Morgens um sechs traf mich der Schlag. Nach nur zwei Stunden Schlaf dachte ich am Sonntagmorgen, mich tritt ein Pferd, als der Wecker meines Handys im Zimmer der Pension mächtig Alarm machte. Wie, wer, wo? Weshalb liegt neben mir im Bett ein Mann? „Baufresse“ Gläser? Wie kommt’s? Ach ja, wir hatten ja eine gemeinsame Lesung im Gasthof Niegisch in Schmachtenhagen und wurden zu viert in dieser Pension in Oranienburg untergebracht. Erinnerungsfetzen. Lesen. Tanzen. Trinken. Bis 4 Uhr morgens. Dann eine Taxifahrt. Meine Güte, hatte ich mir nicht vorher vorgenommen, maßvoll zu bleiben? Und nun?
St. Pauli vs. Hansa Rostock: Katastrophaler Einlass, Pyronale und vergebene Chancen
HotSchlüpper richten, Socken an, Trikot über das Hemd, Schal in der Jackentasche verstaut, die graue Hansa-Mütze auf - raus in die Dunkelheit! Bis zum Bahnhof Oranienburg waren es etwas über drei Kilometer und ich eierte noch etwas benommen zu Fuß gen Bahnhof. Obwohl ich noch todmüde war, machte sich ein irre großes Glücksgefühl breit. Ich habe es geschafft! Ich bin pünktlich aus dem Bett gekommen und hatte nicht im Halbschlaf irgendeinen Schlummermodus eingestellt. Ich war sooo glücklich! Ich hielt meinen morgendlichen Glücksmoment fest und filmte vier Minuten lang meinen Spaziergang durch die Dunkelheit. Neben mir rauschte plötzlich ein Bach, von vorn kam ein Räumfahrzeug - kurzzeitig fühlte ich mich ins Mittelgebirge versetzt. Ich fühlte mich berauscht. Ich hatte ein Ticket für das Duell FC St. Pauli vs. F.C. Hansa Rostock und ich dachte an meine neue Partnerin. Gleich zwei Lieben auf einen Schlag. Mensch, Marco!
In der S-Bahn versuchte ich krampfhaft wach zu bleiben. Ich hatte keinen Bock auf einem etwaigen Nebengleis am Bahnhof Wannsee aufzuwachen und meinen ICE in die Hansestadt Hamburg zu verpassen. Mit Hansa Rostock auswärts bei St. Pauli! Mehr geht einfach nicht! Wie lange hatten wir darauf gewartet?! 2012 war ich mit auf der Fandemo im Hamburg-Altona, im Oktober 2021 streifte ich durch den Kiez und stieß auf die Truppe Hansa-Fans, die allzu gern dem Heimbereich des Millerntor-Stadions einen flotten Besuch abgestattet hatte.
Es war im März 2009, als Hansa das letzte Mal mit voller Kapelle beim FC. St. Pauli antreten durfte. Damals war unter anderen Aumi vor Ort, der für den Wälzer Kaperfahrten das Kapitel über das damalige brisante Duell geschrieben hatte. Es gab vor 14 Jahren am Einlass ordentlich Trubble, und ich überlegte, wie es wohl dieses Mal werden würde. Zudem stellte ich erste Überlegungen an, wie wohl mein Bericht ausfallen würde. Eins war mir klar, Diskussionen werden wieder aufkommen. Wenn mit Bomberjacke nach Hamburg gereist wird, kann es nur bedeuten, dass diese irgendwann auf Orange gedreht wird und Bambule ansteht.
Wer heute 18 Jahre alt ist, war im Frühjahr 2009 ein vierjähriges Kind. Demzufolge wuchs in der Zwischenzeit eine ganze Generation heran, die auch mega Bock hat es den Älteren gleich zu tun und mal ordentlich auswärts bei St. Pauli zu zeigen, wo der Hansa-Hammer hängt. Es dürfte doch immer das Gleich sein. Während die ältere Garde größtenteils inzwischen das Ganze etwas ruhiger angeht, sind die Jüngeren bis in die Haarspitzen motiviert und möchten es richtig krachen lassen. Es war doch klar, dass viele Fanszenen auf das brisante Duell schauen würden und mit großen Interesse bewerten, was der Gästeblock abliefern würde. Aber gut, zu diesem Punkt kommen wir gleich.
