Februar 1997. Winter in Berlin. Hinein in den Flieger und nichts wie weg! Für sechs Wochen sollte es nach Indien gehen. Von der Hauptstadt Delhi aus begann eine Reise durch eine bunte Welt, die aus Sicht eines Europäers so fremd und anders - ja manchmal sogar surreal - wirkt. Die Augen ertranken förmlich in Farben von rot, braun, curry und safran. Alle Sinne wurden bis an die Grenze ausgereizt. Los ging es zum Bahai Tempel und zur berühmten Eisensäule von Qutab Minar, und weiter ging die Tour zur heiligen Stadt Vrindavan. Von Vrindavahn ging es damals schließlich weiter in Richtung Agra. Soweit, so gut. Bis hohes Fieber und Durchfall den weiteren Reiseplänen einen mächtigen Strich durch die Rechnung machten. Dem nicht genug, wurde die Rückkehr nach London bzw. Berlin ein wahres Abenteuer. Welche Fluggesellschaft nimmt schon gern arg kränkelnde Fluggäste mit?! Folgend ein Auszug aus dem Bericht „Illusion Indien“, der von Mark Bauch verfasst wurde und im Frühjahr 2003 im Buch „13 Reise-Fragmente“ erschien:
Abenteuer Indien: Todesängste bei Fieber und Durchfall - wenn die Heimreise zur Tortur wird
HotZwei Tage blieben Ben und ich in Agra, bevor es im Anschluss weiter nach Varanasi, einer weiteren heiligen Stadt im Norden Indiens, ging. Erneut nahmen wir den Zug. Varanasi bot wieder pralles indisches Leben. Der Bahnhof quoll förmlich über vor riesigen Menschentrauben. Indische Züge sind stets überfüllt. Ohne Ausnahme. Die Inder reisen meist mit viel Gepäck. Von der Matratze zum Schlafen bis hin zu sämtlichen Hausrat, den man sich nur vorstellen kann. Da Indien ein sehr großes Land und das Schienennetz auch nicht das allerneueste ist, kann man durchaus eine ganze Weile unterwegs sein. Für Europäer empfiehlt es sich, Wertsachen immer dicht am Körper zu tragen und das Gepäck stets im Auge zu behalten. Nicht selten wird in den vollgestopften Zügen geklaut. Ich persönlich bin zu der Meinung gekommen, so wenig wie möglich Gepäck mitzunehmen. Im Notfall kann man vor Ort alles kaufen.
An den Bahnhöfen lauern auch gleich die Rikschafahrer, die einen von A nach B befördern möchten. Ben wollte jedes Mal mit den Fahrern verhandeln, was bei den Indern ins Endlose führen kann, und vor allem ohne Ergebnis… Inder teilten uns später in Gesprächen mit, dass Rikschafahrer kastenlos (sie gehören der untersten Bevölkerungsgruppe an) seien und somit keine Rechte haben. Man könne ihnen geben, was man wolle. Vom indischen Standpunkt aus gesehen ist das wohl auch richtig und möglich, doch für uns Europäer, die nichts oder nur wenig von der dortigen Kultur wissen und verstehen, wird es schwierig. Ich wollte ihnen etwas geben ohne zu diskutieren. Im Anschluss gab es immer das Gezeter und Geschrei der Rikschafahrer. Ben fand dies immer recht amüsant, mich dagegen nervte es.
In Varanasi wohnten wir im Stadtkern nahe dem Bazaar. Unzählige Gässchen, die in andere Gassen und breitere Straßen mündeten, bildeten ein dichtes, scheinbar verwirrendes Geflecht. Der Ganges war nicht weit entfernt, und so machten Ben und ich uns nach unserer Ankunft auf den Weg zu jenem breiten, berühmten Fluss. Sowohl für Ben als auch für mich hatte der Ganges eine ganz besondere Bedeutung. Für die Hindus ist der Ganges heilig. So wird zum Beispiel die Asche der Toten in die Fluten des Ganges gestreut, damit sie gereinigt werden von ihren Sünden. Somit können sie eine »bessere« Wiedergeburt erlangen. Ich dachte wohl, dass beim Anblick des Ganges die Erinnerung an frühere Leben zurückkehren würde. Beim Herannahen des Ufers klopfte mein Herz wild und heftig. Dann lag er vor mir, der heilige Fluss. Doch statt freudiger Erregung spürte ich nur Widerwillen. Ich kann nicht genau sagen weshalb, ich wollte einfach nur weg. Weit weg. Ben schien dagegen förmlich vom Ganges angezogen zu werden, am liebsten wäre er gleich ins Wasser gesprungen.
