Schiffbruch und Todesangst: Was passierte nach dem großen Sturm?

RS Updated 18 Januar 2018
wellen

Meterhohe Wellen. Windstärke 10 bis 11. Dunkelheit und schwere Brecher. Am 6. November 1999 gerieten die beiden Segelyachten "Time for Sydney" und "First Cash" vor der niederländischen Küste in schwere Seenot. Um 18:33 Uhr wurde Mayday gefunkt. Minuten später schossen rote Leuchtkugeln in den dunklen Herbsthimmel. Aus größter Not wurden die beiden Besatzungen von der holländischen KNRM und einem Marinehelikopter geborgen. Was ist eigentlich aus den beiden Booten und den vier Männern geworden, die im Herbst 1999 in See gestochen sind, um eine Berliner Botschaft zu den Olympischen Spielen 2000 nach Sydney zu bringen?

Nordsee

Projekt Berlin - Sydney 2000. So hieß das Vorhaben, das die damals Mitte und Ende 20-Jährigen Arne und Jan Mill, Raimar Gohlke und Marco Bertram umsetzen wollten. Seit dem Sommer 1995 arbeiteten sie an dem Projekt in einer ausgebauten Scheune bei Neuenhagen vor den Toren Berlins.

Aus der fixen Idee, mit zwei selbst ausgebauten Booten nach Australien zu segeln, entpuppte sich schon bald ein richtiges Projekt. Tag und Nacht werkelten die vier jungen Männer in der Bootsscheune und bereiteten parallel ihre Segeltour vor. Freunde halfen, wo sie nur konnten. Der Medienrummel war groß und Unterstützung wurde den vier Abenteurern von vielen Seiten zuteil. Das Nationale Olympische Komitee und der Olympiastützpunkt Berlin gaben ideelle Hilfe, viele Ausrüsterfirmen und regionale Unternehmen wurden Sponsoren des Projektes Berlin - Sydney 2000 und statteten die beiden Boot mit aus. Das Motto "Wenn die Olympischen Spiele nicht nach Berlin kommen, fahren wir eben zu ihnen" fand vielerorts offene Ohren.
 

Crew

Genau vor zehn Jahren fand im Juni 1999 auf dem Bauernhof bei Neuenhagen ein Tag der offenen Tür statt.  Sponsoren, Presse, Freunde und Bekannte konnten sich vor Ort einen Eindruck verschaffen, wie weit die Arbeiten vorangekommen waren. Der ORB fertigte von Frühjahr 1998 bis Herbst 1999 eine 30-minütige TV-Reportage an. Jana Kalms begleitete mit einem Kameramann die vier "Segeljungs" anderthalb Jahre lang bei ihren Arbeiten. Gedreht wurde bis zur Abfahrt an der Marina Neuhof an der Ostsee im Oktober 1999. Die Zeit war weit vorangeschritten. Lieferschwierigkeiten und zu bewältigende Probleme bei Logistik und Bootsausbau verzögerten die Abfahrt von August auf Oktober. 

ORB

Arne und Jan vom gelben Boot und Raimar und Marco vom roten Boot wollten und konnten nicht weiter warten. Die Olympischen Spiele in Sydney warteten nicht. Um September 2000 in Australien zu sein, musste das Risiko eingegangen werden, zu einer nicht segelfreundlichen Zeit doch noch loszufahren. Während andere Segler in der Marina Neuhof ihre Boote aus dem Wasser holten, wurden "Time for Sydney" und "First Cash" im Hafen zu Wasser gelassen und startklar gemacht.

Bei kühlen Temperaturen ging es mit den beiden acht Meter langen Booten nach Hiddensee und dann über die Ostsee nach Kiel. Weiter ging es durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Brunsbüttel, wo ein paar letzte kleinere Verbesserungsarbeiten durchgeführt wurden. Über die Elbe ging es dann hinüber nach Cuxhaven. Bei frischer Brise ging es am 4. November 1999 nach Helgoland. Bei noch verhältnismäßig passablen Bedingungen segelten die vier Männer dann weiter in Richtung Westen über die ruppige Nordsee. Bereits in der ersten Nacht schlug das Wetter komplett um. Sturm kam auf. Durch die aufgewühlte See arbeiteten sich die beiden Segelboote Seemeile für Seemeile voran. 
 

Boote

Während einer Ruhephase am 6. November versuchten die beiden Segelcrews in den Yachthafen von Vlieland zu kommen. Da dies auf Grund starker Brandung nicht gelingen konnte, segelten sie weiter in Richtung Den Helder. Am frühen Abend kam wieder heftiger Sturm auf. Schwere Brecher rollten auf die niederländische Küste zu. Der Herbststurm wütete nun in voller Stärke. Gegen 18:30 Uhr kenterte die "Time for Sydney" durch. Es gelang der Besatzung gerade noch Mayday zu senden. Kurze Zeit später erwischte ein schwerer Brecher auch das rote Boot "First Cash". Das Boot kenterte durch. Auch hier brachen Mast und Takelage, doch das Boot richtete sich wieder auf. Marco Bertram ging während des Durchkenterns über Bord. Nur mit Mühe schaffte er es in der dunklen stürmischen See wieder an das Boot heran zu schwimmen. Mit Raimars Hilfe konnte er sich wieder an Deck ziehen. Ohne der integrierten Rettungsweste im Segelanzug wäre es nicht möglich gewesen, sich über Wasser zu halten.