Gehen wir gedanklich zurück zur Ankunft zahlreicher Hansa-Fans am Hamburger Hauptbahnhof. Mit dem besagten Aumi und einem anderen Hansa-Kumpel verabredete ich mich vor Starbucks, um ein bisschen zu quatschen und gemeinsam zum Stadion zu gehen. Wie der Zufall will, standen dort die Rostocker Zugfahrer, die noch geraume Zeit von der Polizei festgehalten wurden. Von Aumi bekam ich ein Rauchbier aus Bamberg überreicht, das so schmeckte, als wenn man flüssigen Räucherfisch im Mund haben würde. Ich trank es brav aus, legte dann aber doch fix ein Schokohörnchen nach. Rauch würde es später im Stadion gewiss noch genug zu schmecken geben. So nahm ich an.
Überraschend entspannt verlief die Fahrt mit der Sonder-U-Bahn bis zum Bahnhof Feldstraße. Kaum Pöbeleien und Provokationen, und auch vor dem Gästeeinlass wurde sich sehr brav eingereiht. Jeder wollte das Spiel sehen und vor der Partie nix riskieren. Hier und da stieg etwas Rauch auf, die Wartenden waren meist in Gespräche vertieft oder probten neue Ohrwürmer über die Monate Januar bis Dezember. Schönen Gruß an dieser Stelle! Aus heiterem Himmel detonierten plötzlich Böller, und es dauerte eine Weile, bis man registrierte, dass diese von der benachbarten Rindermarkthalle geworfen wurden. Wie „Mopo St. Pauli 24“ berichtete, hatten sich auf dem Dach ein paar St. Paulianer eingefunden, die von oben die wartenden Hansa-Fans attackierten. Allerdings detonierte das meiste Zeug irgendwo im Niemandsland. Einzelne Rostocker hatten eine Antwort parat und warfen Polenböller zurück. Der Lärm ließ laut Zeitung die Alarmanlage einiger Autos angehen, und die Polizei scheuchte die St. Pauli-Fans weg.
Unten am Einlass blieb es zunächst völlig ruhig, allerdings durfte festgestellt werden, dass es nur im Schneckentempo voranging. 11:45 Uhr sind wir vor Ort eingetroffen, um 12 Uhr wurde der Einlass geöffnet, und überschlug man das Ganze, so kamen wir zum Ergebnis, dass wir wohl erst kurz vor Anpfiff drin sein würden. Das Szenario wurde eine echte Zumutung. Es ging einfach kaum voran, und nach einer Stunde kam verständlicherweise Unruhe auf. Vorn war ersichtlich, dass nur an einer einzigen Stelle tröpfchenweise Fans durch eine Polizeikette gelassen und dann von den Ordnern kontrolliert wurden.
Es kam, wie es kommen musste. Von hinten schob die Masse und vorne vor dem Zaun und der Polizeikette wurde es mit einem Schlag richtig eng. Neben mir bekamen zwei Frauen Panik und weinten, es wurde immer ungemütlicher. Ein Kumpel wurde gegen ein Absperrgitter gedrückt und riss sich an pikanter Stelle vorn komplett seine Jeans auf. Nicht lustig! Später band er seinen Pullover um die Hüfte, um das Ganze abzudecken. Die ganze Einlasssituation war eine Katastrophe - und irgendwie auch ein Witz. Nach über eine Stunde wurde ich mehr als lasch von den Ordnern abgetastet und durfte meine Karte scannen.
Ich war drinnen, holte mir ein annehmbares Fischbrötchen und beobachtete das unschöne Szenario am Einlass. Wieder wurde gedrückt, zwischenzeitlich wurden die Tore geschlossen, einzelne Fans kletterten auf die Zäune, um dem Gedränge zu entkommen - es kam zu Verletzungen (ausgekugelte Schultern, etc.), eine Person musste reanimiert werden. Hat man aus diversen Katastrophen und Unfällen bei Großveranstaltungen nix gelernt? Ohne Worte! Kurz vor Anpfiff ließ man dann eine ganze Meute Fans ohne Kontrolle durch. Kurz nach Anpfiff - immerhin - waren dann die meisten Hansa-Fans im Stadion.
