Leider genügt ein Menschenleben bei weitem nicht, um alle sehenswerten Ecken unser Erde zu besuchen. Die Zeit rennt, der Alltag hat einen mitunter fest im Griff. Tallinn? Wann war das? Dezember 2005? O meu Deus, würde man in Brasilien sagen. Meine Güte, schon über 12 Jahre her? War es nicht die Stadt, die uns kurz vor Weihnachten verzaubert hatte? Wo wir - ungewollt - ein Stockwerk über einer Striptease-Bar genächtigt hatten? War es nicht die Stadt, wo ich im Schwarzlicht einer Kneipentoilette mit Schrecken meine ersten grauen Haare an den Schläfen entdeckt hatte? Es war ein Schock. Schnell an den im grässlichen Licht weiß leuchtenden Haaren gerupft und dann zurück an den Tresen. Ich werde alt, schoss es mir durch den Kopf. Aber alles halb so wild. 12 Jahre später bin ich noch kein Greis, ich bin fit und voller Tatendrang. Ein paar hübsche Städte sollen noch „erobert“ werden. Mit einem guten Freund ging es kürzlich in die lettische Hauptstadt Riga. In einem Flieger mit der Harfe am Heckflügel rührten wir den Cappuccino im Pappbecher und schauten bei der Landung gespannt auf das unten Gebotene. Willkommen in Riga! Und der Begriff „erobert“ bekam eine Bedeutung. Riga hatte uns in Windeseile erobert. Ohne sehr große Erwartungen reisten wir in diese Stadt, bereits nach einem Tag waren wir uns beide sicher: Diese Stadt hat wirklich was!
Verliebt in die Stadt Riga - ja, so schnell kann´s gehen…
Gleich nach Ankunft wurde deutlich, weshalb Lettland in der Europäischen Union einen Spitzenplatz in Sachen Netzausbau einnimmt. W-Lan im Kleinbus, W-Lan in fast jedem Restaurant, im Zug und auf den Bahnhöfen. Ohne Anmeldung, stets mit gutem Empfang. So müsste es eigentlich überall in Europa sein. Mit Händen und Füßen eingecheckt im Hostel - die Hausdame konnte kein Wort Englisch - und dann hinein in die riesigen Markthallen hinter dem Hauptbahnhof, in denen man so ziemlich alles bekommt, was das Herz begehrt. Kein Touristenmagnet, sondern ein echter Dreh- und Angelpunkt für die Einheimischen. Vom Großmütterchen mit Kopftuch bis hin zum Großeinkäufer. Für kleines Geld ist es dort möglich, in einem der kleinen Imbiss-Restaurants oder an einem Stand was leckeres zu futtern. Alles ist preiswert, außer das Bier! Alkoholische Getränke sind zwar aus Sicht eines Deutschen durchaus bezahlbar, doch für Einheimische sind es im Vergleich bereits skandinavische Verhältnisse.
Apropos Bier. Eine Anekdote soll mal gleich vorangestellt werden. Am ersten Nachmittag ließen wir in der Altstadt von Riga die Seele baumeln und leckeres schwarzes Bier aus Krügen die Kehle hinunter laufen. Eigentlich sollte es nur ein kurzes Päuschen im Sonnenschein sein, dann wurden es doch ein paar Stunden. Plötzlich saßen ein paar Deutsche, ein lettischer Eishockeyspieler und ein Aserbaidschaner mit am rustikalen Holztisch. Die Zeit verging beim regen Austausch wie im Fluge, und im späteren Verlauf des Abends wollte ich noch zwei, drei Flaschen Bier in einem Supermarkt am Bahnhof holen. Den Absacker für das Zimmer quasi. Im Supermarkt beherzt zugegriffen und ab zur Kasse, wo sich bereits das Wachpersonal positionierte. Grimmige Blicke, ich schaute einfach mal grimmig zurück. Als ich an der Reihe war, griff die genervte Kassiererin die Flaschen und stellte sie hinter sich auf den Boden. Wie jetzt?! „Come back tomorrow morning!“, wurde mir vom Wachschutz mitgeteilt. Kein Alkoholverkauf nach 22 Uhr! Bier in einer Kneipe - okay. Verkauf in Läden, Imbissen und Supermärkten - ein mehr als striktes Nein! Ohne Wenn und Aber. Laut Statistik ist Lettland neben Weißrussland führend beim Alkoholkonsum, und somit soll das Ausufern der Sauferei auf Plätzen und Straßen ein wenig eingedämmt werden.
Am nächsten Morgen blinzelte die Sonne durch das Fenster unserer Unterkunft. Diese befand sich vis-à-vis zum Bahnhof mit seinem großen Vorplatz. Die Geräusche des pulsierenden Verkehrs drangen durch das offene Fenster. Im Bett liegend, die Augen noch geschlossen, erinnerte ich mich mit einem Mal an das Ciao-Hotel an der Ramses-Station in Kairo. Auch dort wurde man von der Sonne und vom regen Straßenverkehr geweckt. Kairo und Riga. 1996 und 2017. Plötzlich schien alles raum- und zeitlos.
