Bei vielen Dingen merkt man ja erst, wie lieb man sie hat, wenn sie nicht mehr da sind. In Albanien geht es mir so mit Leitplanken. Vor allem in den Bergen auf Straßen, die nie Asphalt gesehen haben, abseits der Zivilisation, wenn ein LKW von vorn kommt, ist die Sehnsucht nach diesen verlässlichen Begleitern aus Metall geradezu herzzerreißend. Dabei sind es natürlich nicht die Straßen, die den Reiz an Albanien ausmachen, auch wenn schlechte Fahrbahnen zu einem richtigen Roadtrip dazu gehören. Wer will schließlich hinterher eine Geschichte darüber hören, wie wunderbar störungsfrei man unterwegs war? Nein, den eigentlichen Reiz macht das Land selbst mit seiner Vergangenheit aus.
Eine Reise durch Albanien: Gruselige Spuren der Diktatur und grandiose Landschaften
Albanien versank nach dem Zweiten Weltkrieg in eine kommunistische Diktatur um Enver Hoxha, der es tatsächlich schaffte, im Laufe der Jahre die Beziehungen zu allen anderen kommunistischen Ländern der Welt abzubrechen, um am Ende vollkommen isoliert dazustehen. Und obwohl Albanien bereits zu diesem Zeitpunkt sehr arm war und niemand ernsthaft Interesse daran haben konnte, das Land zu überfallen, fürchtete Hoxha nichts mehr als das und ließ als Vorsichtsmaßnahme über 200.000 Bunker im gesamten Land bauen. Bei etwa 29.000 km² Fläche macht das etwa sieben Bunker pro Quadratkilometer - und da war der ursprüngliche Plan, 700.000 von diesen Monstern bauen zu lassen, noch nicht mal zu einem Drittel umgesetzt.
Die Bunker haben die Form riesiger Pilze, von denen nur die Kappen aus der Erde ragen. Und weil so ein Ding naturgemäß schwer zu zerstören und Albanien immer noch eines der ärmsten Länder Europas ist, prägen sie auch heute noch oft die Landschaft - auf Feldern, am Straßenrand, am Strand, sogar auf Felsvorsprüngen im Gebirge sollte man vor dem Feind geschützt sein.
Eines der bekanntesten Projekte zur heutigen, nicht-militärischen Nutzung der Bunker ist die Einrichtung Bunk'Art2 in der Hauptstadt Tirana. In einem unterirdischen Tunnelsystem, das für die politische Elite gebaut worden war und über eine Verbindung zum Innenministerium verfügt, wird die Geschichte Albaniens seit 1912 aufgearbeitet und dabei der Schwerpunkt auf den Terror der Diktaturzeit gelegt.
In den engen Räumen, die von noch engeren Gängen abgehen und erdrückend niedrig sind, werden die grausamen Vorgehensweisen von Geheimpolizei und Militär mit authentischen Waffen, Fotografien, Videos und Texten auf eindrucksvolle Weise dargestellt. In einem Verhörraum flackert das Licht im Takt des Pulses des Verhörten, während das Klacken der Schreibmaschine unmissverständlich signalisiert, dass jedes Wort festgehalten wird. In einem anderen Raum gibt es eine Tür, an der man lauschen und die originale Aufzeichnung eines Verhörs mithören kann. Auch ohne dem Albanischen mächtig zu sein, geht das nah.
Die Enge, das fehlende Licht, die Polizeiausrüstung an den Wänden, die stumm von Angriffen, Gegenangriffen und ausgeteilten Prügeln erzählt, sind am Ende so erdrückend, dass ich es gar nicht erwarten kann, wieder an die frische Luft, ans Sonnenlicht zu gelangen.
Das Zitat Mutter Theresas an einer Wand sagt dazu eigentlich alles, was gesagt werden muss:
Überirdisch ist Tirana zum Glück deutlich freundlicher, heller und weiter. An jeder Ecke gibt es eine ganze Reihe Cafés, die zu jeder Tageszeit gut besucht sind. Auf dem riesigen Skanderbeg-Platz im Zentrum trifft man sich zum Schlendern und Schnacken. Es gibt einige Parks, breite Straßen, ein Panorama aus Bergen. Wer in Tirana nach der einen Sehenswürdigkeit wie dem Eiffelturm oder dem Roten Platz sucht, wird nicht fündig werden. Wer sich einfach treiben lässt und ein bisschen Zeit für einen Spaziergang mitbringt, wird sehr viel sehen und sich oft wundern können.