Dieser Fluss, der mir bisher so viel bedeutet hatte, war nichts anderes als eine widerliche, stinkende Drecksbrühe, in der Tierkadaver und verfaulter Unrat schwammen, und zum Himmel stank. Die schlimmen Zustände waren schnell erklärt:. Der Ganges führte zu diesem Zeitpunkt Niedrigwasser. Alle warteten auf den erlösenden Monsun, der auch dem Ganges neue Frische verleihen sollte. Die Ufer des Ganges werden von den Indern zur Leichenverbrennung genutzt. Auch wir wurden Zeugen einer Leichenverbrennung. Für Reisende aus den westlichen Ländern ist dies ein ganz besonderes Ereignis, und so setzten sich ein paar Touristen über das Fotografierverbot hinweg.
Ich fand diese Situation äußerst peinlich und unangenehm, da ich der festen Meinung bin, dass die Trauernden und die Toten mit Respekt behandelt werden sollten. Das wird auch in Indien erwartet. Man stelle sich nur einmal eine Beerdigung auf einem englischen oder deutschen Friedhof vor, bei der asiatische Touristen hinter den Hecken stehen und neugierig Fotos schießen. Ein Ausflug sollte uns nach Sarnath, sechs Kilometer nördlich von Varanasi gelegen, führen. Sarnath ist neben Bodh Gaya der zweit wichtigste Pilgerort der Buddhisten. Ben und ich stiegen im Zentrum von Varanasi in einen Bus nach Sarnath. Indische Busfahrten sind wahrlich abenteuerlich, und man weiß nie so recht, ob man an sein Ziel erreicht. Sarnath empfing uns als leicht zwitschernde Stille. Es stand ganz im Gegensatz zu Varanasi. Der Legende nach hatte der Buddha seine erste Predigt gehalten und »das Rad der Lehre in Bewegung gesetzt«. Hier standen auch buddhistische Klöster.
Unser Weg führte uns zuerst in den Wild Park, zu jenem Ort, wo der Buddha seine erste Predigt hielt. Der Park war ziemlich groß, und auf dem Gelände sah man noch die Reste des Klosters, das ursprünglich von Buddha erbaut wurde. An einer Stelle des Parks erinnerte ein kleines Denkmal an jenen geschichtsträchtigen Ort. Unser Weg führte uns weiter zum Innern des Ortes. Wir passierten zahlreiche buddhistische Tempel und Klöster. Viele waren bunt angestrichen, und es wehten farbige Fähnchen auf den Tempeldächern. Ein Tempel hatte einen kleinen Garten, in dem Schautafeln errichtet wurden, die das Leben Buddhas darstellten. Alles ging bedächtig zu. Es war, als würden die Vögel zu Ehren Buddhas singen.
Unser Besuch endete in einem tibetischen Tempel. Da ich mich als Schüler Buddhas betrachte, wollte ich einige Niederwerfungen machen. Der Innenraum des Tempels war in ein verrauchtes Halbdunkel getaucht. Der Duft von schwerem Weihrauch lag in der Luft. Von den Seitenwänden blickten tibetische Buddhas auf die Praktizierenden. In der Mitte am Ende des Tempelraumes thronte ein überdimensionaler großer Buddha, der in sich versunken lächelte. Mit mir waren noch einige alte tibetische Frauen im Tempel. Als ich den Tempel betrat, schienen sie ein wenig verwundert. Vielleicht lag das an meiner Kleidung: Ein goldener Sarong, ein T-Shirt und ein kurzes Sommerhemd. Ich lächelte ihnen zu und begann mit meinen Niederwerfungen, was aufgrund meiner Kleidung nicht ganz so einfach war. Anschließend verließ ich den Tempel, und somit auch die Stille Sarnaths.