Kurz vor Ultimo wurden die letzten Vorbereitungen für die erste Pyro-Aktion getroffen. Blaue und weiße Überzieher wurden verteilt, in Weiß und Blau war nun der gesamte Gästebereich getaucht, vorn ließ man massig blauen Rauch hochsteigen. „Alles für den FCH!“ war im mittleren Bereich zu lesen. Ganz unten hingen die Banner der Suptras und der Fans aus Rostock-Lichtenhagen. Da beim Hinspiel die Lichtenhagen-Zaunfahne für so viel „Freude“ bei den Gästen gesorgt hatte, wurde diese nun nach Hamburg mitgebracht.
Dazu gab es Sonnenblumen und so weit das Auge reichte Bomberjacken, graue Kapuzen und Jeans. Die „Nazi-Schweine aus dem Osten“ waren zu Gast und wollten sich nun mal nicht lumpen lassen. Es wurde sämtliche Dinge und Klischees bedient, die dem FC St. Pauli genehm sind, um das Urteil über Hansa zu festigen. Ganz nach dem Motto „ist der Ruf erst mal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert“.
Ab in die Partie! Während im Gästeblock ein lautes „Dem Morgengrauen entgegen“ hallte, machte Hansa zunächst gut Dampf. Hansa eroberte vor dem gegnerischen Strafraum den Ball, Verhoek spielte rüber zu Pröger, und dieser konnte den Ball fast am langen Pfosten unterbringen. Aber halt nur fast. Der Ball klatschte an den rechten Pfosten. Verdammte Axt! Das hätte es sein können! Der Ball wäre sogar eingeschlagen, wenn nicht der Hamburger Keeper Nikola Vasilj mit den Fingerspitzen rangekommen wäre.
Es schaute eigentlich soweit ganz gut aus für die Rostocker. Bis zur 26. Minute. In jener startete der FC St. Pauli den ersten guten Angriff. Von der linken Seite wurde der Ball platziert hereingebracht und Jackson "Air" Irvine wuchtete den Ball mit dem Kopf in die Maschen. Das Millerntor-Stadion wurde nun im Heimbereich zum Tollhaus. Es gibt nix Schlimmeres, als St. Paulianer jubeln zu sehen. Was nutzte es? Ich biss mir auf die Lippen und versuchte die Wut herunterzuschlucken. Noch war massig Zeit. Ein Törchen würde ja wohl gelingen. Oder nicht?
Erst einmal drohte jedoch das 0:2 aus Sicht des F.C. Hansa Rostock. Kolke spielte den Ball ausversehen zum Gegner, und mit vereinten Kräften und sehr viel Glück konnte der zweite Gegentreffer verhindert werden. Rick van Drongelen erhielt von Markus Kolke zum Dank auch ein Küsschen auf die Stirn. Los jetzt hier! Kurz vor der Pause war der Ausgleichstreffer wirklich fällig. Nach einer Ecke machte Fröde mit dem Kopf fast das 1:1, eine Ecke später machte Verhoek fast das Tor, doch der Ball klatschte an den Querbalken. Es war zum Mäusemelken. Es kam noch arger. Noch eine Ecke! Und diese Mal schoss Roßbach das Leder aus kurzer Distanz über das Gehäuse. Drei Ecken - drei hochkarätige Chancen - die Ausbeute allerdings null.
In der Pause wurden im Gästeblock - während aus den heimischen Boxen der Song „Antifa Hooligans“ ertönte - schon mal die Bomberjacken auf Orange gedreht und im unteren Bereich die Vorbereitungen getroffen. Ich hatte mit einigem gerechnet, aber nicht mit Zuständen wie in Polen oder auf dem Balkan. Feuer frei aus allen Rohren! Fackeln, Rauch, Leuchtkugeln und Böller. Das volle Programm. Leider schlug gleich zu Beginn eine Leuchtkugel auf der Haupttribüne ein. Im weiteren Verlauf landete manches auch auf dem Rasen. Manches prallte auch vom Dach und segelte unkontrolliert im nebenan liegenden Heimbereich.
