KNRM

Auf stürmischer Nordsee dem Tod knapp entkommen

 
5.0 (1)
Exakt zehn Jahre ist es her, als die beiden acht Meter langen Segelboote des Projekts Berlin-Sydney 2000 bei schwerem Sturm auf der Nordsee in Seenot gerieten. Bei Windstärke 10 bis 11 und meterhohen Wellen kenterten unsere beiden Yachten am Abend des 6. Novembers 1999 vor der niederländischen Insel Vlieland durch. Aus höchster Not konnten wir vier von der KNRM und der niederländischen Marine mit Rettungsbooten und Helikopter aus der tosenden See geborgen werden. Anlässlich des Jahrestages gibt es hier im turus Magazin exklusiv einen längeren Auszug aus dem Buch "13 Reise-Fragmente" (Marco Bertram & Mark Bauch) zu lesen.

Gemeinsam mit Raimar Gohlke und den Brüdern Arne und Jan Mill machte ich mich im Herbst 1999 auf den Weg in Richtung Sydney, um dort pünktlich zu den Olympischen Spielen 2000 eine Olympiabotschaft des Mitbewerbers Berlin zu überreichen. Mit zwei selbst gebauten acht Meter langen Booten startete die Tour Mitte Oktober 1999 an der Marina Neuhof am Strelasund. Über die Ostsee ging es nach Kiel, anschließend ging es den Nord-Ostsee-Kanal entlang. Von Cuxhaven ging es nach Helgoland, von wo aus es in Richtung England weiter gehen sollte. Schwerer aufkommender Sturm zwang die beiden Yachten zu einer Routenänderung in Richtung Holland. Vor der Insel Vlieland kenterten unsere beiden Boote "Time for Sydney" und "First Cash" durch. Ich fiel dabei über Bord und fand mich in der dunklen Nordsee wieder. Mit Hilfe meines Mitseglers Raimar Gohlke konnte ich mich wieder in das Boot retten. Im Anschluss der Geschehnisse verfasste ich einen ausführlichen Bericht, der in das Buch "13 Reise-Fragmente" hineingepackt wurde. Einen längerer Auszug ist hier im turus Magazin zu lesen.

Boot

Mayday auf stürmischer Nordsee
6. November 1999.

Morgens flaute der Sturm etwas ab, doch nahm er wenig später wieder an Heftigkeit zu. In den Vormittagsstunden wechselten sich heftige
Windböen und Ruhephasen stetig ab. Mit Entsetzen stellten wir fest, dass ein Mastbeschlag gebrochen war. Raimar holte kurzerhand das Werkzeug aus einer Kojenkiste, leinte sich
an und tauschte während einer ruhigeren Sturmphase den Beschlag aus. Zum Glück verlief diese Arbeit am Mast ohne weitere Komplikationen,
und ich konnte das Boot ruhig in den Wind stellen.
Als anschließend der Sturm wieder an Intensität zunahm, ließ ich unser Boot vor dem Wind ablaufen, damit es ruhiger im Wasser lag. Es war unmöglich bei diesen Bedingungen hart am Wind zu segeln und dabei die Wellen vernünftig auszusteuern. Hinzu kam die permanente Gefahr plötzlich auftauchender Berufschiffe. Gegen Mittag schien der Sturm sich zu beruhigen. Erfreut über diese Tatsache nahmen wir wieder Südkurs auf und durchquerten das zweite
Verkehrstrennungsgebiet.
Von nun an steuerten wir den Yachthafen der Insel Vlieland an. Wir nahmen Kurs auf die erste Ansteuerungstonne und tauschten mit Time for
Sydney die GPS-Informationen aus. Die Probleme mit der Elektronik hielten auf der Time for Sydney an. Genaueres konnte noch nicht gesagt werden. Entweder lag es noch an der
fehlenden Abstimmung oder es hing mit den feucht gewordenen Batterien zusammen. Eventuell waren aber auch Unterseekabel für die Navigationsprobleme die Ursache. Wir vereinbarten, ab nun möglichst dicht beieinander zu bleiben und noch häufiger als zuvor die Daten auszutauschen.
 
Marco Bertram

Das Wetter stabilisierte sich, und am Nachmittag waren Raimar und ich bereits guter Dinge. Euphorie kam auf. Der schützende Hafen war nicht
mehr weit. Endlich die klamme, kalte Kleidung ablegen. Eine heiße Dusche und etwas leckeres zu Essen. Des weiteren könnte das Boot wieder aufgeklart werden. Raus mit all dem kaputten und unnützen Zeug. Aufgeweichte Taschentücher, zerbrochene Tassen und aufgerissene Teepackungen
und Kekstüten.
»Abends gibt es dann endlich ein Bierchen im Hafen von Vlieland!« beschlossen wir in freudiger Erwartung.
Raimar holte auf meinen Wunsch seine Fotokamera aus der Koje und machte einige Aufnahmen von den hohen, buckligen Wellen. Kaum zu glauben, daß wir mit eigenen Augen solch gewaltige, sich auftürmende Wassermassen sehen, schoss es mir durch den Kopf. Ich steuerte, und mir ging es wieder besser. Zwar zeichnete sich die Erschöpfung sichtbar in unseren Gesichtern ab, aber die Übelkeit war wie weggeblasen.
Steuerbord passierten wir eine Bohrinsel, und gegen 15 Uhr war die erste Ansteuerungstonne von der Insel Vlieland in Sicht. Noch drei Tonnen. Dann gut acht geben und hinein in den Hafen. Sehnsüchtig hatten wir diesen Moment erwartet. Die vergangenen beiden
Tage waren knüppelhart, und es würde im Hafen einiges zu besprechen geben. Wie geht es weiter? Keinesfalls durch den englischen Kanal und die
Biscaya. Das stand fest. Ein Weg in Richtung Mittelmeer durch die französischen Kanäle? Viele Fragen waren offen und galt es zu beantworten.
 