Auf der Rückfahrt war ich ruhig und glücklich. Mir hatte Sarnath im Gegensatz zu Varanasi gut gefallen. Gern wäre ich ein wenig länger geblieben. Vorbei ging es an Feldern und Häusern. Als wir in Varanasi ankamen, war es bereits früher Abend und Zeit etwas zu essen. Später in der Herberge trafen wir in der Halle einen jungen Inder aus England. Wir kamen ins Gespräch. Das Thema war der Ganges. Ich teilte ihm mit, was ich beim Anblick dieses Flusses empfunden hatte: schlichtweg Ekel. Ben hingegen schilderte voller Euphorie, was der Ganges für ihn bedeute. Er teilte dem Inder mit, dass er ernsthaft überlege, ein Bad im Ganges zu nehmen.
Das war das Stichwort für den Inder. Er berichtete uns, seitdem er in Varanasi sei, bade er morgens und abends im Fluss und er habe bereits die Gottheit Durgas gesehen. Das tägliche Bad habe seinen Glauben um einiges gefestigt. Diese Schilderungen festigten Bens Wunsch im Wasser des Ganges zu baden. In der Zwischenzeit hatte ich mir etwas zu essen bestellt. Beim Gespräch mit dem Inder aus England hielt ich mich zurück. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach. Ich fühlte mich erschöpft von diesem Ereignis und kehrte in den Schlafsaal zurück, um mich auszuruhen. Als einziger war Buck, ein kiffender Holländer, der bereits seit Jahren in Indien lebte, im Schlafsaal. Wir wechselten ein paar Floskeln, und dann herrschte Ruhe. Nur das Summen der Ventilatoren an der Decke war noch zu vernehmen. Da es unerträglich heiß war, liefen ständig die Ventilatoren, wie es für Indien landesweit in öffentlichen Gebäuden, Hotels und Herbergen üblich ist.
Im Bett bemerkte ich, wie es im Magen plötzlich anfing zu rumoren. Ich musste dringend zum Klo. Kurze Zeit später stand es fest: Durchfall! Ich konnte und wollte nur hoffen, dass das Problem schnell erledigt ist. Dem war leider nicht so. Der Durchfall wurde nachts schlimmer. Alles, was ich an Nahrung zu mir nahm, kam postwendend wieder in flüssiger Form raus. Ben kränkelte ebenfalls seit ein paar Tagen, doch jetzt hatte es auch ihn richtig erwischt. Die nächsten Tage mussten wir im Bett und auf dem Klo verbringen. Spätestens ab diesem Moment war es mir egal, ob das Klo ein einfaches Loch war oder eine Keramikschüssel. Statt der geplanten zwei Tage blieben wir eine ganze Woche. In unserem Zustand war an Reisen nicht zu denken. Das war also Indien. Meine Reise. Prima.
Nach einigen Tagen beschlossen wir, weiter zu fahren. Es sollte Richtung Süden gehen, nach Madras. Irgendwie schafften wir es zum Bahnhof zu kommen, zwei Tickets zu besorgen. Dies alles nicht ohne uns zwischendurch einige Male zu erleichtern. Die Zugfahrt verlebte ich in einer Art Dämmerzustand. Als einzigen Proviant hatten wir Kekse und Wasserflaschen bei uns. Das Bild, das uns beim Blick aus dem Zugfenster bot, erschien trotz unser schlimmen Lage unbeschreiblich. Von grünen Wäldern bis hin zu wüstenähnlichen Gegenden sahen wir alles. Menschen, die auf Reisefeldern arbeiteten oder am Fluss Wäsche wuschen. In Bodh Gaya stoppten wir. Ich wollte unbedingt den Bodhi-Baum sehen, unter dem der Buddha seine Erleuchtung hatte. Ben war ziemlich schwach, und ich konnte ihn nicht allein lassen. So schlug ich einige Angebote aus, mit nach Bodh Gaya genommen zu werden. Ich musste mich um eine Arznei gegen Durchfall bemühen. An einem Drogeriestand kaufte ich ein Elektrolytpulver. Meine Immodiumtabletten waren längst aufgebraucht. Ohne sie hätten wir gar nicht erst weiterreisen können. Wir schütteten es in unser Wasser und erhofften Besserung. Vergebens. Immerhin bekamen wir die benötigten Elektrolyte und Nährstoffe, die wir dringend brauchten. Auch diesbezüglich hatte ich meine Zweifel. Indien war Fake.