Viele Fassaden vor allem älterer Häuser sind in allen Farben des Regenbogens gestaltet, weil Bürgermeister und Künstler Edi Rama Anfang der 2000er Jahre fand, dass die Stadt bunter werden und den Mief der Vergangenheit loswerden müsse. Neben einem modernen Neubau steht immer eine Reihe alter Häuser. In der Stadt wird viel gebaut, gleichzeitig ist auch viel nie komplett fertig geworden, aber trotzdem in Nutzung.
Weit abseits des Stadtzentrums, am nördlichen Rand Tiranas, ist von der Geschäftigkeit einer Hauptstadt nicht mehr viel zu spüren. Stattdessen finden wir uns mitten auf einem Markt wieder, der mehrere hundert Meter an der Hauptstraße entlang führt und sich in den Nebenstraßen fortsetzt. Die Marktstände bestehen meist aus nicht viel mehr als einer Decke, einer Schubkarre oder einer Wäscheleine, auf denen die Waren liegen oder hängen.
Den Begriff "Hauptstraße" definiere ich hier übrigens nach dem Vorhandensein von Asphalt auf der Fahrbahn, auch wenn sich später noch zeigen soll, dass das keine stichhaltige Definition ist. Ein staubiger Feldweg, der direkt an eine richtige Straße anknüpft, ist weder eine Seltenheit noch etwas, das Google Maps nicht für eine Hauptverkehrsstraße hält. Was man in Albanien gemeinhin für eine bezüglich der Breite befahrbare Straße hält, weicht stark von unserem mitteleuropäischen Standard ab, erklärt aber auch die fetten Dellen und Schrammen, die unser Mietwagen schon bei der Abholung hatte.
Auf dem Weg nach Kruja werden wir von einem Polizisten aus dem Verkehr gewunken. Er spricht nur Albanisch, malt uns aber auf, was wir falsch gemacht haben. Es war ein Überholvorgang trotz durchgezogener Linie. Komisch, wir hatten bisher nicht das Gefühl, dass diese Linie oder irgendein Verkehrsschild hier eine Bedeutung haben. Aber gut, so eine Reise ist ja auch immer dafür gedacht, etwas zu lernen.
Was nun also tun? Die Taktik "abwarten und blöd stellen" ist ja oft erstmal ganz hilfreich. Der Polizist redet auf Albanisch auf uns ein, stellt aber anhand des Schulterzuckens und des fragenden Blickes fest, dass das ziemlich sinnlos ist. Sein jüngerer Kollege versucht es auf Italienisch - Aufgrund der Nähe beider Länder über die Adria ist die italienische Kultur hier sehr beliebt. -, scheitert aber ebenfalls an der Sprachbarriere. Schließlich erhalten wir Führerschein und Fahrzeugschein zurück und dürfen weiterfahren.
Kruja ist eine Kleinstadt, die sich an den Hang des Skanderbeg-Gebirges schmiegt und aufgrund dieser Lage sehr sehenswert ist. Einerseits steht hier mit dem Stadiumi Kastrioti ein Zweitligastadion, das zwar nicht über Flutlicht verfügt, dafür aber über viel Charme und ein außerordentliches Ambiente. Hinter der Gegentribüne erhebt sich nämlich das Gebirge, auf dem die Stadt thront.
Andererseits bietet der Ort einen phänomenalen Blick auf das Tal, der uns spontan veranlasst, die Weiterfahrt für diesen Tag abzubrechen und uns in das Hotel Panorama einzubuchen, das hält, was der Name verspricht. Vom traditionell-albanischen Vier-Gänge-Menü im Hotelrestaurant über die eine oder andere Flasche Rotwein auf unserem Balkon wohnen wir dem Sonnenuntergang vom knalligen Orange am Abend bis zum tiefen Schwarz der Nacht bei. Hier zu bleiben war genau die richtige Entscheidung.
In Durrës sind wir am nächsten Tag zum ersten Mal an der Küste, der wir später Richtung Süden folgen wollen. Durrës ist die zweitgrößte Stadt des Landes und spielt sowohl touristisch als auch wirtschaftlich eine wichtige Rolle. Die Touristen kommen wegen der zahlreichen Strände, die Wirtschaft wegen des größten Hafens des Landes.