wellen
 
Die Küste Vlielands war bereits in sichtbarer Nähe, als sich Entsetzen und Fassungslosigkeit breit machten. Enttäuschung und Entsetzen ließen unsere gute Laune im Hauch eines
Augenblicks verschwinden. Gewaltige, bis zu zehn Meter hohe Brecher türmten sich vor der Küste und rollten auf den Strand von Vlieland zu. Es sah aus wie vor California Beach! Pazifikwellen gleich, donnerten die Wassermassen auf die Küste zu. Wäre die Lage nicht so prekär, hätte man begeistert sein können bei solch einem Naturschauspiel. Die Naturgewalten spielten all ihre Karten aus. Dort war kein Durchkommen.
Es half nichts. Zwischen den Inseln Terschelling und Vlieland hindurch ins geschützte Wattenmeer zu segeln oder zu motoren war ein Ding der Unmöglichkeit.
Abdrehen auf 240 Grad, und parallel zur holländischen Küste in Richtung Den Helder weitersegeln, hieß es.
Ich hatte Mühe, das Boot aus den Bereich der höchsten Wellen hinauszusteuern. Ich glaubte, mich in einem Traum zu befinden. Glatt und steil erhoben sich vor mir die Wellenwände.
Das Boot arbeitete sich Meter für Meter hinauf, durchschnitt den schäumenden Kamm und brauste auf der anderen Seite ins Wellental hinab. Der Druck auf das Ruderblatt war enorm, und ich musste mit beiden Händen und all verfügbaren Kräften gegenhalten, um nicht in den Wind zu schießen. Mit aufgerissenen Augen inspizierte ich die nächste heranrollende Welle und schätze die Stelle ab, wo ein Schneiden des Kammes am günstigsten erschien.
Ich konnte wieder etwas Raum zur Küste gewinnen, und nach einiger Zeit wurden die Wellen wieder abgeflachter. Raimar ging unter Deck, um etwas zu ruhen. Wir wussten, die Nacht
würde kein Spaß werden. Und wer weiß, was uns in Den Helder erwartet. Galt es weiterzusegeln bis zur Stadt Ijmuiden? Wir fuhren nur knapp über 2 Knoten über Grund, und Den Helder lag
noch einige Seemeilen entfernt. Vor dem Morgengrauen würden wir den Hafen nicht erreichen. Etwa 30 Seemeilen galt es noch zurückzulegen. Frust, Trauer, Ungewissheit machten sich breit. Es war eine traurige Vorstellung, weitere zehn oder zwölf Stunden bei solch miserablen Bedingungen segeln zu müssen, ohne zu wissen, was einem in Den Helder erwartet. Die Time for Sydney bolzte mittlerweile direkt hinter uns über die Wellen. Keinesfalls wollten sie uns aus den Augen lassen. Am Horizont zog eine dunkelgraue Wolkenfront heran. Der Wind frischte zunehmend auf. Die Wetterverhältnisse ließen nichts gutes erahnen. Der Kurs war schwierig zu fahren, die Wellen trafen die Boote hart von der Seite, und Wasser schlug einem mit Brachialgewalt ins Gesicht. Auf First Cash stand Wachwechsel an. Es war gegen sechs Uhr abends, und die Dunkelheit brach herein. Raimar übernahm, und ich schob mich durch den Niedergang. Ich benötigte Ruhe, etwas Erholung.
 
Sturm

Unten angekommen, streifte ich die triefenden Handschuhe ab und kauerte mich unter den Navigationstisch. Seit über 50 Stunden hatte ich die Segelsachen nicht mehr ausgezogen. Der Körper kühlte schnell aus, und ich zog behelfsmäßig einen klammen Schlafsack über meine Beine. Ich schaute auf die Uhr, warf einen prüfenden Blick auf den Bildschirm des Laptops und griff zur Muschel des UKW-Funkgeräts. Arne hatte auf Time for Sydney ebenfalls Freiwache und ich führte ein kurzes Gespräch mit ihm, das sich fest in meinem Kopf einprägte.
»Es wird schon werden. Wir schaffen das schon!«
Ich lag inmitten der feuchten, verstreuten Gegenstände unter dem ausklappbaren Navigationstisch und hörte diese Worte, die mir Mut machen sollten. Ich dachte an die Zeit in der Scheune in Elisenhof. Vier Jahre hatten wir gemeinsam diese beiden Boote gebaut, hatten schlechte und gute Phasen gemeinsam durchgestanden. Und nun segelten wir gemeinsam in diesem Sturm. Auch dies werden wir durchstehen. Wie es wohl an Bord von Time for Sydney ausschaute? Sie hatte es noch härter getroffen, da sie mit auftretenden technischen Problemen zu kämpfen hatten.
Ich dämmerte mich vor mich hin und dachte nach. Das Funkgerät in Reichweite.
Aus den Augenwinkeln warf ich einen Rundblick in den Salon. Meine Güte. Die Tage, an denen wir hier noch das Holz lackiert hatten, als das Styrodur angeschäumt wurde...
Und nun klebte überall dieser widerliche, inzwischen aufgequollene schwarze Tee. Die Schranktürchen pendelten hin und her und schlugen gegen die Front. Ein einziges Chaos herrschte im Boot. Was hatten wir auf korrekte Sauberkeit wert gelegt. Die Liebe steckte beim Ausbau der Boote im Detail.
Erschöpft kauerte ich in der Ecke und hörte, wie die Wellen an den Bug donnerten. Ich hatte mich mittlerweile an das Poltern und Krachen gewöhnt. Es bereitete mir keine Angst mehr. Ich war zu müde, um mir Gedanken darüber zu machen. Bald würde ich wieder ans Steuer gehen müssen. Von 20 bis 22 Uhr ist meine Zeit. Wieder ein Anbolzen gegen die Brecher...