Nach mehreren Stunden auf dem Bahnhof ging es weiter nach Puri, einem Seebad und Erholungsort der Inder. In Puri verbrachten wir die Zeit in einem angenehmen Zimmer. Ein Raum für Ben und mich allein. Nach all den Massenunterkünften in den Herbergen war es der pure Luxus.
Mal davon ganz abgesehen, dass wir noch sehr krank waren. Hinzu kam ein weiteres Problem: das Klima. Hatten wir es bisher mit gemäßigten, warmen Temperaturen zu tun, so musste sich unser Körper nun an tropische Verhältnisse mit hoher Luftfeuchtigkeit gewöhnen. Die Stunden der Nacht waren für uns die einzige Erholung. Für kurze Zeit wurde die Luft angenehm, da der Wind vom Meer erfrischende Kühle brachte. Selbst am frühen Morgen herrschten dann wieder hohe Temperaturen.
Sobald ich tagsüber die klimatisierten Räume verließ, war ich von oben bis unten durchgeschwitzt. Dies hatte zur Folge, dass ich eine grippenähnliche Erkältung mit schweren Halsschmerzen bekam. Der Teufelskreislauf aus Krankheiten nahm einfach kein Ende. Am zweiten Tag redete ich auf Ben ein, in Puri mit zu einem Arzt zu gehen.
»Yes. Hospital. End of Puri«, antwortete der Hotelbesitzer in schlechtem Englisch auf unsere Frage nach einem Arzt. Wir nahmen die Riksha zum Hospital. Das »Hospital« war eine provisorische Lehmhütte auf einem weiten Gelände. Es gab keinen Empfang und keine Anmeldung, nur eine große Gruppe wartender indischer Frauen mit ihren Kindern. Ein kleiner Inder in weißem Kittel fragte, was unser Problem sei. Unsere Antwort: diarrhea. Nun gut, er brauche Stuhlproben von uns. Kurzerhand schickte er uns mit zwei Mikroskopglasträgern zum Abort.
Wieder zurück dauerte die Untersuchung, die nur aus den beiden Stuhlproben bestand, ganze zwei Minuten. Anschließend sagte uns der Laborangestellte, wir sollen das bekannte Elektrolytpulver nehmen, und wenn es nach drei, vier Tagen nicht besser würde, müssten wir in eine Großstadt fahren, um dort nochmals einen Arzt aufzusuchen. Mittlerweile waren wir seit mehr als einer Woche krank. Ich fühlte mich schlecht und elend. Ich konnte gar nicht so viel trinken, wie ich benötigte, um das Flüssigkeitsdefizit aufzuheben. Ich war hin und hergerissen. Was sollte ich tun? Weiterfahren nach Madras und dort in ein Krankenhaus gehen? Ich wußte es nicht.
