Das Boot hüpfte und sprang wie ein Ziegenbock in die Wellentäler, und Wassermassen donnerten an die Bugwand. In der Bootsspitze spürt man die Bewegungen am stärksten und hört die urigen, glucksenden, donnernden und zum Teil Angst einflößenden Geräusche am intensivsten. Noch war alles ungewohnt, und das ein fürs andere Mal dachte ich, das Boot würde sogleich auseinanderbrechen. In meiner Magengegend machte sich ein drückendes Gefühl breit, und beim Aufstehen um 4 Uhr fühlte ich mich schlaff und hundeelend. Ich schlüpfte in die Segelstiefel. All die anderen Sachen ließen wir stets an, da man jederzeit vom anderen an Deck gebraucht werden konnte.
Segeln & Überleben bei Windstärke 11
Ich warf einen Blick auf den Laptop und funkte vor der Wachablösung mit dem anderen Boot. Es war alles in Ordnung. Ich kroch auf allen
Vieren den Niedergang hoch, stülpte mir die klammfeuchten Handschuhe über und übernahm für die nächsten vier Stunden die Pinne. Es war kalt, und die Nacht war pechschwarz. Sehnsüchtig erwartete ich das Morgengrauen.
Der beleuchtete, rötlich schimmernde Kompass tanzte vor meinen Augen. Vom Hinschauen wurde einem mit der Zeit übel, und so fuhr ich nach Wind, Gefühl und Segelstellung und kontrollierte alle paar Sekunden den Kurs. Gab man nicht acht, schoss das Boot in den Wind, und man musste anschließend eine komplette 360 Grad-Wende vollziehen. Die Müdigkeit fiel über mich her, wie ein Geier über das Aas. Ich mochte meine Augen kaum offenhalten, und das unwohle Gefühl im Bauch verstärkte
sich zunehmend. Nach langen Überlegungen beschloss ich, mich über die Cockpitwand zu übergeben. Kaum war der Entschluss gefasst, würgte ich an der Reling hängend. Mit einer Hand fest die Pinne haltend. Bloß nicht schlapp machen, dachte ich mir und versuchte den Vorgang so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Von Seekrankheit wollte ich nichts wissen. Es war diese verfluchte Bugkoje. Gemütlich war sie, aber fatal zum Schlafen bei Sturm und hohem Wellengang. Ich bereute, dass ich mich nicht gleich auf den Fußboden im Salon gelegt hatte.
...
Ich probierte einen leicht südlicheren Kurs, doch dieser führte uns zu dicht an das parallel zur unserer Route verlaufende Verkehrstrennungsgebiet der Berufschiffahrt heran. Somit entschied ich mich für einen leicht nordwestlichen Kurs.
Der Wind nahm stetig zu, und die See wurde rauher und schwerer befahrbar. Alle Anzeichen sagten einen Sturm voraus. Beim Wachwechsel um 8 Uhr entschied sich Raimar für einen neuen Kurs. Auch ihm waren die zunehmenden Winde und Wellen nicht geheuer. Ein Anbolzen gegen westliche Winde würde Zeit und Kraft kosten. Und das bis England? Einem nahenden Sturm oder gar einem Orkan schutzlos auf offener Nordsee ausgeliefert sein? Von nun an ging es in südwestlichen Richtungen auf die momentan etwa 90 Kilometer entfernte holländische Küste zu. Unsere neuen Zielhäfen waren Ijmuiden oder Den Helder, je nachdem, welcher Kurs am besten zu segeln war.
Auf meine geäußerten Bedenken, ob Jan und Arne diesen neuen Kurs auch akzeptieren würden, antwortete Raimar mit ungewohnter Ruppigkeit: »Die sollen sehen, dass sie Land gewinnen! Können froh sein, wenn wir Holland erreichen! Hier draußen braut sich echte Scheiße zusammen!«
Die genaue Position unseres Kurswechsels war: 54.14,66 Nord und 005.37,59 West.
...