18:25 Uhr MTC.
Querab der Insel Vlieland.
»First Cash! First Cash! Marco, schnell! Geh ans Funkgerät!«
Ich schrak auf und packte die Sprechmuschel des Funkgeräts, die über
meinem Kopf baumelte.
»Time for Sydney! Hier ist First Cash. Delta Golf 4986. Was ist los
Arne? Over.«
Es knisterte und rauschte in der Leitung.
»First Cash!! Marco, du musst für uns Mayday funken! Uns hat es
erwischt, wir haben uns überrollt, sind durchgekentert! Unser Mast ist ab! Ich weiß nicht, wie lange wir noch funken können! Du musst Mayday absetzen! Over!«
Oh mein Gott, das kann nicht wahr sein. Hitze schoss mir ins Gesicht. Mit einem Mal war ich hellwach und umklammerte die Muschel des Funkgeräts.
»Time for Sydney! Hier ist First Cash! Habe verstanden, ich werde
Mayday funken! Wie geht es euch ansonsten? Ist alles okay? Over!«
Nichts. Ruhe. Das Funkgerät blieb still.
Ich stürzte die Treppe des Niedergangs hinauf, riss die kleine Tür auf und brüllte zu Raimar ins Cockpit hinaus:
»Sie sind durchgekentert! Sie sind durchgekentert! Wir müssen gleich
umdrehen...«
»Scheiße noch mal! Wie sollen wir das machen? Hier draußen ist die Hölle los!«
Raimar umklammerte die Pinne, und ein für das andere Mal schlug ihm Wasser ins Gesicht. Die Nacht war pechschwarz. Drohend erhoben sich die Wellen an der Seite und rollten unter dem Boot hinweg.
»Ich muss zuerst Mayday funken, denn ihr Mast ist ab!« schrie ich Raimar aus Leibeskräften entgegen.
»Schreib die Position auf! Auf Papier! Oh verdammt, es musste ja irgendwann passieren. So eine Scheiße. Schnell, beeile dich und komme dann wieder hoch, damit wir wenden können! Zoom die Karte auf dem Laptop heran, damit wir die Stelle genau finden können. Und drücke die Mayday-Taste, damit die Position gespeichert bleibt!«
18:33 Uhr.
»Mayday, Mayday, Mayday! Here is First Cash, First Cash, First Cash! Delta Golf 4986!!!«
»Mayday, Mayday, Mayday! Here is First Cash, First Cash, First Cash! Delta Golf 4986! Our sistership Time for Sydney is capesized!!! Mayday!«
»First Cash, here is the Netherlands Coastguard! How is your position?
Over.«
»Here is First Cash! Our position is 53.13 North, 4.46 East. Our sistership was only 200 metres behind us! Over.«
»First Cash, here is the Netherlands Coastguard. I repeat your position:
53.13 North, 4.46 East. Please spell Time for Sydney. Over.«
»Here is First Cash. The name of our sistership is: T I M E...«
»First Cash, please repeat the boatsname in the International Alphabet, over.«
»Here is First Cash. The name is: Tango, India, Mike... E... E...«
Verdammt noch mal, mir fällt beim besten Willen nicht das E ein.
Oh meine Güte, du kannst doch jetzt nicht versagen, die Coastguard
wartet! Ich hockte vor dem Navigationstisch, hielt die Sprechmuschel des Funkgeräts vor den Mund, und der Schweiß stand auf meiner Stirn.
»First Cash, First Cash! Hier ist Frachtschiff Mandena! Ich übernehme für sie das Buchstabieren...«
Tatsächlich, ein Funker eines anscheinend von uns nicht weit entfernten Frachtschiffs sprang in die sprachliche Lücke ein und erlöste mich.
»Netherlands Coastguard, Netherland Coastguard, here is Mandena, Delta Romeo Echo Romeo 56. The name is: Tango, India, Mike, Echo, Foxtrott, Oscar, Romeo, Sierra, Yankee, Delta, November, Echo, Yankee.
Over.«
»First Cash! Hier ist Mandena! Bewahren sie Ruhe, es wird schon werden! Over!«
»Mandena. Hier ist First Cash. Vielen Dank für die Hilfe, mir fiel vor Aufregung das Funkalphabet nicht mehr ein! Over.«
»First Cash! Hier ist Mandena. Macht nichts, das kann jedem in solch einer Situation passieren. Man wird ihnen bald zur Hilfe kommen. Over.«
Nach zirka zehn Minuten verließ ich das Funkgerät, und kletterte den Niedergang hinauf. Pechschwarze Dunkelheit empfing mich. Die klitschnassen Handschuhe überziehend, ging ich zur Winch und nahm die Schot.

