22. April 2012. Der FC St. Pauli empfing in der 2. Bundesliga den Erzrivalen F.C. Hansa Rostock – und das Spiel geriet zur Nebensache. Fast. Immerhin ermöglichte es das Hamburger Oberverwaltungsgericht, dass es eine Rostocker Fandemo quer durch Altona geben durfte. Knackig, laut und präsent. Nicht nur ein lapidares Stelldichein am Hauptbahnhof, wie sich das die Polizei und das Verwaltungsgericht vorgestellt hatten. Die gute Nachricht des Tages mal gleich vorneweg: Die Rostocker Fandemo verlief überaus friedlich. Probleme gab es nur nach der Partie mit einigen Anhängern des FC St. Pauli, die den Kontakt mit den polizeilichen Einsatzkräften suchten.
Rostocker Fandemo verläuft friedlich, St. Pauli-Fans zoffen sich mit der Polizei
HotAlles der Reihe nach. Schwerin in aller Herrgottsfrühe. Der Regionalexpress aus Berlin rollt ein und setzt seine Fahrt in Richtung Wismar fort. Man musste bereits gegen drei Uhr aufstehen, um diesen Zug in der deutschen Hauptstadt zu erwischen. Nicht ganz so früh, doch ebenso zeitig mussten sich die Anhänger des F.C. Hansa Rostock auf die Beine machen, um ihre Verbindung nach Schwerin bzw. Hamburg zu erreichen. Auf der Strecke Rostock – Schwerin gibt es derzeit Schienenersatzverkehr, doch die Deutsche Bahn hatte etliche Busse bereitgestellt, um die Rostocker in die Mecklenburgische Landeshauptstadt zu bringen.
Gegen 7:30 Uhr treffen die ersten Rostocker Fans am Schweriner Hauptbahnhof aus dem Umkreis ein und ordern einen kräftigen Kaffee. All die Zivilpolizisten tun es ihnen gleich, der Tag könnte schließlich hart und lang werden. Mit fünf Minuten Verspätung treffen schließlich die Busse des SEV unter Blaulichtbegleitung am Bahnhof ein. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Busse. Die Schlange nimmt gar kein Ende mehr. Hinein in den Regionalexpress nach Hamburg und Platz genommen, so weit vorhanden. Eine Atmosphäre wie auf einer Klassenfahrt. Handzettel werden verteilt. „Regeln für die Demo“. Friedlich sollte es bleiben. Das war das A & O des Tages. Kein Alkohol. Fans anderer Vereine sollten akzeptiert werden. Das sorgte zwar für Diskussionsstoff, wurde jedoch so weit von der breiten Masse angenommen.
In lockerer Atmosphäre nähert sich der vollgestopfte Zug der Hansestadt Hamburg. Eine Durchsage erfolgt. Der Zug hält acht Minuten am Hauptbahnhof und fährt dann weiter nach Altona. Dort würde gegen elf Uhr die Fandemo starten. Am Zwischenstopp erfolgen ein paar Wortgefechte mit den Passanten und den behelmten Polizisten, doch soweit bleibt alles ruhig. Auch der bei der Ankunft in Hamburg Altona geht alles sehr gesittet und geordnet vonstatten. Auf dem Bahnhofsvorplatz wird sich gesammelt, im Untergeschoss kann noch an diversen Kiosken und Imbissen ein Häppchen zu sich genommen werden. Nur zu! Für einen Abstecher auf den Fischmarkt wird schließlich keine Zeit bleiben.
Mit rund 30 Minuten Verzögerung startet die Rostocker Fandemonstration, die auf Grund des Kartenverbots für Gästefans organisiert wurde. Ein Nordduell ohne Gästefans. Und das nicht, weil die Vereine oder der Verband das so wollten. Nein, die Hamburger Polizei hatte das so durchgesetzt. Groß die Wut und die Enttäuschung bei den Ultras bzw. Fans des FC Hansa Rostock, die sich unter Generalverdacht befinden.
Nur zu klar, dass die Polizei von Seiten der Demoteilnehmer ihr Fett wegbekam. „Klaut den Bullen ihre Stullen“ und ein weniger freundliches „Fi*** die Polizei“ waren zu lesen. Dazu einige Transparente und Spruchbänder mit einem Augenzwinkern, wie „Emotionen respektieren, Raucherbeine amputieren. Pro Fans“. Dazu ein paar Sprüche mit kyrillischen Buchstaben. Kernaussage der Demo war jedoch: „Blau weiß rot gegen polizeiliches Kartenverbot“. Bei den Redebeiträgen wurde scharf das Vorgehen der Hamburger Polizei kritisiert und auch manche Medien bekamen ihr Fett weg.
Kernig und lautstark setzt sich gegen 11:45 Uhr der Demonstrationszug in Bewegung. In der ersten Reihe verdecken die Rostocker ihre Gesichter. Begleitet werden die über 2.000 Rostocker Anhänger von hunderten Polizisten aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Schwere Geschütze wurden aufgefahren. Wasserwerfer, mitunter der neuesten Generation, wurden postiert. Stand der Bürgerkrieg kurz bevor? Befanden sich tatsächlich rund 50 Prozent gewaltbereite Hooligans und Krawalltouristen unter den Kundgebungsteilnehmern? Im Vorfeld kursierte zumindest solch eine Zahl. Diese sorgte für Angst und Schrecken. Schaute man sich um: Okay, einige sportlich gekleidete Jungs liefen in der Tat in den ersten Reihen mit. Jedoch kann von einem hirnlosen, gewaltbereiten Mob kaum die Rede sein.
