Vor 28 Jahren in Parma: Als die italienische Polizei uns des Landes verwies

Vor 28 Jahren in Parma: Als die italienische Polizei uns des Landes verwies

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Gedanken zurück zum Frühjahr 1995. Bei VIVA und MTV liefen „Conquest of Paradise“ von Vangelis und „Scatman“ (Ski-Ba-Bop-Ba-Dop-Bop) von Scatman John rauf und runter. In Berlin herrschte noch immer eine geniale Aufbruchstimmung, die Miete war bezahlbar, die abendlichen Ausgehmöglichkeiten waren genial - und Christo und Jeanne-Claude bereiteten ihr Projekt „Verhüllter Reichstag“ vor. Nachdem ich nach meinen drei Ausbildungsjahren im Rheinland wieder zurück in meine Heimatstadt Berlin gekehrt war, bezog ich gemeinsam mit Schulfreund Nico ein WG-Zimmer in der in Mitte gelegenen Tieckstraße. 

Wir teilten uns das voll gerümpelte Zimmer, pennten auf Isomatten auf dem Boden, hatten in einer Tour unseren Spaß und ließen abends die Kronkorken ploppen. Tagsüber musste ich nach Berlin-Schöneberg fahren, um am VHS-Kolleg mein Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg zu machen. Während des Unterrichts kreisten allzu oft meine Gedanken um den Fußball. Ich studierte die Spielpläne und plante die Touren nach Nah und Fern. 

Häufig ließ ich unter der Woche ein paar Tage am Kolleg sausen, um bei meinen Freunden und Kumpels in NRW oder auch auf europäischer Bühne die eine oder andere Partie mitzunehmen. Wenn ein Lehrer fragte, wo ich denn mal wieder war, lautete ganz einfach die Antwort: „Ich war bei der Tusma arbeiten - das Geld war knapp!“ Das Schüler-Bafög reichte zwar zum Leben, aber nicht für alle Abenteuer - und somit musste tatsächlich hin und wieder der eine oder andere Studentenjob bei der Studentischen Arbeitsvermittlung angenommen werden. Für garantierte 17,50 Mark die Stunde schleppte ich in Marzahn im Plattenbau Verbundfenster ins 10. OG, rüttelte alte Betonwege kaputt oder schippte mit afrikanischen Studenten (ja, biologisch männlich, Frauen gab es damals keine auf dem Bau) einen Schutthaufen weg. Unvergessen das permanente fröhliche Lachen der Jungs aus Togo und Kamerun. Was für eine geile Zeit in Berlin, ey!

Was mir allerdings damals fehlte, war eine feste Freundin, doch war dies eine ganz andere Baustelle. Ohne Partnerin konnte ich immerhin wie wild zum Fußball fahren und mitunter auch mal völlig frei drehen. Mal ging es am Wochenende aus Langeweile (und Verdrängung) zu den Fußballspielen, oft hatte ich aber auch echt Bock auf Adrenalin, Action und Nervenkitzel. Zudem wurde das Ganze häufig mit Stadtbesichtigungen verknüpft. Aber nee, klassisches Hoppen war dies nicht. Ich führte nie eine Statistik, vielmehr wollte ich stets vom reich gedeckten Fußball-Gabentisch naschen. Schmausen. Manchmal auch gierig fressen.

Die Kontakte und Drähte nach Leverkusen blieben noch erhalten - immerhin wurde ich im Rheinland von September 1991 bis Sommer 1994 fußball-sozialisiert. Dort bekam ich meine ersten „Fußball-Orgasmen“ bei geilen Toren, bekam das erste Mal die schmerzhaften „Schwarzwurzeln“ der Polizei auf dem Rücken zu spüren - Gladbach und Bochum ließen grüßen - und bekam zudem nach und nach mit, wie der Hase läuft. Begierig saugte ich sämtliche Infos auf, las Fanzines und den FanTreff, tauschte mich in Sonderzügen und Bussen mit anderen Fußballfans aus, lernte endlich vernünftig eine Flasche Bier zu öffnen, ohne zu kleckern aus der Büchse zu trinken und lernte es, gegenüber der Polizei halbwegs meine Emotionen im Zaum zu halten. Einen großen Rand hatte ich halt schon immer.

Genial waren 1994 und 1995 die Sausen mit dem TSV Bayer 04 Leverkusen zu den EC-Auswärtsspielen beim PSV Eindhoven, bei Benfica Lissabon und beim FC Nantes Atlantique. Sonderzug, Interrail-Ticket und Fanbus - wir probierten damals jede Möglichkeit aus. Und nachdem im Viertelfinale der UEFA-Pokal-Saison Nantes mit 5:1 und 0:0 aus dem Weg geräumt wurde, winkte im April 1995 das Halbfinale gegen den AC Parma, der damals sportlich betrachtet eine echte Hausnummer war. 

Trainiert wurde der AC Parma zu jenem Zeitpunkt von Nevio Scala, und in den Reihen fanden sich unter anderen folgende Spieler mit Weltklasseformat wieder: Lorenzo Minotti, Dino Baggio, Faustino Asprilla und Gianfranco Zola. Aber gut, die Werkself hatte auch prima Spieler am Start, und so war es am 4. April 1995 Paulo Sérgio, der beim Hinspiel im Ulrich-Haberland-Stadion in der 21. Minute Bayer 04 mit 1:0 in Führung bringen konnte. Dann aber zeigte Parma zu Beginn der zweiten Halbzeit seine Klasse, und Baggio und Asprilla sorgten in der 48. und 51. Minute für einen Doppelschlag. 