Wir vollzogen rasch eine Wende, und anschließend musste ich wieder hinunter zum Laptop. Die Kurslinien verfolgen und vergleichen.
»Mehr backbord, mehr steuerbord!« brüllte ich im steten Wechsel zu Raimar hinauf.
»Leicht gesagt!«
»Wir müssen, sonst weichen wir zu sehr ab!«
Die Kurslinie pendelte nach links und nach rechts. Nach einigen Minuten erreichten wir die besagte Stelle wieder.
»Raimar, hier muss es sein. Siehst du sie?«
»Nein!«
»Es muss hier sein!« brüllte ich hinauf und starrte gebannt auf den Bildschirm.
»Da sind sie! Ich sehe sie! Ihre Handleuchte!«
Kaum hörte ich Raimars Worte, hastete ich hinauf ins Cockpit, um mit eigenen Augen zu schauen. Wo sind sie?
Wir hatten sie wieder aus den Augen verloren. Die hohen Wellen versperrten uns die Sicht.
Nachdem ich die kleine Munitionsbox geholt hatte, schossen wir mit der Signalpistole eine rote Fallschirmrakete in den pechschwarzen Himmel, in der Hoffnung, die Jungs von Time for Sydney und die Küstenwache würden sie bemerken.
Mit hoher Geschwindigkeit schoss die Kugel empor und beleuchtete anschließend mit einem gespenstischen Rot die Wellen. Die Schaumkronen rollten für einen Moment rosafarben heran. Nun hieß es, erneut schleunigst zu wenden, um die entmastete Time for Sydney nicht aus den Augen zu verlieren. Die Anspannung war groß. Bedrohlich rollten hohe Wellen rauschend heran und hoben und senkten unser Boot. Bis in die Finger- und Zehenspitzen waren wir hellwach und mit Adrenalin erfüllt. Wir wussten, bei solch einem heftigen Wellengang zu wenden, bedeutete ein großes Risiko. Ein Fehler, und das kann es gewesen sein.
Raimar schrie das Wendemanöver, zog an der Pinne und ich holte das Vorsegel rasch auf die andere Seite. Um an die andere Winch zu kommen, das Vorsegel musste mit der Kurbel wieder dichter geholt werden, krabbelte ich über die Leinen im Cockpit.

Es ging alles sehr schnell durch den Kopf. So, noch rasch die Winchkurbel nehmen und zur Backbordseite... Los, los... Das Boot muss schnell wieder Kurs aufnehmen, an Fahrt gewinnen und die Wellen austeuern... Oh, oh... Schneller... Diese verflixten Leinen... Verdammt noch mal...
Mein Gott, was ist das?`
»Raimar!!!«
»Festhalten!!!«
Es war zu spät, kaum hatten wir die Wende vollzogen, traf uns eine gewaltige Welle von der Seite. Eine mehrere Meter hohe Walze aus weißem, sprudelndem Wasser raste donnernd heran und warf im Bruchteil einer Sekunde unser Boot um. Furcht einflößend kam sie in der Dunkelheit heran und stürzte sich auf uns. Zuerst hörte man nur das Tosen, welches anders klang als die anderen Wellen, bei denen beim Sturm die Kämme brachen und die Gischt weggefegt wurde. Diese Welle hörte sich anders an. Raimar und ich wussten sofort, was passieren würde. Zum Handeln blieb trotzdem keinerlei Zeit. Es ging zu schnell.
Kaum traf uns die Wasserwalze mit voller Wucht, wurde es um mich herum auch schon mucksmäuschenstill. Es folgte eine Phase wie im Traum. Es war dunkel und ruhig. Kein Wellengetöse und kein pfeifender Wind. Soll es das gewesen sein? Würde sich das Boot wieder aufrichten? Meine größte Angst war, unter dem gekenterten Boot gefangen zu sein. Verstrickt und umschlungen vom Leinengewirr. Eine Horrorvorstellung. Lieber wollte ich an der Wasseroberfläche sein, auch wenn dort gleich die Chance zum Überleben im kalten Wasser in der Dunkelheit genauso gering ist.
 
Sturm
 
Ich kam erst wieder zu mir, als ich den Kopf aus dem Wasser steckte und unser Boot von hinten sah. Dort lag es friedlich im Wasser, als sei nichts geschehen. Zwar ohne Mast und Segel, aber es war aufgerichtet und pendelte sich gerade noch etwas aus. Die Lage war ernst. In herbstlicher Nordsee trieb ich in der Finsternis einige Meter hinter dem Cockpit von First Cash, und mein Kopf ragte gerade so über der Meeresoberfläche. Die Kleidungschichten sogen sich voll Wasser, wurden schwer wie Blei und versuchten mich in die Tiefe zu ziehen.

