„Ich hatte nen Traum, und dieser Traum war wundervoll. Europacup - ein Auswärtsspiel in Amsterdam. Alle Dresdner im Block sangen nur ein Lied für Dich. Oh Elbflorenz - Ihr kämpft für uns, wir für dich! Schalala Lalala…“ Es sind genau diese magischen Abende, die den Fußball zu dem machen, was wir so sehr lieben. Wenn zig tausende Fans das Europacup-Lied anstimmen und die gigantische Gästekurve in verschiedenen Farben erleuchtet - dann kann ich nur sagen: Auch nach all den teils phantastischen gesehenen Spielen in den zurückliegenden drei Jahrzehnten lässt mich solch ein Abend nicht kalt. Ich bin auch zufrieden mit 50 Auswärtsfans in den Amateurligen des Landes, doch wenn halt über 30.000 Gästefans ein Stadion fluten und die Lieder anstimmen, dann können die Augen schon mal feucht und das Herz warm werden. Und wenn es wirklich einen Fußballgott gibt, der das Drehbuch schrieb, dann muss er bei Sir Alfred Joseph Hitchcock in die Lehre gegangen sein. Oder auch andersrum. Wer weiß. Fakt ist, der Ablauf des gestrigen Pokalfights hätte dramatischer nicht sein können. Das kann man sich echt nicht ausdenken! Ausgleichstreffer in letzter Sekunde, ein wiederholter Elfmeter, eine Liegeaktion bei einem Freistoß, irre Gefühlsausbrüche in den Fankurven und ein „Ost-, Ost-, Ostdeutschland!“, das durch Mark und Bein ging. Aber der Reihe nach…
Hertha BSC vs. SG Dynamo Dresden: Ein magischer Abend par excellence
HotAuf die alten Zeiten! Ich wählte für die Anreise einfach mal die U-Bahnlinie 2, mit der es einst in den 1990ern einige Male ins Berliner Olympiastadion ging. Allerdings war ich noch nie im Leben am U-Bahnhof Neu-Westend ausgestiegen. Hinunter ging’s die Olympische Straße. Es würde sich wohl doch eine Gelegenheit bieten, fix ein Bierchen zu kaufen? Kioske waren nicht zu finden, etwas versetzt hatte ein älterer Mann seinen Bulli geparkt und die Seitentür geöffnet. Er habe alles, was das Herz begehrt. Na dann, schau an, er hatte auch polnisches Piwo. Vier Euro für eine Flasche Bier? Von welchem Planeten kam denn dieser irre Kauz angerauscht? Drei Euro seien seine Schmerzgrenze, meinte der Mann. Nein danke! Für diesen Preis bekam man ein Stückchen weiter am S-Bahnzugang frisch Gezapftes. Dort war man gut vorbereitet und hatte etliche Bierbänke aufgestellt. Friedlich wurde gemeinsam dort entspannt getrunken und geschnackt.
Mal eben fünf Euronen kostete der Gerstensaft ein Stück weiter auf den Stadionterrassen. Kein Wunder, dass die Schlange am kleinen Bahnhofskiosk immer länger wurde. Als jedoch einer der vielen Schübe Dynamo-Fans vom Bahnsteig hochströmte und dichter gelber Rauch den Gang vernebelte, wollte die Polizei die kleine Bahnhofshalle räumen. Ein paar gingen, der Rest blieb wacker und ließ sich nicht davon abbringen, an der Luke auf das Flaschenbier, das man sich selber in Plastikbecher einfüllen durfte, zu warten. Die Polizei ließ ab und zog sich wieder zurück.
Einen richtigen Stau gab es vor dem Einlass zum Stadion auf der Südseite zirka eine Stunde vor Anpfiff. Die Wartenden mussten als erstes durch kleine Schleusen, die in der Dunkelheit erst im letzten Moment erkennbar waren. Und die typischen Durchsagen hätte man sich auch sparen können, zu verstehen war wirklich kein einziges Wort. Als plötzlich von hinten dichter Rauch aufstieg, schien es, als könnte es zu einem Gedränge kommen, doch bewahrten die Fans die Ruhe, so dass es zu keinen Zwischenfällen kam. Bei den eher lockeren Kontrollen war es dann auch kein großes Wunder, dass Pyrotechnik in solch großer Anzahl mit ins Stadion genommen werden konnte.