Vorbei an der Feuer- und Rettungswache Altona geht es Meter für Meter zur Straßenkreuzung Königstraße / Pepermölenbeck, an der weitere Redebeiträge zu hören sind. Der anschließende Gang hinunter zur Breiten Straße nahe der Elbe und des Fischmarkts gehörte zum Highlight der Route. Enge Straße, unter einer Brücke hindurch. Kraftvoll gibt es noch einmal zu hören, was die Rostocker Fußallfreunde von der Polizei halten. Aus einem Fenster ertönt die Einlaufmusik des FC St. Pauli. Eine an den Armen stark tätowierte Frau steht am Fenster und zeigt fröhlich zwei Stinkefinger. Kamerateams und Zivilpolizisten nehmen die Frau in Augenschein. „Stell dir mal vor, du wachst auf und diese Olle liegt neben dir“, meint jemand aus der Gruppe und lacht. Beim Weg zurück zum Bahnhof Altona erlahmt ein wenig die Stimmung. Die Luft scheint raus. An der Ecke Palmaille / Max-Brauer-Allee ist es soweit. 13:30 Uhr. Am Stadion am Millerntor wird die mit Spannung erwartete Partie angepfiffen. Und die Rostocker Fans dürfen ihre Mannschaft nicht beim überaus schweren Auswärtsspiel unterstützen.
Rund anderthalb Kilometer weiter. Rund um das Millerntor-Stadion und das Heiligengeistfeld herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Ein Sarg wurde aufgestellt. Grabkerzen rahmen den schwarzen, mit Blumen und Fotos geschmückten Sarg ein. Wer gestorben ist? Die freie Fankultur. Und bei diesem Punkt waren und sind sich die Anhänger des FC Hansa Rostock und FC St. Pauli einig. Hassgegner hin, Hassgegner her. Ein Duell ohne Gästefans ist fantechnisch nichts mehr wert. Eine blutige Hand mit weißer Rose reckt sich aus dem Sarg. Am Handgelenk umschlungen ein Fanschal des SV Hassfurt. „Lieber leere Ränge statt staatliche Zwänge!“ und „Willkommen im Gefahrengebiet“ ist zu lesen. Hunderte Ultras des FC St. Pauli haben sich versammelt und lauschen der Radioübertragung.
„Schutz vor der Polizei anstatt Polizeischutz“, „Fankultur statt Sicherheitswahn“. Das gesamte Ambiente rings um das Stadion wirkt ein wenig skurril. Moderne Tribünen auf der einen Seite, alte Ränge und Baustellen auf der anderen Seite. Zuschauer, die in der Halbzeitpause dann doch noch den Einlass zwischen den Bauzäunen aufsuchen. Fans, die zum Pipi-Gehen ebenso an Bauzäunen warten müssen. Ein Böller in der Ferne. Und dann das. Ein junger Mann mit offensichtlich falscher Kleidung läuft naiv an der neuen Haupttribüne vorbei. Tritte von St. Pauli-Anhängern. Fäuste fliegen. Die Jacke wird kurzerhand heruntergezerrt. Tumulte vor der Geschäftsstelle, in die der völlig überraschte Kerl schließlich flüchten kann. „Nazis raus!“ Noch warten die Paulianer vor der Tür. Zwei Polizistinnen mit Hunden schauen kurz vorbei und verschwinden wieder. Kurz danach fällt ein Tor. 2:0 für die Gastgeber aus dem Hamburger Kiez. St. Pauli bleibt im Aufstiegsrennen und versenkt zudem die Rostocker Kogge.
Am Ende heißt es sogar 3:0 für den FC St. Pauli. Auf der Straße entlädt sich bei manchen Pauli-Fans die Wut auf die Hamburger Polizei. Wasserwerfer fahren vor. Flaschen fliegen. Vereinzelte Festnahmen. Die neuen Wasserwerfer wollen getestet werden – und sie werden getestet. Wasser marsch! In den Nebenstraßen kommt Unruhe auf. Es zündelt und schmokelt. Ein paar Gegenstände brennen, eine mobile Toilette ist umgeworfen worden. Nicht wirklich weltbewegendes, doch die Polizei ist auf der Hut. Laufereien zu Fuß und hoch zu Ross über die Reeperbahn hinaus ins moderne Geschäftsviertel. Blaulicht an vielen Ecken. Gegen 17 Uhr beruhigt sich langsam die Lage, die Gemüter kühlen sich wieder ab.
Was das polizeiliche Gästekartenverbot gebracht hat? Nicht wirklich positives. Einige Arbeitsstunden der Gerichte der Hansestadt Hamburg. Eine Rostocker Fandemo, die von hunderten Polizisten abgesichert werden musste. Insgesamt rings um die Partie ein immenser Aufmarsch polizeilicher Einsatzkräfte. Aufkeimende Krawalle im Kiez können trotzdem nicht verhindert werden. Vor allen Dingen gab es einen echten Verlierer: Den Fußballfan!
Wer die etwas trostlose fußballfreie Zeit überbrücken möchte, dem sei die 512-seitige Lektüre ans Herz gelegt: Ende 2020 kam der 512-seitige Wälzer„Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“aus der Druckerei. Mitgearbeitet haben an diesem Buch rund 20 Personen (Heiko Neubert, Mia B. "Chelsea", Aumi, Keili, Klischi, Anika...), anzuschauen und zu lesen gibt es Berichte, Anekdoten und Fotos aus dem Zeitraum 1988 bis 2020. Das Buch ist direkt beim Herausgeber / Autor Marco Bertram (auf Wunsch auch mit persönlicher Widmung) bestellbar:Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Weitere Infos zum Buch gibt es auch auf der privaten Webseite: www.marco-bertram.de
Fotos: Marco Bertram, Tobi
> zur turus-Fotostecke: Rostocker Fandemo und der FC St. Pauli