Glücklicherweise ging die automatische Rettungsweste auf und hielt mich knapp über Wasser, wenngleich meine Segeljacke nicht fest genug verzurrt war, und somit die rote Rettungsweste etwas verschoben war und nicht direkt um meinen Hals lag.
Viele Leute fragten mich später, weshalb ich nicht im Cockpit angeleint war. Der Grund war die Hektik beim Wendemanöver. Wir mussten schnell handeln, um Time for Sydney nicht aus den Augen zu verlieren. So hastete ich von Funkgerät und Laptop Hals über Kopf nach oben zu
Raimar und bediente die Winchen. Nun trieb ich in der Nordsee vor Holland und sah Raimar aufgeregt sich im Cockpit umschauen. Er suchte mich, und es muss für ihn als Mitsegler und Freund ein schlimmes Gefühl gewesen sein, mich nicht zu sehen und über Bord zu wissen.
Ich sah ihn, aber er mich nicht. Er stand im Cockpit des noch beleuchteten Bootes. Ich schwamm dagegen im dunklen Wasser.
»Raimar! Raimar! Hier! Hier bin ich!«
Ich rief so laut es ging und schwamm an das Boot heran. Es blieb mir nur wenig Zeit, ins Boot hineinzuklettern, bevor die nächsten Brecher kamen. Raimar ergriff meine Hand und wollte mich ins Cockpit hieven. Es gelang ihm nicht. Mit all der nassen Kleidung war ich zu schwer. Ich versuchte mich hinten am Spiegel allein hochzuziehen. Es wollte nicht gelingen. Ich klammerte mich fest und wollte keinesfalls das Boot wieder loslassen.
Spürte ich anfangs keinerlei Angst, so kam doch langsam die Befürchtung auf, eine nächste Welle könnte mich losreißen und wegspülen. Ein grausiger Gedanke, mehr und mehr wurde mir die Ernsthaftigkeit der Lage bewusst. Trotzdem wurden Raimar und ich nicht panisch und bemühten uns, klug und konsequent zu handeln. Raimar versuchte die Rescueboye ins Wasser zu werfen, doch der Reißverschluss der Schutzhülle klemmte, und die Leinen hatten sich verheddert.
»Raimar, lass es! Du musst das Tor aufmachen!!« rief ich.
»Warte, ich binde erstmal eine Leine um...« gab er als Antwort.
»Nein, nein! Du musst das Tor aufmachen! Das Tor! Das Tor!«
Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich wollte ins schützende Cockpit. Wie ich auf das Wort »Tor« kam, ist mir ein Rätsel. Mir fiel einfach nicht der Begriff für die beiden Leinen zwischen den beiden Heckkörben ein.
»Welches Tor? Welches Tor?« fragte Raimar aufgeregt und nestelte an der gelben Rescueboye.
»Da! Am Spiegel! Du musst die Leinen aufmachen. Ich komme ansonsten nicht ins Boot!!«
Nun verstand Raimar, was ich meinte, und klinkte die beiden kleinen Schnappverschlüsse aus. Wieder versuchte er, mich an der Bordwand hinaufzuziehen. Vergebens.

Mir wurde kalt. Angst, Anspannung und Furcht vor dem endgültigen Scheitern wuchsen. Die Lösung. Raimar öffnete eine Backskiste und holte die Badeleiter heraus, die eigentlich längst an der Außenbordwand montiert sein sollte. Wäre beim Durchkentern des Bootes die Badeleiter verloren gegangen, wäre es wohl um mich geschehen. Ich musste wahrlich einen Schutzengel gehabt haben, denn kaum hing die Badeleiter am Spiegel des Bootes, war es mir möglich, mich hochzuziehen und über die Stufen in das sichere Cockpit zu gelangen.
»Meine Güte, wie gingst du nur über Bord?« fragte Raimar und pickte sogleich mein Lifebelt an eine befestigte Öse an der Cockpitwand ein.
»Ich weiß auch nicht. Ging alles verdammt schnell!«
»Alles okay?«
»Ja, ich glaube schon... Und bei Dir?«
»Auch alles bestens, habe mich am Heckkorb festgehalten. Meine Güte, war das ein Brecher. Hat alles abgeräumt. Mast, Rigg, alles weggefegt. Sauber abgeräumt«, erklärte Raimar.
»Nichts mehr dran? Hängt nichts mehr im Wasser?« fragte ich.
»Nein, ich glaube nicht. Die Wucht des Wassers hat alles abgerissen.«
»Unvorstellbar...«
Später sollte sich herausstellen, dass der komplette, mehrfach gebrochene Mast mit der gesamten Takelage unter dem Bootsrumpf schwamm. Unsere selbst angefertigten Beschläge wie Staghalterungen und Püttinge hielten hervorragend. Auch über die Mastbeschläge konnten wir uns nicht beschweren. Nur der Alumast als solches hielt der Welle nicht im geringsten Stand. Das Wasser machte Kleinholz aus ihm. Die Befürchtung einer Unterdimensionierung des Mastes trat somit ein. Alles überstand das Durchkentern hervorragend. Die achtern angebrachte Radarstütze, die Reling, die Beschläge, das Motorfundament, fast die komplette Technik, die Fenster, Luken und der Niedergangsbereich. Nur der Mast hielt nicht im entferntesten der Beanspruchung des Durchkenterns stand. Das Funkgerät am Navigationstisch funktionierte noch, doch konnte ich wegen der fehlenden Antenne nichts mehr absenden. Zwar versuchte ich eine Mayday-Meldung an die Küstenwache abzugeben, aber es kam keine Antwort.

