausgabe des Neuen Deutschlands vom 24./25. März 1990 mit dem amtlich bestätigten Endergebnis der DDR-Volkskammerwahl vom 18. März 1990. Eine Grafik zeigte die Verteilung der Sitze: CDU - 163, DSU - 25, BFD - 21, SPD - 88, PDS - 66, Bündnis 90 - 12, AVL - 12, Grüne und UFV - 8, NDPD - 2, DFD - 1, DBD - 9.
Diese Wahl besiegelte das Ende der Deutschen Demokratischen Republik, soviel stand fest. Symbolisch lag diese Ausgabe der Zeitung auf dem Boden, so, als wenn, am nächsten Tag geräumt wurde. Ganz so konnte es jedoch auch nicht sein, denn der 1990er-Kalender an der Kellerwand wurde noch auf die zweite Jahreshälfte umgedreht.
Damals im Sommer hatten wir etwas abseits der Straße von Everingen nach Lockstedt gezeltet, und auf der Wiese direkt neben des Grenzstreifens ging nachts ordentlich die Post ab. Die Brunftzeit wurde eingeläutet, und aus dem nahen Waldstück ertönten urige Geräusche. Wenig später schien ein Rehbock (oder ein Damwildhirsch) Scheinangriffe auf unser Zelt zu machen. Mit einer Art Bellen trappelte es immer wieder auf uns zu, erst in den Morgenstunden ebbte das Ganze draußen ab.
Auf der kürzlichen Wanderung fand ich die Wiese auf Anhieb und fertigte ein paar Aufnahmen an. Ein Stück weiter bog ich in Lokstedt links ab und folgte der kleinen ruhigen Straße, um ein paar Aufnahmen vom kreuzenden Kolonnenweg anzufertigen. Wenige Meter hinter der Aller war auf Anhieb anhand des wechselnden Straßenbelag erkennbar, dass dort die heutige Ländergrenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen verläuft. Ein großes braunes Schild gibt Auskunft darüber, dass hier einst der Eiserne Vorhang verlief. Zu einer Seite war der Kolonnenweg komplett zugewachsen und somit nicht mehr begehbar, zur anderen Seite glich dieser eher einem klassischen Feldweg. Von den Lochplatten fehlte jede Spur.
Ich zog mir aus Nostalgiegründen kurz die kurze rote Hose an, die ich bereits aus dem gleichen Grund im Sommer 2003 mit nach Marienborn genommen hatte. Irgendwann im Sommer 1995 hatte ich diese rote Jeans gekauft und die Beine abgeschnitten. Im Jahr darauf nahm ich sie mit auf die siebenwöchige Reise durch Brasilien. Sie wurde quasi zu meinem Markenzeichen für eine sensationelle, spannende Reise von Rio de Janeiro über Goiânia und Belém nach Santarém und Manaus, auf der es zu vielen schönen Erlebnissen kam, aber auch zu zwei ärgerlichen Raubüberfällen und einer arg angsteinflößenden Busentführung.
Die kurze rote Jeans begleitete mich zur Jahrtausendwende noch auf kleineren Touren, danach legte ich sie zu Erinnerungszwecken in den Schrank. Nachdem ich sie im August 2003 noch einmal für die lange Wanderung rausgekramt hatte, tat ich dies 20 Jahre später noch einmal. Sie passte so oh la la, und nach ein paar Fotos zog ich mir wieder meine aktuelle bequemere Kleidung an.
Kurz hinter dem Ortseingang von Gehrendorf stieß ich rechte Hand auf die mit Spannung erwartete ehemalige Unterkunft der DDR-Grenztruppen. Ich war neugierig, in welchem Zustand sie heute ist und war etwas überrascht, dass es bei google maps einen Eintrag gibt. Und voilà, das Gebäude erstrahlt im neuen weißen Glanze. Das alte Tor mit dem verrosteten DDR-Emblem ist verschwunden, stattdessen steht vorn nun ein einstiger Beobachtungsbunker. Auf dem Gelände ist nun eine Firma ansässig, im Gebäude selbst gibt es jetzt sanierte Wohnungen. Diverse aufgestellte DDR-Fahrzeuge und Gegenstände erinnern daran, welche Funktion einst Grundstück und Gebäude hatten.
Die letzten Kilometer wurden eher öde. Nun ging es einfach darum, Strecke zu machen, um endlich in Oebisfelde irgendwo einkehren zu können. Sämtliche Gasthäuser, auf die ich bislang stieß, hatten entweder komplett geschlossen oder machten erst um 17 Uhr auf. Das Gefühl beim Wandern war ziemlich exakt das Gleiche. Es war erstaunlich, wie rasch ich wieder in den typischen Wandermodus kam. Ich genoss die Stille - aufpassen musste ich halt nur auf die Fahrzeuge - und ging wie damals meinen Gedanken nach. Angekommen in Oebisfelde beließ ich es bei einem Gang in einen Supermarkt. Zwei Gebäckstücke, eine Milch und eine Dose Bier mussten genügen, bevor es mit dem Zug zurück nach Berlin ging. In Gedanken tüftelte ich bereits die nächste mögliche Etappe aus, die von Oebisfelde durch den Drömling und über Brome nach Schnega führen könnte. 55 Kilometer an einem Tag - das ist für mich durchaus machbar! Im Sommer 2019 packte ich einmal sogar 150 Kilometer in zwei Tagen. Bevor es jedoch soweit ist, noch ein letzter Eintrag aus meinem Tagebuch aus dem Sommer 2003, aus das im kommenden Herbst ein Buch werden könnte:
In Oebisfelde wollten wir der Magdeburger Volksstimme einen Überraschungsbesuch abstatten, doch wie man uns vor Ort mitteilte, gebe es seit einiger Zeit mehr keine Lokalredaktion in Oebisfelde. Um mit der Zeitung persönlich in Kontakt zu treten, müssten wir nach Klötze fahren. Wir verzichteten lieber auf einen Pressetermin und suchten den schnellsten Weg über die Schienen zum Stadtrand. Auch diese 8.000-Einwohner-Stadt lag zu Grenzzeiten in der 5 Kilometer breiten Sperrzone. Im Rahmen der »Aktion Ungeziefer« im Jahre 1952 wurden auch hier etliche Menschen über Nacht zwangsumgesiedelt. Während der anschließenden Jahre hatten die Einwohner mit alle den Einschränkungen zu leben, die die Lage in der Sperrzone mit sich brachte.
Neben den breiten, mittlerweile ICE-tauglich ausgebauten Bahngleisen in der Nähe des Bahnhofs von Oebisfelde standen auf einem einstigen Gewerbegrundstück Fahrzeuge der verschiedensten Art, die nun das Zeitliche segneten und vor sich hinrosteten. Ein ganzes Arsenal an Fahrzeugtypen der DDR befand sich auf dem eingezäunten und von Sandhaufen umgebenen Gelände. Ein blau-weißer Ikarus-Bus, mehrere Robur-Busse, ein kleiner Barkas, Wartburge, ein olivgrüner Robur-LKW und ein LKW, der aus den frühen 50ern stammen musste…
Fotos: Marco Bertram
> weitere Infos auf der Webseite: www.deutsch-deutsche-grenze.de
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