Von Stunde zu Stunde verschlechterten sich die Bedingungen unter Deck. Ich war froh, wenn ich ein paar Minuten auf dem Boden ausgestreckt oder zusammengerollt unter dem Salontisch liegen konnte. In diesem Zustand ging es mir den Umständen entsprechend gut, doch sobald ich unter Deck in Bewegung war, wurde es schlimm. Nur mit Mühe konnte ich das Powerbook mit dem elektronischen Seekartenprogramm bedienen. Das Funken mit dem UKW-Gerät tat ich meist im Liegen. Ich klemmte meine Beine zwischen Navigationstisch und Sitzecke ein, stellte das Funkgerät auf äußerste Lautstärke und hielt die Sprechmuschel vor den Mund.
An Essen und Trinken war beim besten Willen nicht zu denken. Der Magen wollte nichts zu sich nehmen, und die mit der Verdauung zugehörigen Körperfunktionen schienen außer Kraft gesetzt. Nur ein einziges Mal war ich während der drei Tage auf der Toilette. Da es im Cockpit aus Sicherheitsgründen nicht mehr möglich war, über die Reling Wasser zu lassen, kniete ich mich vor die kleine Kloschüssel und versuchte dort mein Glück. Mit einer Hand musste ich mich an das Waschbecken krallen und mit der anderen Hand an meinen Pulloverschichten und der Segelhose zerren. Gerade schaffte ich es, das winzige Klobecken zu treffen und die krampfhaften Hemmungen, die durch das heftige Schaukeln des Bootes hervorgerufen wurden, zu bekämpfen, als sich Jan am Funkgerät meldete: »First Cash, First Cash! Hier ist Time for Sydney, Time for Sydney. Bitte melden. Over.«
...
Die kommende Nacht wurde bösartig. Die Windgeschwindigkeiten erreichten orkanartige Beaufort 10 mit Böen bis zu 11. Der Sturm blies mit an die gemessenen 56 Knoten. Das sind über 100 km/h. Verstärkt galt es Bohrinseln zu umsteuern, welche auf unserem Kurs in Richtung niederländischer Küste lagen.
Das Wasser spritzte permanent vom Bug ins Cockpit. Wenn es heftig kam, donnerten ganze Wassermassen einem ins Gesicht. Man konnte die Augen nicht rechtzeitig schließen, und das salzige, kalte Wasser ließ diese brennen wie Feuer.
Wellentürme erhoben sich wie bedrohliche Monster. Das Segeln glich einer buckligen Achterbahnfahrt. Als Wachhabender musste man auf der Hut sein und die gefährlichen, brechenden Wellenkämme nach Möglichkeit aussteuern.
Während Raimar oben gegen die Wellen ankämpfte, versuchte ich unter Deck ein wenig Ordnung zu schaffen. Auf den Knien rutschend sammelte ich die verschiedensten Utensilien ein und stopfte sie in die Kisten und Schränke. Ich wühlte gerade in einem Schrankfach, mich mit einer Hand am Tischbein festhaltend, als sich unser Boot donnernd auf die Seite legte. Eine heftige Welle brachte First Cash fast zum Durchkentern. Polternd rutschte ich gemeinsam mit den Pfannen, Milchpackungen und Büchsen von einer Seite auf die andere und stieß mir am Navigationstisch den Kopf.
Herrgott, das war heftig! Steht der Mast noch?
Ich brauchte einige Sekunden, um wieder zu mir zu kommen.
Draußen hörte ich Raimar lauthals fluchen. Aus Leibeskräften rief er mich, der peitschende Wind drohte seine Worte zu verschlucken. Ich kletterte den Niedergang hinauf, öffnete die Luke und kroch ins Cockpit. Wir mussten den Kurs etwas ändern. Der Sturm verstärkte sich, und die Wellen nahmen an Höhe und Gewaltigkeit zu. Ich öffnete unsere Batterieluke und schöpfte das Wasser heraus. Auch auf unserem Boot drückten die Wassermassen Feuchtigkeit ins Batteriefach unter dem Cockpitboden. Die Verschlüsse und Dichtungen erwiesen sich nicht als hochsee- und sturmtauglich. Sie mussten auf alle Fälle im nächsten Hafen ausgewechselt werden.
Die heftigen Bootsbewegungen und das Arbeiten über Kopf ließen mich an die Bordwand klettern, um mich zu übergeben. Ich würgte, doch es kam nichts mehr...
(Die Textpassagen stammen aus dem Buch 13 Reise-Fragmente)
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