Ich fühlte mich unter Deck äußerst unbehaglich. Bei einem weiteren Durchkentern wollte ich unter keinen Umständen im Salon sein. Die Gefahr, dass man sich etwas bricht oder von umherfliegenden Gegenständen erschlagen wird, ist groß. Man denke an die Pfannen, Töpfe, Messer, Geschirrteile, Kistendeckel und Proviantvorräte, die sich beim Kentern nun endgültig selbständig gemacht haben und ein ungeheures Chaos bildeten. Wasser drang nur in sehr geringen Mengen durch den halb offen stehenden Niedergang ein. Dies war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das Durchkentern unseres Bootes sehr schnell erfolgte. In wenigen Sekunden befand sich First Cash wieder in horizontaler Lage. Ein Zeugnis für eine überaus gute Konstruktion beider Boote. Die geringen Mengen Wasser füllten die Bilge und bedeckten zentimeterhoch den Fußboden und bildeten mit dem Diesel eine rutschige Einheit.
Ich kletterte gerade den Niedergang hinauf, als Raimar mir entgegen rief:
»Bring noch mehr Munition mit! Und die Pistole! Kannst du sie finden?
Sie muss unten irgendwo liegen!«
Oben im Cockpit nahm mich Raimar sogleich in Empfang und pickte mein Lifebelt ein.
»Damit du mir nicht noch einmal verschwindest!«
Raimar schob eine fette Patrone in den Lauf der Signalpistole und schoss in den schwarzen Himmel. In einem geheimnisvollen Rot erleuchtete die Fallschirmrakete die nahe Umgebung.
»Wir müssen das Boot ausrichten, ansonsten ist der nächste Brecher unser!« rief ich.
»Ja, okay. Lass uns den Treibanker auswerfen...«
Wir warfen ihn über das Heck aus, denn den Gang zum Bug des Bootes wollte keiner von uns riskieren. Der Erfolg war gleich Null. Das Boot schwamm und pendelte parallel zu den Wellen.
»Scheiße, der Bug muss in den Wind!« brüllte ich.
»Na wie denn? Siehst doch, dass es nichts wird. Ein Mistteil, dieser
Treibanker!« brüllte Raimar zurück und fädelte an der Leine.
»Gib noch mehr Leine, vielleicht funktioniert es dann«, schlug ich vor.
»Das sagst du so, schau dir den Dreck hier an. Es passiert rein gar nichts. Ich schieße lieber noch einmal Rot!« sagte Raimar und griff erneut zur großkalibrigen Signalpistole. Mit hoher Geschwindigkeit pfiff die Leuchtkugel in die Finsternis.
»Funktioniert eigentlich der Motor noch?« fragte ich, dabei ängstlich die rauschenden und herandonnernden Wellen beobachtend. Wieder legte ein
Brecher das Boot leicht zur Seite und hob es wie mit Geisterhand an. Die Lage war prekär. Es musste etwas passieren. Jeder Brecher konnte unser sein. Das Boot war ohne Mast und Rigg überaus instabil und pendelte bei jeder Welle hin und her. Bug oder Heck mussten in den Wind. Entweder das Boot ablaufen lassen oder die herannahenden Wellen aussteuern.
»Gute Frage, müssen wir mal probieren«, antwortete Raimar und drehte den Zündschlüssel.

Die ersten Male passierte gar nichts, doch nach einigen Fehlversuchen gab der Motor röchelnde, rotzende Geräusche von sich. Er sprang an, der Motor funktionierte noch.
Raimar griff zur Pinne und gab behutsam Gas. Das Boot nahm etwas Fahrt auf. Zaghaft fuhr Raimar auf die Wellen zu und versuchte sie auszusteuern.
Die erste Freude verflog schnell, denn die Wellen drehten das Boot immer wieder zur Seite, so daß wir wieder parallel zu den bedrohlichen Brechern lagen. Diese ließen auch nicht lange auf sich warten. Tosend näherte sich ein Ungetüm. Rauschend, donnernd näherte es sich im hohen Tempo.
»Festhalten!!« schrie Raimar mir entgegen und klammerte sich mit Leibeskräften am Heckkorb fest. Ich tat es ihm gleich, presste die Augen zu und hoffte auf ein glückliches Ende.
Mit einem heftigen Rumps erfasste die Welle unser Boot und warf es auf die Seite. Für einige Sekunden befanden wir uns komplett unter Wasser.
Es kam mir vor, als wenn Licht und Ton mit einem Mal abgeschaltet wurden. Ich konnte mir gut vorstellen, dass jene auch nie wieder eingeschaltet würden. Dies war meiner Meinung nach durchaus denkbar.
Erst nachdem sich das Boot wieder aufrichtete, erfasste mich die Angst mit eisernen Händen. Jede weitere rauschende Welle wurde von nun an zum Alptraum.
Zwar machte ich den Vorschlag, mit Motorkraft nach Den Helder zu fahren, doch wollte auch ich eigentlich nur noch das Boot verlassen.
»Niemals! Mit Motor kommen wir niemals durch. Der ist bei diesem Wetter zu schwach. Ich lass mich hier einfach nur noch runterholen. Irgendwann müssen die ja kommen. So oft, wie ich Rot geschossen habe!« sprudelte es aus Raimar heraus.
»Und das Boot?« fragte ich.
»Scheiß auf das Boot! Es ist versichert. Mich interessiert nur noch unser Leben. Das hier ist mir zu herb. Einfach zu herb!« antwortete er, umklammerte die Pistole und lud nach.
»Es ist unsere letzte...« teilte er mir mit, hob beide Arme, richtete die Mündung in den Himmel, zog den Kopf ein und drückte ab.
Da erhob sie sich. Unsere letzte rote Fallschirmrakete. Es muss uns doch jemand sehen. Irgendein Schiff oder die Küstenwache.
Wie es den beiden auf Time for Sydney wohl gerade ergeht? Hoffentlich ist nach dem zusammenbrechenden Funkgespräch mit Arne nichts ernsthaftes passiert. Ob sie unsere Notsignalraketen sehen, oder ob sie bereits zu weit abgetrieben sind? Ich kauerte in der hinteren Ecke des Cockpits und starrte auf die rot leuchtende Kugel, die sich der Meeresoberfläche näherte. Nur wenige Meter von uns entfernt fiel die Fallschirmrakete ins Wasser und erlosch.