Entlang der Gästekurve wurden von der „Soko Dynamo“ zahlreiche Tonnen aufgestellt, in denen die leeren Plastikbecher als Spende abgegeben werden konnten. Allerdings war zu sehen, dass viele Dynamo-Fans lieber gleich Bargeld spendeten, da man sich den Kauf des alkfreien Getränks wahrlich sparen konnte. Die einzige persönliche Empfehlung, die ich abgeben kann, ist der Kauf eines Schnitzels, das im günstigen Fall richtig frisch ins Brötchen kommt. Nun ist dieses auch nicht der kulinarische Gipfel, doch essbar ist dieses.
Hinein ins Stadion - es war angerichtet! Während es in der Ostkurve keine Choreo oder gar Pyro (das Derby bei Union ist ja bereits am kommenden Samstag) gab, wurde es in der gigantischen Gästekurve schon bald farbenfroh. Am Obering zu lesen gab es ein „YELLOW MADNESS“, das besagte Europacup-Lied ertönte, und an verschiedenen Stellen wurde Pyrotechnik gezündet. Was will man dazu sagen? Logisch, ist dieser Einsatz in deutschen Stadien nicht erlaubt und es gibt im Nachgang empfindliche Strafen vom DFB. Allerdings kann ich nicht von San Siro, vom Belgrader Derby oder den hammerharten Pyro-Aktionen bei Legia Warszawa und Lech Poznan schwärmen und andererseits solch einen Anblick wie gestern rein persönlich betrachtet Mist finden. Natürlich kam Gänsehaut auf, selbstverständlich konnten sich die Augen nicht satt sehen. Ja, es gab ringsherum auch den einen oder anderen Kritiker (meist ältere Zuschauer), doch bei den meisten glänzten einfach nur die Augen.
Und wer dachte, es würde bei der ersten Pyro-Aktion bleiben, der sah sich getäuscht. Die gesamten 90 Minuten über brannte, leuchtete und qualmte es an den verschiedenen Stellen des Gästebereich. Mal oben hinter der Red Kaos Fahne, mal ein Stück weiter hinter dem Fighters-Banner und dem Devils-Banner, mal unten bei den Ultras Dynamo im eigentlichen Gästeblock, und auch immer wieder oberhalb jenes Gästebereichs.
Nach und nach kam die schwarz-gelbe Kurve in Form, und es war gar nicht so einfach, all die Dynamo-Fans zu koordinieren. Richtig laut wurde es, als zum ersten Mal das „Ost-, Ost-, Ostdeutschland!“ ertönte. Just in jenem Moment erzielte Moussa Koné in der 36. Minute das 1:0 für die SG Dynamo, und die über 30.000 angereisten Fans fielen in einen wahren Freudentaumel. Wieder brannte es an den verschiedensten Ecken, und Dynamo konnte die knappe Führung in die Pause nehmen.
Zu einem aus Sicht der Gäste denkbar ungünstigen Zeitpunkt erzielten die Berliner den Ausgleich. Mit Schwung kam Hertha aus der Kabine, und in der 48. Minute machte Dodi Lukebakio aus kurzer Distanz das 1:1. Nun ging es in der Ostkurve gut ab. Und es blieb laut in der blau-weißen Kurve, denn Hertha blieb in der zweiten Halbzeit am Drücker. Dresden verteidigte mit allen Kräften, und bei einem Berliner Freistoß legte sich ein Dynamo-Spieler sogar hinter die aufgebaute Mauer. Und dann! Ein Foul auf der Strafraumgrenze in der 84. Minute! Elfmeter für Hertha BSC! Ondrej Duda übernahm Verantwortung und verwandelte souverän zum 2:1.
Noch war aber lange nicht Schluss. So spröde sollte der Fußballabend nicht ausklingen. Das Drehbuch für diesen Pokalkrimi hatte noch einiges vorgesehen. In der 89. Minute griff Dresden noch einmal an, der Ball wechselte die Seite und wurde mit dem Kopf reingebracht - und dann - ein Rempler an Koné und der Pfiff des Schiedsrichters! Mein lieber Herr Gesangsverein! Patrick Ebert, der lange Zeit bei Hertha BSC gespielt hatte, trat an und brachte den Ball platziert rechts unten unter. Nun gab es bei den Dynamo-Fans kein Halten mehr. Geballte Fäuste, immer wieder hallte das „Ostdeutschland!“ durch das weite Rund.
Auf in die Verlängerung! Nach einer ruhigen ersten Hälfte der Verlängerung, in der mal zur Abwechslung keine einzige Fackel brannte, ertönte dann in der 107. Minute der nächste Jubelorkan. Der eingewechselte Luka Stor wurde prima angespielt und vollendete souverän von schräg links. Der jetzige Jubel war nochmals eine Steigerung der beiden zuvor. Zum zweiten Mal an diesem Abend ging Dynamo in Führung, der Einzug ins Achtelfinale war zum Greifen nahe!