Spaziert man über die Promenade mitten in der Stadt, ergibt sich allerdings kein schillerndes Bild einer Touristenhochburg, sondern ein ziemlich trauriges. Die zahlreichen Karussells und Spielstände sind oft alt, verrostet und nicht besucht. Betrieben werden sie überwiegend von älteren Männern, die teilweise bereits gegen Mittag eine Dose Bier in der Hand halten. Hinter der kleinen Mauer zwischen Promenade und Strand liegen einige rostige Tretboote kreuz und quer im Sand verteilt und - Ich halte mich mit dieser Aussage normalerweise zurück, weil ich es für das deutscheste und spießigste aller Urteile halte, aber hier geht es nicht anders. - überall liegt Müll.
Auch südlich der Stadt, wo sich der Strand kilometerweit fortsetzt, ist das Gesamtbild nicht so viel besser. Es mag daran liegen, dass die Hauptsaison vorbei ist, aber ein Strand voller Müll wirkt auch für den folgenden Sommer nicht so richtig einladend. Hinter der Küstenlinie hat sich eine Infrastruktur entwickelt, die ein ganz kleines bisschen an El Arenal auf Mallorca erinnert. Die Hotels sind zwar nicht so schlimm und groß, dafür aber zum Teil nie richtig fertiggestellt worden. Dennoch gibt es eine Menge kleiner Einkaufsläden, ein paar Dienstleister und zahlreiche Cafés, die außerhalb der Saison kaum besucht sind.
Der weitere Streckenverlauf in Richtung Süden gestaltet sich äußerst interessant, weil er einen guten Einblick in das Leben abseits der größeren Städte bietet. An der Straße sind zwischen allerlei fertigen Häusern eine Menge Bauruinen in allen Stadien der Fertigstellung zu sehen. Vom Rohbau, von dem nur die Pfeiler und die Böden der einzelnen Stockwerke existieren, bis hin zum halbfertigen Haus, das unten bewohnt und oben ohne Fenster und Putz ist, ist alles dabei. Wer nicht in seinem Heim wohnen kann, nutzt die Fläche vielfach als Lager für Stroh, Brennholz, Autositze - oder hängt seine Wäsche dort auf.
Oft wird mit dem Hausbau begonnen, wenn ein wenig Kapital zur Verfügung steht, und solange weitergemacht wie das Geld reicht. Ist ein Kredit abgezahlt, kommt der nächste und mit ihm eine weitere Bauphase. Wer Glück hat, kann früher einziehen. Wer Pech hat, nie. Auch mit Hotels, Tankstellen und Fabrikhallen wird oft auf diese Art vorgegangen.
Außerdem bietet der Straßenrand einem bedeutenden Berufszweig der albanischen Privatwirtschaft einen Einsatzort: den Autowäschern. Man kann sich weder inner- noch außerorts mehr als fünf Minuten auf einer Straße fortbewegen, ohne ein Zelt mit der Aufschrift "Lavash" (oder weiter im Süden "Lavasho") zu passieren. Für umgerechnet 1,50 Euro wird das Auto von innen und außen von Hand gereinigt. Erließe jemand eine Berufsbeschränkung für diesen Berufszweig, die Arbeitslosenquote stiege wahrscheinlich um 30 Prozentpunkte.
Je weiter wir uns der Stadt Fier, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt des Landes, nähern, desto häufiger kreuzen andere Straßen unseren Weg. Weil das Bauen von Brücken allerdings sehr teuer ist, wird die Autobahn kurzerhand zur Landstraße degradiert, ein Kreisverkehr dazwischen geschoben und schließlich mit der Autobahn weitergemacht, als wäre nichts gewesen.
Dass wir mit Fier eine der zehn größten Städte Albaniens durchqueren, wird uns währenddessen eigentlich gar nicht bewusst, denn nach Stadt sieht es hier nicht aus. Abseits der Hauptstraße gibt es keinen Asphalt, dafür einen Jungen, der seine Ziege über die Straße treibt. Die Häuser stehen zwar dichter und sind zu einer höheren Quote fertiggestellt, aber alles, was normalerweise die Stadt vom Land unterscheidet, unterscheidet sich hier eben nicht. Es sind so viele Arbeiter und Bauern mit den dazugehörigen Vehikeln auf der Straße, hinter den Schaufenstern wird Brennholz gelagert, überall staubt es. Einzig die große Anzahl an Möbelhäusern, die ihre besten Polstermöbel im Staub der Straße vor dem Haus ausstellen, deuten auf ein Stadtgebiet hin.