Die darauf folgende Nacht war der blanke Horror. Ich tat kein Auge zu. Alle Knochen schmerzten, und ich bekam kaum noch Luft. Todesgedanken schossen mir durch den Kopf. Absurder Weise. Entscheidungskampf. Langsam kam in mir der Wunsch auf, nach Hause zu fahren. Im Laufe der Nacht traf ich die Entscheidung. Es ging einfach nicht mehr. Gleich am kommenden Morgen machte ich mich auf die Suche nach einer travel agency. Ich benötigte zuerst einen preiswerten Flug nach Delhi. In Puri gab es nur eine einzige Agentur für Flüge. Der Flug sollte 135 US-Dollar kosten. Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu buchen. Immerhin konnte ich bereits am nächsten Tag fliegen. Allerdings hatte die Sache einen Haken. Der Flughafen konnte nur mit einem Taxi erreicht werden, da er eine Stunde von Puri entfernt lag. Das Taxi kostete nochmals runde 10 Dollar. Erleichtert, bald wieder Zuhause zu sein, verbrachte ich den letzten Tag am Meer.
Ein Gefühl von Traurigkeit überkam mich, als ich abends mit Ben zum Strand ging. Ich weiß nicht wieso. Ich war einfach nur zutiefst traurig. Tränen liefen mir über die Wangen, und ich fühlte mich schlecht. Am nächsten Morgen ging es früh los. Das Taxi kam pünktlich. Ich verabschiedete mich von Ben und wünschte ihm alles Gute für seine weitere Reise, er würde es nötig haben. Im Taxi rumpelten wir auf unebenen, verlassenen Straßen in Richtung Airport. Hin und wieder fragte mich der Fahrer, ob ich nicht noch etwas Geld habe. Die Fahrt dauere länger, und zusätzliche Kosten fielen an.
Ich verneinte und sagte dem Mann hinter dem Steuer, ich habe all mein Geld für das Flugticket ausgegeben, sorry. Der Fahrer schien beleidigt und schwieg für den Rest der Strecke. Am Airport angekommen, lud er schnell mein Rucksack aus und verlangte Geld. Ich ignorierte ihn und suchte die Abflughalle. Indisches Chaos. Ich fand den Check-in-Schalter und gab der Frau im Sari mein Ticket.
Da ich krank war, reservierte sie gleich mehrere Sitze für mich. Das fing gut an, dachte ich. Doch ich irrte mich. Der Flug hatte Verspätung und würde erst in zwei bis drei Stunden gehen. Das übliche Sorry. Ein Essen wurde vorbereitet, um die Fluggäste ruhig zu halten. Am Buffet kam ich mit einer Deutschen ins Gespräch, die genauso wie ich indisch gekleidet war. Sie war gerade auf dem Weg nach Kaschmir. Da erst wenige Monate zuvor einige Touristen entführt und als Geiseln genommen worden waren, gab ich meine Bedenken kund. Ohne Erfolg. Sie wolle nach Kaschmir, so oder so. Damit war das Gespräch zu Ende. Ich musste ohnehin wieder aufs Klo.
Stunde um Stunde verging. Letztlich verbrachte ich den halben Tag auf dem Flughafen und auf dem Klo. Bevor ich abfliegen konnte, gab es noch einen kleinen Eklat. Ich sollte Wasser, das ich getrunken hatte bezahlen. Ich weigerte mich, da mir zuvor mehrfach versichert wurde, dass sei im Service mit inbegriffen. Nach einigem Hin und Her passierte ich den Check-in-Bereich und war für den aufgebrachten Kellner vom Catering nicht mehr erreichbar. Im Flugzeug schlief ich die meiste Zeit. Ich war an meine körperlichen Grenzen angelangt. Das Flugzeugpersonal ließ mich in aller Ruhe dahindämmern. Sie schienen vertraut mit kranken Fluggästen wie mich. Ich war froh, nach gut zwei Wochen wieder am Delhi Airport angekommen zu sein. Trotz aller Hektik und all dem Chaos.