Mir wurde bitterkalt. Die klitschnassen Sachen wärmten nur noch spärlich. Es war nichts mehr zu machen. Das Boot war manövrierunfähig. Ein Tau hatte sich in der Schraube verfangen, und somit war das Fahren und Steuern mit des Motors Hilfe nicht mehr möglich. Zudem trieben wir auf die Küste zu, und die von schweren Grundseen ausgehende Gefahr lauerte bereits.
Plötzlich war das markante Geräusch eines Helikopters zu hören, und schon bald konnten wir ihn in der Dunkelheit ausmachen. Seine Suchscheinwerfer grasten die rauhe, aufgeschäumte Meeresoberfläche ab.
Der Helikopter drehte einige Runden über uns und richtete den Scheinwerferstrahl auf unser Cockpit.
»Wir werden gerettet! Nun wird es Zeit!« rief Raimar.
Ich konnte mir trotz der Situation nicht vorstellen, unser Boot, an dem wir vier Jahre lang gebaut hatten, einfach so zu verlassen. Die Vorstellungskraft reichte nicht aus, alles mit einem Mal zu verarbeiten. Die Papiere, der Laptop, das Geld? Das kann doch nicht alles im Boot bleiben. Womöglich wird es untergehen. Stranden, zerschellen, zerbrechen. Mit nichts geborgen werden? Nur mit dem klitschnassen Segelanzug am Leib? Einfach so? Ich stürzte den Niedergang hinunter, kroch zu meiner Bugkoje und ergriff meine schwarze Ledertasche.

Es musste schnell gehen. Verflixt, wenn im letzten Moment das Boot doch noch einmal durchkentert. Alle Kojenkisten waren geöffnet. Die Deckel lagen verstreut im Salon. Alles bildete ein heilloses Durcheinander.
Schnell, schnell. Zuerst den Laptop. Und vor allem der Dongel. Meine Güte, was der wert ist. Bloß mitnehmen dieses Teil. Zumal die abgespeicherte Route auf dem Laptop für Polizei und Versicherung goldwert sein kann.
Es muss schneller gehen! Zuklappen das Teil, und rein in die Tasche. Die Papiere, die Papiere. Wo? Ach, ja, in den Fächern vorn bei mir. Sehr gut, da liegen sie wie von Anfang an geplant griffbereit auf der Backbordseite.
Ich sollte noch die Reiseschecks mitnehmen. Meine Güte, wo sind die nur?
Mist, verdammt! Sie sind herausgefallen, dort liegen sie zwischen den aufgeklappten Segelbüchern. Noch etwas? Ab in die Tasche damit! Und
nix wie hoch ins Cockpit.
Ach ja, Raimars Papiere... Wo könnten sie liegen?
»Marco, komm hoch! Es geht los!!« rief Raimar hinunter.
Ich hängte mir die schwarze Ledertasche um, drehte sie auf den Rücken, und kletterte hinaus. Soeben wurde ein mit Sand gefüllter Erdungssack hinabgelassen.
Er verfing sich in Reling und Schraube. Schleunigst kappte die Hubschrauberbesatzung das Seil.

An einer Winde wurde ein Mann der Königlichen Holländischen Marine vom Helikopter hinabgelassen. Stück für Stück näherte er sich und war mit einem Satz auf dem äußeren Trittbereich des Cockpits. Wie ein Außerirdischer landete er auf unserem Boot. Mit dunklem Schutzanzug und Helm. Die Anspannung war in seinem Gesicht abzulesen.
Raimar packte schnell seine Beine, damit er nicht rückwärts ins Wasser fallen konnte. Der Marinesoldat schaute zum über uns fliegenden Helikopter hinauf, hob den Daumen und winkte.
Anschließend gab er Raimar und mir Handzeichen, wir sollten uns hinsetzen und ruhig verhalten.
Auf einen Wink wurde das Bergungsgeschirr abgelassen. Es pendelte gefährlich hin und her, und der Soldat musste zielsicher und schnell zupacken, dabei die herannahenden Wellen beobachtend.
Raimar erkundigte sich auf Englisch, ob es möglich sei, noch kurz die Papiere von unten zu holen. Die Antwort fiel knapp und eindeutig aus:
»Do you want to go with the helicopter or do you want to stay here???!!!« brüllte der Mann.
»Helicopter...«, sagte Raimar sichtlich kleinlaut und zeigte mit der Hand nach oben.
 