Hinter Fier geht es nicht mit dem Autobahn-Landstraße-Kreisverkehr-Spiel weiter. Stattdessen wird nun an den Knotenpunkten die Autobahn auf eine Spur pro Richtung verengt. Hinter einem Schild "Caution! Dangerous crossroad!" kreuzt dann ein kleiner Weg die Straße, vor dem die abbiegenden oder kreuzenden Fahrer nicht unbedingt immer anhalten.
Zumeist gibt es an diesen Kreuzungen eine Art Betongestelle über der Straße, die entfernt an Grundgerüste von Brücken erinnern. Es bleibt zu hoffen, dass diese irgendwann auch wirklich mal gebaut werden. Bis es allerdings soweit ist, stehen im Schatten dieser Teile einige Händler und halten den Autofahrern ihre Ware entgegen. Skurilstes Angebot: ein Kaninchen mit Fell. [Ob es noch lebte, kann nicht abschließend geklärt werden. Es sah jedenfalls nicht glücklich aus.]
In Orikum an der Bucht von Vlora bekommen wir später eine Lektion erteilt. Und zwar darin, wie der Begriff "Nebensaison" zu definieren ist. Wenn du nämlich das einzige Zimmer im Hotel belegst und der Chef vons Ganze erstmal einkaufen fährt, wenn du im angeschlossenen Restaurant Abendbrot bestellst, dann ist Nebensaison. Obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen, fühlen wir uns überaus willkommen. Das Familien- und Sozialleben der Inhaberfamilie findet um uns herum statt und alle verbringen einen schönen Abend auf der Hotelterrasse.
Weiter Richtung Süden auf der SH8 bietet sich 80 Kilometer lang ein unglaublich schönes Panorama, denn die Route führt in einiger Höhe auf einer modernen Gebirgsstraße direkt am Mittelmeer entlang. In der Ferne ragt die Silhouette der griechischen Insel Korfu aus dem Nebel und liegt gelassen zwischen den Wellen, die im Sonnenlicht glitzern. Über enge Serpentinen geht es immer weiter bergab dem Meer entgegen, es könnte ewig so weitergehen.
Etwa 20 Kilometer nordöstlich von Saranda, der Stadt gegenüber von Korfu, ist das Blaue Auge Albaniens zu finden. Syri i Kaltër ist eine Quelle, aus der unter hohem Druck Wasser aus dem Boden sprudelt, das in einem satten Tiefblau strahlt und dafür sorgt, dass die gesamte Umgebung fruchtbar und grün ist.
Das Gebiet steht unter Naturschutz und erinnert eher an eine Tropenregion als an Europa. Trotz des Status' als Naturschutzgebiet und einem großen roten Schild, das jegliches Baden und Tauchen verbietet, tummelt sich eine dreiköpfige deutsche Familie im Wasser und verdirbt mit ihren blassen, dicken Bäuchen allen anderen den ungestörten Blick auf diese Naturschönheit.
Ein paar Stunden später erreichen wir Elbasan, eine Stadt einladend wie eine Straßenunterführung bei Nacht - zumindest auf den ersten Blick. Aus Südwesten kommend baut sich die weite Landschaft des Stahlwerks vor uns auf, das in den 1980er Jahren noch 12.000 Arbeiter in Lohn und Brot gebracht hat und 1999 nach zwischenzeitlicher Schließung von einer türkischen Firma aufgekauft wurde, die allerdings Anfang 2016 Pleite ging. Wegen grober Verstöße gegen Umweltschutzauflagen stieg die Zahl der Krebserkrankungen in der Umgebung stark an.
Im Stadtzentrum ist Elbasan zum Glück das komplette Gegenteil: Das Zentrum wird von einer alten, restaurierten Stadtmauer gebildet, hinter der man ein Museum oder eine Burg erwartet, aber ein Wohnviertel findet. Davor liegt der verkehrsberuhigte Teil des Bulevardi Qemal Stafa, der geradewegs die Altstadt mit dem Stadion verbindet. Dort reihen sich Cafés und Wettbüros nahtlos aneinander, die am frühen Abend sehr gut besucht sind.
Leider befindet sich unser Hotel direkt hinter der Stadtmauer und der verkehrsberuhigten Straße davor. Wir versuchen, es aus allen Himmelsrichtungen anzusteuern, landen letztlich aber immer vor den Pollern, die die Straße absperren. Weil unser Hotel im Internet damit warb, über kostenlose Parkplätze auf dem Privatgelände zu verfügen, stellen wir das Auto also erstmal irgendwo im Halteverbot ab und nähern uns der Unterkunft zu Fuß.