Die Fans feierten frenetisch ihre Mannschaft, und unten auf der blauen Tartanbahn ließ man plötzlich behelmte Polizisten aufmarschieren. Wozu? Keine Ahnung! Zwischen Tribünen und Innenraum gibt es eh einen Graben, wie hätte es zu einem (echten) Platzsturm kommen sollen? Kein Wunder, dass die Fans wütend reagierten und diesen Aufmarsch als reine Provokation betrachteten. Von oben flogen zwei, drei Leuchtkugeln in Richtung Innenraum.
Im Bereich der Ultras Dynamo wurde bereits eine kleine Fahne als Sichtschutz aufgezogen, als satte drei Minuten Nachspielzeit angezeigt wurden. Drei Minuten?! Fragende Blicke. Wofür drei Minuten?! Die Uhr zeigte die 120.+2. Minute an, als Hertha die wohl letzte Möglichkeit des Spiels bekam. Freistoß für Hertha, die Berliner blieben am Ball, und plötzlich schoss Jordan Torunarigha satt aufs Gehäuse. Dieser Schuss hatte gesessen - 3:3-Ausgleichstreffer für Hertha BSC. Fassungslosigkeit in der Gästekurve, brachialer Jubel im Heimbereich.
Und auch das Elfmeterschießen hatte es in sich! 0815 wurde am gestrigen Abend auch dieses nicht! Ebert traf als erstes für Dresden, Ibisevic legte für Hertha nach. Anschließend trafen sowohl Horvath als auch Darida. Dann aber konnte Hertha-Keeper Kraft den Elfer von Müller halten. Dilrosun erhöhte nun für Hertha auf 3:2, dann konnte Koné seinen Elfer verwandeln. Hoffen und Bangen in der Gästekurve, Stoßgebete gen Himmel. Und ja, da ging noch was! Rekik trat nun für Hertha an und ballerte über das Gehäuse! Wieder war alles offen. Stor war der Nächste - und Kraft konnte halten. War es das? Nein, noch nicht! Der Schiedsrichter ließ diesen Elfer wiederholen, und dieses Mal traf Stor. Weiter ging’s! Selke traf für Hertha, Ehlers musste nun für Dresden ran. Kraft war dran und lenkte den Ball an den linken Pfosten. Nun lag es an Grujic! Zwar war Dynamo-Keeper Broll mit den Fingern dran, doch es half nichts, der Ball war drin. 5:4 im Elfmeterschießen für Hertha BSC!
Tiefes Durchatmen bei den Gästefans, dann wurde die Mannschaft gebührend gefeiert. Mit zahlreichen Sonderzügen der S-Bahn wurden zahlreiche Dynamo-Fans zum BER gebracht, wo Busse und Autos geparkt wurden. Wer in die Stadt wollte, sattelte das richtige Pferd, indem er sich in die S-Bahn nach Spandau stopfte und dort einen Regionalexpress in Richtung Osten nahm. Im Zug nach Cottbus saßen einige Dresdner, einige von ihnen hatten nachts in der Lausitz noch eine Wartezeit von zwei Stunden, um dann gegen vier Uhr in der Frühe gen Dresden weiterzufahren.
Sollte noch etwas erwähnt werden? Ja! Gegen Ende des Spiels hin gab es im Gästebereich noch zwei Spruchbänder zu sehen: „Mord verjährt nicht! Rache für Hartmut!“ hieß es unten Schwarz auf Orange im eigentlichen Gästeblock, „Ruhe in Frieden. Hartmut Griebsch“ stand Weiß auf Schwarz auf dem Oberrang geschrieben. Eingerahmt wurden die Spruchbänder von roten Fackeln und Rauchtöpfen. Was es genau mit Hartmut auf sich hat, wird in Kürze noch an dieser Stelle erklärt werden…
Ebenso erwähnt werden müssen noch die zwischenzeitlichen Musik-Einlagen mit Trommel und Trompeten unten im Block bei UD, bei denen sicherlich die anwesenden Freunde aus Sarajevo beteiligt waren. Kurzum: Es war ein magischer Abend, wenngleich er aus Sicht der SG Dynamo ein sportlich enttäuschendes Ende fand. Aber wie meinte jemand in der S-Bahn? Was soll’s, so kann man aus dem Pokal ausscheiden. Wenn, dann so…
Fotos: Marco, Felix, H.S.
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Benutzer-Kommentare
Was mich auch interessiert: Was genau ist mit Hartmut Griebsch? Habe eine Traueranzeige online gefunden, würde mich aber über einen Hintergrund dazu freuen.
wo bleibt denn die Aufklärung zu Hartmut Griebsch?