Noch ein paar Minuten die Augen geschlossen halten, dann aus dem Bett und zurück in die Realität gehüpft. Bei strahlend blauem Himmel führte der Weg gleich wieder rüber zu den Markthallen, wo es uns ein kleiner Imbiss mit Sitzmöglichkeit angetan hatte. Bulette, Kartoffeln, Spiegelei, dazu Salat. Zum Frühstück? In diesem Fall ein klares ja! An einem anderen Vormittag griffen wir jedoch schräg gegenüber an einem Backwarenstand zu und beobachteten mampfend die vorbeiziehenden Leute. Im Anschluss ging es raus, um zu Fuß die Stadt zu erkunden. Und das lohnt sich wahrlich! Die an der Daugava (Düna) und an der Rigaischen Bucht liegende Stadt Riga, deren Wurzeln bis zurück ins 12. Jahrhundert gehen, hat derzeit knapp 700.000 Einwohner (rund eine Million in der Agglomeration). Somit ist Riga die größte Metropole im Baltikum. Allerdings könnte theoretisch die litauische Hauptstadt Vilnius in gar nicht mal so ferner Zukunft diesen Rang übernehmen. Riga verzeichnet einen sehr deutlichen Bevölkerungsrückgang. So hatte die eigentliche Stadt Riga im Jahr 1990 noch 909.000 Einwohner, in der Gegenwart sind es demzufolge über 200.000 weniger!
Nun könnte man schnell die Schlüsse ziehen, dass die Rückwanderung von Russen nach Russland die Hauptursache sein könnte. Jedoch fällt dieser Aspekt nicht allzu sehr ins Gewicht. Vielmehr sind es die Abwanderung in umliegende Gemeinden in Lettland und nach Westeuropa sowie die extrem niedrige Geburtenziffer, die Riga zu schaffen machen. Bereits in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik zählte deren Geburtenrate zu den niedrigsten aller Unionsrepubliken. Gibt es in absehbarer Zeit keine Trendwende, so könnte sich die Einwohnerzahl bis 2050 halbieren.
Dass innerhalb von einem Vierteljahrhundert mal eben die Einwohnerzahl der lettischen Hauptstadt um rund 200.000 Menschen abnahm, ist in manchen Straßenzügen sehr deutlich erkennbar. Während der Altstadtbereich bis ins Detail saniert und renoviert wurde und sich somit wahrlich nicht verstecken muss, kann es in anderen Stadtvierteln mitunter völlig anders aussehen. Leerstand! Zahlreiche Altbauten liegen einfach brach oder werden zu Teilen von nur noch wenigen Leuten bewohnt. Einerseits lohnte es sich nicht, zahlreiche Wohnhäuser zu sanieren, andererseits wollte man diese nicht voreilig abreißen. Man weiß ja nie, ob nicht doch eine Trendwende ganz plötzlich eintreten könnte. Die meisten halb leer stehenden Gebäude wären noch sanierungsfähig, wenngleich manch eine Fassade und Innenhof den Betrachter erstaunen lässt.
Die Zeit scheint mitunter stehen geblieben. Und auch dies hat bekanntlich seinen eigenen Charme. Das Auge kann sich gar nicht satt sehen an all den Details. Mal ist es ein Hofzugang, eine Einfahrt oder eine alte Lampe. Ein anderes Mal lädt ein verwitterter Schriftzug aus Sowjetzeiten zum Fotografieren ein. Wiederum an anderer Stelle zieht die baltisch-skandinavische Holzverkleidung eines Wohnhauses mit festem Fundament die Blicke an. Fassaden, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr verändert haben. Und selbstverständlich fragten wir uns mitunter, weshalb in manchen Innenhöfen keine Erde und kein einziger Grashalm zu finden war. Stattdessen nur Staub und Sand. Wie mag dies an einem feuchten nebligen Novembertag aussehen?
Beim Wandern durch Riga lief immer wieder das Kopfkino an. Es war wie eine Reise durch verschiedene Zeitepochen. Innen- und Altstadt stehen dazu im krassen Gegensatz. Wunderbar spazieren lässt es sich selbstverständlich auch dort. Die Kombination aus beidem macht Riga aus. Diese Stadt ist nicht 0815, nicht austauschbar, sie lässt Lebensfreude und zugleich Trauer und Schmerz spüren. Und genau dies ist, warum wir Riga so schnell in unser Herz geschlossen hatten. In Riga spürten wir etwas, was in ähnlicher Form auf dem Balkan anzutreffen ist, wenngleich Riga nun wirklich nicht einer Balkan-Metropole gleicht.
Den Hauch von Skandinavien spürt man als Reisender, wenn mit der Eisenbahn die Strecke von Riga nach Sloka zurückgelegt wird. Totale Entschleunigung. Zurücklehnen im Großraumwagen, aus dem Fenster schauen, die Leute beobachten, den lettischen Ansagen beim Einfahren an den einzelnen Bahnhöfen lauschen. Und klar, neben dem Baltischen und Skandinavischen ist auch eine Prise Sowjetunion / Russland zu spüren. Betritt man in Rigas Stadtzentrum das markante Gebäude der Akademie der Wissenschaften, das ganz stark an Moskau und auch Warschau erinnert, so fühlt man sich glatt zurück in die frühen 1990er erinnert.
Der Geruch von Bohnerwachs, die leicht muffige Bedienung im öffentlich zugänglichen Betriebsrestaurant des Hauses. Überbackenes Fleisch, Sauerkraut, rote Beete. Alles wird gewogen und anschließend auf den Teller gepackt. Dazu einen Most. Izbaudiet maltīti! Beim Gang zu einer an anderer Ecke befindlichen Toilette war es möglich, in dem einen oder anderen Flur vorbeizuschnuppern. Leere Säle. Verstaubte Kisten mit Ordnern in den Ecken. Aufgestapelte Büromöbel in einem offen stehenden Raum. Hätten wir gedurft, hätten wir genug Zeit gehabt - wir hätten den ganzen Tag in diesem Gebäude verbracht und das Kopfkino immer wieder eingeschaltet …
Fotos: Marco Bertram