Mein erster Weg führte mich wie üblich zum Klo. Anschließend galt es, die Airline ausfindigzumachen. Nachdem ich auf dem Airport einige Zeit vergeblich umhergeirrt war, fand ich endlich das Büro der United Airlines. Erschöpft krächzte ich mein Sprüchlein, dass ich krank sei und ganz schnell nach Hause müsse. Für die kommende Nacht hatte ich einen Flug. Zurück nach Deutschland. Ich musste nur noch die gut neun Stunden auf dem Flughafen überstehen. Mein Flug nach Berlin ging erst in der Nacht um zwei Uhr. Ich habe keine Ahnung, wie ich diese schier endlosen Stunden verbracht hatte, auf jeden Fall war es endlich soweit. Check in and boarding! Müde, aber erleichtert ließ ich mich in den Sessel der Boeing fallen, bald bin ich Zuhause. Dann wird alles gut… Nach zirka 10 Minuten kam eine Stewardess zu mir und fragte mich, ob ich krank sei und wie es mir gehe. Ich antwortete, ich sei krank und es gehe mir den Umständen entsprechend.
»Would you be so kind to see a doctor. It´s for your own good. You can return to the aircraft after seeing a doctor.«
Ich stimmte zu. Was blieb mir anderes übrig? An der Gateway standen ein genervter indischer Arzt und eine Krankenschwester. Der Check bestand darin, dass er meinen Puls fühlte, die Schwester übersetzte alles, und mir ein paar ominöse Pillen gab. Lapidar wurde mir nebenbei mitgeteilt, dass der Flieger gerade gestartet sei. Ich war einer Ohnmacht und den Tränen nahe, so fassungslos war ich. Ich beschwerte mich. Was denn nun aus mir werden solle, krank und ohne Unterkunft.
Die Antwort bestand nur aus Achselzucken, und eh ich mich versah, stand ich mit meinem Gepäck allein in der Gangway. Wieder machte ich mich auf den Weg zum Schalter der United Airlines. Diesmal war es allerdings um einiges schwieriger einen Rückflug zu bekommen.
»No, sorry, Sir. All flights to Europe booked out«, war die lächelnde, aber bestimmte Antwort des Servicepersonals am Counter. Nach einigem Hin und Her bekam ich das okay. Man schaue, was sich machen ließe, versicherte man mir. Ich sollte später noch einmal wiederkommen. Etwas beruhigter machte ich mich auf die Suche nach einer Unterkunft. Ich brauchte dringend Erholung und Ruhe. Ich weiß nicht, wie ich es bewerkstelligte, aber ich fand ein Hostel in der Nähe des Airports. Das Sprichwort »Der Mensch wächst in höchster Not über sich hinaus« traf in dieser Situation wohl zu.
Mir war alles egal. Notdürftig verstaute ich meinen Rucksack unter der Liege. Erschöpft und übermüdet ließ ich mich auf die Pritsche im Schlafsaal fallen. Ich musste wohl einige Stunden fest geschlafen haben, denn als ich aufwachte war ich völlig irritiert und wußte nicht, wo ich mich befand. Erst langsam kam die Erinnerung wieder. So gut es ging versuchte ich mich aufzurappeln und schnell zum Counter zu gehen, um meinen Rückflug endlich dingfest zu machen. Ich bezahlte die Zeit auf der Pritsche und fand mich Augenblicke später am Schalter von United wieder. Ja, versicherte man mir, ein Platz sei mir sicher. Unsägliche Freude durchströmte mich. Jetzt galt es, für meine Rückkehr in Deutschland alles zu organisieren.
Als erstes rief ich meinen Freund Stefan in Berlin an. Die Verbindung war gnadenlos schlecht. Er verstand mich so gut wie gar nicht, da ich nur flüstern konnte. Stefan bekam somit nur Bruchstücke mit, aber erfasste schnell die Situation. Dieses Überseegespräch war das teuerste Telefonat meines Lebens. Ganze 60 Dollar hatte es gekostet! Abends fand ich mich dann zur gewünschten Zeit am Check-in-Counter ein. Plötzlich sagte man mir, ich müsse mich gedulden, es sei noch nicht sicher, ob ich fliegen könne, da ich auf der Warteliste stehe. Fassungslosigkeit. Banges Warten. Geschickt wurde ich gefragt, wie es mir denn heute gehe.