KNRM

So wurde auch Raimar als erster in der Rettungsschlaufe eingehängt und mit Hilfe einer elektrischen Seilwinde nach oben gezogen.
Nun war ich an der Reihe. Ich drehte meine Umhängetasche auf den Rücken. Sie behinderte das Umlegen der Rettungsschlaufe nicht, und somit stand unserer gemeinsamen Rettung nichts mehr im Wege.
Auf Wiedersehen First Cash!
Alles ging schnell. Ein letzter Blick ins Bootsinnere. Das Licht im Salon brannte noch. Mit einem Ruck erhob ich mich in die Lüfte. Unten im Cockpit stand der Marinesoldat und verhinderte mit einem Steuerseil ein zu großes Hin- und Herpendeln meines Körpers, welches den Helikopter bei diesen turbulenten Wetterbedingungen in arge Schwierigkeiten bringen könnte.
Entmastet trieb das Boot in den hohen Wogen, hob und senkte sich. Das Ausmaß des Wellengangs wurde mir von oben erst recht bewusst. Meine Güte, es sah aus wie in den Reportagen über Tony Bullimore und der Tragödie von Sydney-Hobart.
Unsere von Burghard Pieske besagten Hausaufgaben schienen nicht ausreichend gemacht. Während ich mit der Winde zum Helikopter gezogen wurde, fielen mir die markanten Worte ein, die er bei einem Interview für die ORB-Reportage auf der Düsseldorfer Bootsmesse im Februar 1999 sagte:
»Die See ist, wie ich bereits sagte, eine unabhängige Jury, und sie werden auch vor diese Jury zitiert. Und da wird es sich zeigen, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht haben!«
Dort unten lag die See, die Jury, vor die wir zitiert wurden. Gnadenlos, kalt und unbarmherzig. War sie das wirklich? War sie nicht auch faszinierend, betörend und überaus bannend? Ich kann nicht absprechen, dass mich der Anblick des tosenden Meeres von Rettungsschlaufe und Helikopter aus auch begeisterte. Mir wurde bewusst, daß gerade etwas einmaliges passierte. Ein Ereignis, welches die meisten in ihrem Leben niemals erfahren werden. Ich wusste, daß die Fahrt, der drei Tage andauernde Sturm und die Rettung in sich zuspitzender Lage mein weiteres Leben prägen werden. Es sollten Erfahrungen sein, die mir überaus hilfreich sein würden bei weiteren Situationen und Unternehmungen.

Beim Erreichen des Einstieges vom Hubschrauber griff ich instinktiv mit beiden Händen zu und kniete mich auf die Kante. Mit Schrecken musste ich feststellten, daß ich wieder hinausgestoßen wurde. Soeben festen Untergrund unter den Händen und Knien gehabt, und nun bereits wieder in luftiger Höhe. Entsetzen und Empörung waren groß, dachte ich, der mir versetzte Stoß würde den Fall in die Tiefe bedeuten. Doch ich fiel nicht, sondern baumelte direkt unter dem Einstieg des Helikopters. Ich spürte, wie mich zwei kräftige Hände packten, meinen Körper drehten, mir unter die Arme griffen und mich mit einem Ruck ins Innere zogen. Scheinbar ohne Mühe hievte mich einer der Retter vom Eingangsbereich in den hinteren Bereich des großen Marinehubschraubers, wo bereits Raimar auf einem Ballen Decken hockte und mich erleichtert anschaute.
Wie er mir später mitteilte, freute er sich bereits auf diesen Moment, denn er wusste, dass ich versuchen würde, auf allen Vieren ins Innere zu krabbeln. Er startete zuvor ebenfalls diesen Versuch und wurde unsanft und konsequent zurückgestoßen.
Im Marinehelikopter war es sehr laut. Die Ohren begannen zu schmerzen, und ein Mann gab uns Stöpsel aus gedrehtem Papier.
Alles okay? Der Mann zeigte den Daumen nach oben und setzte eine fragende Miene auf.
Ja, alles in Ordnung, Raimar und ich erwiderten das Handzeichen und nickten.
Plötzlich war das unten tobende Meer vergessen, der Hubschrauber nahm mich voll in seinen Bann. Die Akustik, die Männer in voller Montur, das rötliche und grünliche Dämmerlicht, alles nahm meine gesamten Sinne in Anspruch. Die gewaltigen Geräusche des Rotors, des Windes und der Verwirblungen ließen sprachliche Verständigung nur schwer zu.
Ein Soldat schrie mir ins linke Ohr, daß sicherheitshalber nochmals nach dem anderen Boot gesucht werde. Zwar sei ein Rettungsboot der KNRM
zur Time for Sydney unterwegs, aber die Lage würde nochmals gecheckt werden, da es möglich sei, dass das gelbe Boot zu weit ans Ufer trieb und somit eine Rettung aus der Luft notwendig sei.
Welche Position hatte Time for Sydney nach dem Durchkentern? Which position? Which position? Der Mann mit dunklem Overall und Helm brüllte die Frage wiederholt in mein Ohr.
Verdammt noch mal, wie war die exakte Position? Aus dem Kopf kannte ich zwar die Gradzahl, aber mit den Minuten wurde es schwierig.
So drehte der Helikopter einige weite Runden über das Wasser, und der Pilot verständigte sich per Funk mit der KNRM.
 
Crew

Lange, angespannte Minuten flog der Marinehelikopter über das Meer und hielt Ausschau nach der Time for Sydney. Ein weißes Deck ohne Mast und Segel in der schäumenden See bei Dunkelheit auszumachen gleicht der Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen. Gemeinsam mit der kompletten Hubschrauberbesatzung schauten wir durch die Fenster und suchten Stück für Stück der Meeresoberfläche ab. Es waren bange Momente, doch plötzlich rief einer der Soldaten, und sogleich steuerte der Hubschrauberpilot einen Fleck in der See an, der sich wenig später als das gelbe Boot entpuppte. Die Männer zeigten mit den Fingern auf das kleine Boot, und machten uns mit hoch gestreckten Daumen klar, daß alles okay sei. Ein Rettungsboot der KNRM befand sich in unmittelbarer Nähe und hatte Jan und Arne bereits abgeborgen. ...
 
Marco Bertram

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  • Aktivreise
  • Schiffsreise

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