Da im späteren Verlauf auch noch aus den Toiletten herausgebrochene Keramikteile und Klobrillen - eine traf üblerweise einen Ordner von hinten an den Kopf - geworfen wurden, wurden nun mal die Grenzen deutlich überschritten. Man kennt mich. Ich bin, was das kontrollierte Abbrennen von Pyrotechnik betrifft, kein Mann von Traurigkeit. Ganz im Gegenteil. Fliegt das Zeug jedoch auf andere Menschen, hört der Spaß nun mal auf. Die Vorstellung, solch brennendes Material an den Kopf zu bekommen, ist nun mal überaus übel.
Nachdem der Gästeblock sein wildes Feuerwerk - „… immer wieder FCH, Fußballterror und Bambule …“ abgebrannt hatte, konnte das Spiel mit einigen Minuten Verspätung fortgesetzt werden. Auf dem Platz trat Hansa in der zweiten Halbzeit mit drei neuen Spielern an, und zu Beginn war auch Biss zu spüren, auch wenn die erste Chance die Gastgeber hatten. Doch dann! Ingelsson schickte Pröger, doch dieser wurde vom vorletzten Mann zu Fall gebracht. Verhoek forderte den Videobeweis und bekam prompt auch die gelbe Karte. Da es seine fünfte gelbe Karte ist, fehlt er nun gegen den Karlsruher SC. Bevor er jedoch in die Zwangspause geht, hätte er gestern in der 77. Minute zum Held des Tages werden können. Die kapp 3.000 Hansa-Fans sahen den Ball schon im Kasten, doch kam St. Pauli-Keeper Nikola Vasilj in letzter Sekunde mit dem Fuß ran.
In der Schlussphase der Partie ging der nötige Biss verloren, bei Hansa Rostock war ein brachiales Aufbäumen in den letzten Minuten leider Gottes nicht zu spüren. Der FC St. Pauli brachte die knappe Führung über die Runden, nach Abpfiff wurden im Heimbereich zahlreiche Fackeln angerissen. Ein Anblick, der schwer zu ertragen war. Aber so ist nun mal Fußball. Im heimischen Ostseestadion wurden zuletzt zwei Siege gegen den Erzrivalen gefeiert, gestern fehlte das nötige Glück. Ohne Worte. Eine der fünf mega Torchancen hätte verwertet werden müssen!
Nach dem Spiel blieb es weitgehend ruhig. Draußen hatte die Hamburger Polizei das komplette Sortiment aufgefahren, doch ging es angenehm entspannt zurück zum Hauptbahnhof. Bis auf die prekäre Einlasssituation gab es dieses Mal nicht allzu viel zu bemängeln. So weit ich das beurteilen kann, hielt sich die Polizei zurück und beließ es bei der beachtlichen Präsenz.
Ich war indes heilfroh, im Auto mitgenommen werden. Die Augen wurden schwer und schwerer, und im Auto diente ich wahrlich nicht als großer Unterhalter. Stimme heiser. Aber auch nicht todunglücklich. Ich war froh, dass der FC St. Pauli den F.C. Hansa nicht mit einem 4:0 gedemütigt hatte. Hansa hatte es in der Hand, wusste die Chancen nun mal nicht zu nutzen. DIE Schwäche der Saison. Der Sturm - der Abschluss. Da MUSS einfach was passieren. Gegen den KSC und in Hannover muss gepunktet werden.
Am Abend kam bei mir dann doch noch etwas Frische auf. In der Kneipe meines / unseres Vertrauens warteten zwei Knacker auf mich. Drei Bier zum Abschluss durften es noch sein, zu fünft werteten wir immer wieder die kursierenden Videoaufnahmen vom Gästeblock aus. Dann ging es um 23 Uhr in die Koje! Vielen Dank an meinen Fahrer, beste Grüße an die gestrigen Mitstreiter und nach Schmachtenhagen sowie nach Kreuzberg! *Zwinkersmilie*
Fotos: Marco Bertram, Heiko Neubert, René, Matthias, Aumi (2009)
- Millerntor-Stadion