Meine Antwort war kurz und knapp: gut! So musste ich mich ein weiteres Mal in Geduld üben. Mittlerweile waren wir ein kleines Grüppchen an Wartenden. Nach Stunden des quälenden Wartens begann wieder der Check-in und im Anschluss das Boarding. Meine Gedanken und Gefühle waren eins: weg! Einfach nur weg! Sollte es diesmal klappen? Ich suchte nach Alternativen und fragte vorsichtshalber bei anderen Airlines.
Diesmal klappte es, ich war beim Boarding tatsächlich dabei. Zum zweiten Mal saß ich in der Maschine in Richtung Europa. Diesmal stellte sich mir eine Stewardess vor, deren Name Louise war. Sie war etwas älter und recht fürsorglich zu mir. Wenn ich irgendwelche Probleme habe, könne ich mich an sie wenden. Ich bedankte mich, und wenige Minuten später hob die Maschine ab. Der Flug war eine einzige Strapaze. Im Gegensatz zum indischen Inlandsflug hatte ich kaum Platz. An Ruhe war kaum zu denken. Halbstündig checkte Louise meinen Gesundheitszustand und brachte mir frisches Wasser.
Nach acht Stunden landeten wir dann in London. Beim Anflug auf London-Heathrow gingen mir durch den zunehmenden Druck meine Ohren zu. Trotz Schlucken, kauen und Bonbon lutschen war nichts zu machen. Die Ohren waren Dank der Angina zu. Jetzt hörte ich auch nichts mehr. Dies teilte ich der Stewardess mit. Nach der Landung wurde für mich der Weitertransport organisiert. Ich verließ die Maschine und wurde in einen bereit stehenden Rollstuhl verfrachtet. Wie das Leben so spielt, war mein Transporteur ein Inder. Er fragte mich, was mein Problem sei und woher ich komme. Mittlerweile war ich ganz firm im Erzählen meiner Krankengeschichte. Als ich meine Story beendet hatte, sagte er mir, dass alle in Indien krank werden würden. Selbst Inder, die in Europa leben müssten sich bei ihrer Heimkehr erst wieder einleben. Leben und Umstände seien dort einfach anders.
Abgesehen davon dürfe man an Ständen oder in billigen Shops kein Wasser kaufen, da dieses kein Mineralwasser, sondern von Händlern abgefülltes und eigens verkorktes Leitungswasser sei.
Das hätte ich mal früher wissen sollen! So saß ich im Rollstuhl wie ein alter Greis, war auf Hilfe angewiesen, krächzte nur noch unverständliches Zeug und konnte so gut wie nichts mehr hören. Ein toller Zustand. Ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich noch warten musste, bis ich zum nächsten Flug gebracht wurde. Ich sah wohl ziemlich schlecht aus, denn man fragte mich, ob ich denn nicht ins Hospital in London gehen wolle. Ich verneinte und gab zu verstehen, dass ich nur noch nach Hause wollte. Dort wäre schon alles geregelt, ich würde dort in ein Krankenhaus gehen.
Die deutschen Stewardessen des Zubringerfluges waren kühl und reserviert. Die Maschine war halbvoll, und so hatte ich genügend Platz. Nur noch wenige Minuten, und du bist in Berlin, dachte ich, während ich vor mich hinfröstelte. Die dünne Decke konnte mich nicht wärmen. Als wir in der Luft waren, knallte die Stewardess nur das Frühstück aufs Klapptischchen und war im selben Moment auch schon verschwunden. Hier interessierte es niemanden, wie es mir ging.
Das Frühstück rührte ich nicht an. Kälte und Hitze wechselten sich in meinem Körper ab. Ich musste wohl hohes Fieber haben. Eigentlich liebe ich das Fliegen, doch in diesem Moment wurde es zur Qual. Es schien, als hätte der Himmel sein Angesicht mir gegenüber verschleiert.
Grau. Tiefes Grau. Dämmerte es in mein Unterbewusstsein.
Berlin. Eine leichte weißgraue Schneedecke verhüllte alles. Ich war verwundert.
…
Der Bericht wurde 2003 im Buch „13 Reise-Fragmente“ (Autoren Mark Bauch & Marco Bertram) abgedruckt.