Der Cousin des Schwagers des Inhabers (oder so) erklärt sich sofort bereit, uns zu helfen und lässt sich zum Auto führen. Wir drehen mit ihm am Steuer eine Runde durch die Stadt, auf der er sich solange weigert, sich anzuschnallen, bis ihm das Piepen, das an das Anschnallen erinnert, zu sehr auf die Nerven geht. Wir enden schließlich wieder vor den Pollern und erwarten irgendeine Aktion, die zur Folge hat, dass diese im Boden verschwinden. Stattdessen nimmt er einfach ein bisschen Anlauf und donnert mit einigem Gerumpel über den niedrigsten drüber. Großes Kino.
Später soll sich herausstellen, dass dieser Poller eigentlich ein Stein war, den wir einfach hätten wegschieben können. Aber wo wäre da der Spaß geblieben? Und vor allem das Gerumpel? Der versprochene Parkplatz auf dem Privatgelände erweist sich schließlich als Bürgersteig vor dem Hotel.
Als wir die Stadt am nächsten Morgen verlassen wollen, sind die Poller bereits eingefahren und der Stein zur Seite geschoben, sodass einer nicht den Unterboden aufreißenden Abfahrt nichts mehr im Weg steht. Über einige Bergstraßen, an deren Rand viele Grabsteine stumm davon erzählen, wie wichtig der Bau von Leitplanken ist, geht es Richtung Osten nach Pogradec.
Die Straße bietet oft einen schönen Ausblick auf die umliegenden Täler und gleichzeitig zahlreichen Menschen einen Arbeitsplatz, an dem sie versuchen, ihre Waren zu verkaufen, auch wenn es nicht den Anschein macht, als wäre dies eine sonderlich gute Einnahmequelle. Die Perspektivlosigkeit, mit der viele, vor allem junge, auch hochqualifizierte, Menschen konfrontiert sind, ist hier besonders greifbar. Wer die Möglichkeit hat, verlässt das Land. Wer nicht, dem bleibt oft nicht viel übrig als Kartoffeln am Straßenrand zu verkaufen.
Der Ohridsee, an dem Pogradec liegt, ist mit 2,6 Millionen Jahren einer der ältesten Seen der Welt und gleichzeitig ein beliebtes Ausflugsziel. Am Ufer befinden sich zahlreiche Sandstrände, Cafés und Hotels. Die Orte sind übersichtlich und niedlich, es ist trotz des tollen Wetters nicht überlaufen. Das Panorama der Berge, das den Ohridsee einrahmt, liegt weit entfernt im Nebel und verleiht der ganzen Szene etwas Malerisches. Auf der Wasseroberfläche schwimmen ganze Möwenschwärme und lassen es sich gut gehen oder warten darauf, dass etwas Essbares auf den Zuflüssen angeschwemmt wird. Es lässt sich hier wunderbar entspannen und seine Ruhe haben.
Weil wir den Rückweg etwas abwechslungsreicher gestalten wollen, wollen wir nicht direkt zurück nach Elbasan fahren, sondern einen großen Bogen nach Süden über Korça machen. Als wir unseren Škoda Yeti von der Autovermietung abgeholt haben, gab uns der Mitarbeiter eine Albanien-Karte und verwies darauf, dass wir nur die dort eingetragenen Straßen befahren dürften. Im Nachhinein betrachtet, hätte das ein Hinweis darauf sein können, dass es ratsam gewesen wäre, unseren Plan zu überdenken oder zumindest mal zu prüfen, ob diese Route darauf verzeichnet ist. Andererseits, wo bleibt der Spaß, wenn man nur auf der Autobahn unterwegs ist?
Bis in die Region Korça verläuft alles entspannt und ohne Komplikationen. Okay, hin und wieder springt mal eine Ziege auf die Straße, aber daran gewöhnt man sich in Albanien sehr schnell. In Maliq, einem Vorort von Korça, wechseln wir von der SH3 auf die SH71 und dann beginnt der Spaß.
Aus ein paar Rissen in der Straße werden vereinzelt Schlaglöcher, aus denen später ganze Schlaglochkolonien werden. Diese werden immer größer und dichter, bevor die Straßenbefestigung komplett verschwindet und alles so sehr staubt, dass die Sicht ernsthaft behindert ist, wenn sich ein vorausfahrendes Fahrzeug über die Straße schleppt. Glücklicherweise gibt es davon nur ein einziges, nämlich einen Kleinbus, der uns irgendwann vorbei lässt.