Segeln

Einige Mal feuerten sie mit der Pistole rote Leuchtkugeln ab. Dank der abgeschossenen Signalkugeln, die minutenlang über dem Meer trieben, konnte die Besatzung eines Lynx-Helikopters der niederländischen Marine die beiden von ihrem manövrierunfähigen Boot bergen. Arne und Jan wurden von einem Rettungsboot der niederländischen Rettungsgesellschaft KNRM geborgen und nach Vlieland gebracht. Die führungslosen Boote trieben noch in der Nacht an die sandige Küste der Insel Vlieland und wurden dort mit schwerem Gerät in Sicherheit gebracht. Das Projekt musste abgebrochen werden. Zu schwer waren die Schäden an den beiden Booten. Zu tief saß der Schock. Mit einem Trailer wurden die zwei lädierten Boote wieder zurück nach Neuenhagen gebracht.

Marco bertram
 
Wie denken die vier Männer heute über die Geschehnisse im Herbst 1999? Sie hatten unglaubliches Glück gehabt, sind sich alle vier einig. Es glich einem Wunder, dass niemand schwer verletzt wurde oder gar ums Leben kam. Die Schutzengel waren am 6. November 1999 auf hoher See vor Ort und Neptun ließ Gnade walten. Jedes Jahr zum Jahrestag feiern die vier Männer ihren "zweiten Geburtstag". Jeder Tag nach dem Schiffbruch auf der Nordsee ist ein Geschenk, meint Marco Bertram. Damals hätte alles vorbei sein können. Laut Statistik hatte er kaum eine Überlebenschance. Bei Windstärke 10 und meterhohen Wellen, kaltem Wasser und kompletter Finsternis über Bord zu gehen, hat in den meisten Fällen den sicheren Tod zur Folge.

rettung
 
Alle vier stehen noch untereinander in Kontakt, doch beruflich gehen nun alle ihre eigenen Wege. Jan Mill arbeitet als Programmierer und Übersetzer, Arne Mill ist erfolgreicher Radrennfahrer, Raimar Gohlke arbeitet in Leipzig als Senior Manager und Marco Bertram ist als freiberuflicher Darsteller, Autor und Fotograf weltweit tätig. Vergessen können die vier Männer das Segelprojekt nie. Zu sehr hatte das Vorhaben ihr Leben geprägt. Der Bau der beiden Boote, die intensive Medienarbeit und die Sturmfahrt auf der Nordsee - all dies hat sich fest ihrem Gedächtnis verankert.
 
Auf die Frage, ob der Schiffbruch vor Holland eine herbe Niederlage war, antworten die vier einstimmig so: "Dass wir es überhaupt geschafft haben, aus dem Nichts diese beiden hochseetauglichen Boote zu bauen, war der Erfolg überhaupt. Es hatte gezeigt, dass es möglich ist, zu schaffen, woran andere von Anfang an gezweifelt haben. Die Abfahrt auf der Ostsee - das war eigentlich das wirkliche Ziel! Dieses Projekt soll alle anderen jungen Menschen dazu ermutigen, etwas anzupacken, woran sie wirklich fest glauben. Wenn auch der Weg verdammt hart und mühsam sein kann!"
 
Marco bertram
 
Doch die interessanteste Frage ist: Gingen und gehen die die vier Männer nach den einprägsamen Erlebnissen auf der Nordsee noch immer segeln? Jeder hatte die Dinge anders verarbeiten können. Raimar, Jan und Arne gingen vergleichsweise offensiv mit dem Segeldrama um und segelten schon bald mit anderen Booten auf der Müritz und der Ostsee. Raimar segelte gar mit ein paar Leuten bis hoch nach Norwegen. Sehr zurückhaltend blieb Marco, der erst zögerlich wieder auf das Wasser zurückkehrte. Um die Grenzerfahrung vom November 1999 besser verarbeiten zu können fuhr er im Sommer 2007 noch einmal nach Vlieland und verbrachte dort einen Abend am Strand der Insel, ging tief in sich und opferte Neptun eine Flasche kubanischen Rum. 
 
Segeln

Mit Männern der KNRM nahm er einen Tag später an einer Übung auf hoher See teil. Nach der Wiederkehr an den Ort des Geschehens packte auch Marco wieder die Segellust. Mit einem Freund segelte er nach neun Jahren wieder. Mit einer Ixylon ging es im Herbst 2008 raus auf die Brandenburger Gewässer, um wieder eine erste frische Brise zu schnuppern ...

Fotos: Segelprojekt / turus.net-Archiv  

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