Zeitweise ist die Straße so schlecht, dass wir kaum Schrittgeschwindigkeit halten können - für 55 Kilometer benötigen wir anderthalb Stunden. Glücklicherweise hat man im Straßenverkehrsamt gut mitgedacht und unverzichtbare Warnhinweisschilder aufgestellt.
Es ist kaum nötig, zu erwähnen, dass eine Straßenbegrenzung in Form einer Leitplanke oder ähnlichem nicht vorhanden ist. An vielen Stellen ist die Fahrbahn einfach weggebrochen, als Warnung liegen manchmal ein paar Steine am Wegrand. Diese Fahrt ist eine Achterbahn der Gefühle zwischen der Sehnsucht nach einer Leitplanke und dem Glück über das Ausbleiben von Gegenverkehr.
Irgendwann wird die Straße etwas besser. Sie ist zwar nicht direkt befestigt, dafür aber gut planiert, sodass teilweise sogar 50 Stundenkilometer möglich sind. Dafür haben wir nun immer öfter Gegenverkehr in Form von LKW, deren Fahrer mit dem Motto "Wer später bremst, ist länger schnell" und dem Wissen, dass bei einem direkten Aufeinandertreffen mit einem PKW die Gesetze der Physik auf ihrer Seite stehen, über die Pisten und um die Kurven brettern. Ob das eine echte Verbesserung der Gefahrenlage ist, sei mal dahingestellt.
Später ist die Straße dann plötzlich frisch asphaltiert und dekadenterweise sogar zweispurig - nur hin und wieder fehlt mal für ein paar Meter der Asphalt. Der Grund dafür liegt auf der Hand bzw. links der Straße. Hier wird ein Wasserkraftwerk der ganz großen Art gebaut, das natürlich beliefert und für Pressetermine auch von wichtigen Personen besucht werden muss - und die kommen offenbar nur aus Richtung Norden und haben keine Lust, über irgendwelche Buckelpisten zu schleichen. Die Bauarbeiter sind in einem riesigen Containerdorf untergebracht, in dem sie scheinbar autark leben können.
Über den ungestauten und unberührten Teil des Flusses geht weiter nach Elbasan und schließlich über die Autobahn zurück nach Tirana. Die A3 verbindet beide Städte schon fast vollständig miteinander und wird nur für wenige Kilometer durch eine zweispurige Landstraße ersetzt, wo sich das ganze Geschehen zwischenzeitlich etwas staut. Aber irgendwas ist ja immer.
Auch wenn ich hier und da mal ein paar Leitplanken vermisst habe, ist Albanien ein interessantes Land voller herzlicher und gastfreundlicher Menschen, mit wunderschönen Gebirgslandschaften und einer tollen Küste. Dass das Land viele finanzielle und strukturelle Probleme hat, wird jedem bewusst, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Dennoch scheint man sich hier nicht aufzugeben und betreibt sogar am abgelegensten Teil der schlechtesten Straße des Landes eine Autowerkstatt.
Der Charme des Alten findet sich hier an vielen Ecken wieder - auch wenn es aufgrund der Isolation des Landes vom Rest der Welt nicht der typische Sowjetcharme Osteuropas ist. Die tausenden von Bunkern, die über das gesamte Staatsgebiet verteilt sind, erzählen zwar von einer sehr dunklen Zeit, gehören mittlerweile aber auch zum typischen Bild Albaniens. Sie spielen in diesem Bericht keine Hauptrolle, weil man sich so schnell an ihre Anwesenheit gewöhnt, dass man sie nicht mehr richtig wahrnimmt. Genauso ist es mit den Schaf- und Ziegenherden, die immer wieder unseren Weg kreuzen.
Albanien ist kein gewöhnliches Balkan- oder Ostblockland. Albanien hat aufgrund seiner Geschichte eine ganz eigene Identität voller Gegensätze. Es ist gleichzeitig wunderschön und oft voller Müll. Es lädt zum Entspannen ein und regt zum Nachdenken an. Es ist arm an Geld, aber reich an Improvisationstalent und Gastfreundschaft. Mir persönlich hat diese Reise mal wieder aufgezeigt, wie gut es uns in Deutschland geht, und dass wir alle viel zu unentspannt sind. Denn auch wenn nicht alles perfekt ist, dreht sich die Welt weiter.
Bericht & Fotos: Anika
- Aktivreise
- Städtereise
Benutzer-Bewertungen
habe ich genauso erlebt