Die 1:2-Niederlage zeigte klipp und klar, dass es auswärts in Italien keineswegs einfach werden würde, doch starb auch jenes Mal die Hoffnung zuletzt. Auf nach Parma! Beim Fanbetreuer Paffi buchten wir zwei Plätze in einem der Fanbusse, verknüpft war das Ganze mit zwei Übernachtungen in einem Hotel in der  lombardischen Stadt Casalmaggiore (Provinz Cremona). 975 Kilometer mussten von Leverkusen aus zurückgelegt werden, und wie der Zufall es wollte - uns war dies gar nicht so bewusst - wurden wir zu zweit mit in den Bus der dritten Halbzeit gepackt. Vielleicht hatte ich ja als geborener Ost-Berliner zuvor in Eindhoven und Nantes einen guten Eindruck hinterlassen. Spaaaaaaß.

Wie immer zog sich die Fahrt immens hin. Pipi-Pausen, ein fröhliches „Aral, Aral, wir plündern total!“ der Hools, und vorn wurden wieder einmal die bereits ausgeleierten VHS-Videokassetten mit den Aufnahmen vom legendären UEFA-Pokalfinale 1988 eingelegt. Ein Raunen in den Reihen. Feuchte Augen, feuchter Schritt - dieser aber, weil mal wieder die Bierbüchse verplempert wurde. In den Fanbussen ging es stets hoch her. Derber Gesang und heiße Bräute. Apropos! Es müsste einmal auf einer Auswärtsfahrt nach Bremen gewesen sein, als ein angetrunkener Fan während der Fahrt eine Reihe vor uns seine Jeans runterzog und der Dame seiner Wahl seine Fleischpeitsche anbot. Schließlich hing sein Gemächt bereits in ihrer Kopfhöhe. Ich nehme mal an - die Erinnerungen verschwimmen -, dass die Frau dankend abgelehnt hatte.

Solche Eskapaden gab es auf der Fahrt nach Parma nicht, doch sollte es trotzdem spannend und heiter werden. Angekommen in Casalmaggiore, wurde unsere Busbesatzung in einem gelb getünchten, dreistöckigen Hotel untergebracht. „Hurra, hurra, der Bayer, der ist da!“. Die Fenster wurden beflaggt, und auch ich befestigte eine mitgebrachte Deutschland-Fahne. Während die anderen am Tag vor dem Spiel bereits in den Lokalitäten das Bier fließen ließen, erkundeten wir zu zweit bei herrlichem Frühlingswetter die hügelige Umgebung von Casalmaggiore und fertigten an der Brücke über den Fluss Po ein paar Erinnerungsfotos an.

Eigentlich schien das Ganze völlig entspannt abzulaufen, doch erreichte uns am Morgen des Spieltages die Botschaft, dass die zweite Nacht in Casalmaggiore gestrichen sei. Sogar der Besuch des Spiels befand sich in der Schwebe, am liebsten hätte die italienische Polizei uns augenblicklich außer Landes gebracht. Der Grund? Es soll in der Nacht Bambule im Hotel gegeben haben, doch machte der Hotelbesitzer wohl aus einer Mücke einen Elefanten. Die Polizei ließ sich nicht lange bitten und bereitete den Abtransport vor. Mit Hilfe des Vereins konnte zumindest der Besuch des Spiels gesichert werden, direkt nach Abpfiff sollte es allerdings auf direktem Wege gen Heimat gehen.

Vor dem Spiel durften wir uns in der Innenstadt von Parma frei bewegen, etwaige Probleme mit Parma-Fans gab es keine. Gut so, denn ich kam damals auf die glorreiche Idee, zu meinen grünen Jeans ein weißes England-Trikot zu tragen. In Italien! Locker um den Hals gewickelt hatte ich mir den Parma-Leverkusen-Erinnerungsschal. Im Gästeblock hatten sich schätzungsweise rund 400 Bayer-Fans eingefunden. Sich dazu gesellt hatten ein paar Italiener von anderen Vereinen und ein paar deutsche Fußballfreunde, die einfach nur dieses EC-Duell mitnehmen wollten. Unter anderen auch unser Autor und Hansa-Urgestein Heiko Neubert (Fankogge), den ich allerdings persönlich erst 20 Jahre später im Rahmen einer Lesung beim Rostocker Fanprojekt kennenlernen durfte. 

Blauer Himmel und gute Laune. Mit wehenden Fahnen sowie mit roten und schwarzen Luftballons versuchten die angereisten Bayer-Fans im in der Ecke gelegenen Gästeblock optische Akzente zu setzen. Was das Sportliche betraf, so gab es an jenem Tag für die Rheinländer nix zu holen. Bereits in der vierten Minute machte Faustino Asprilla vor 14.000 Zuschauern im Stadion Ennio Tardini das 1:0 für den AC Parma klar. Während bei der Werkself Paulo Sergio, Andreas Thom und Ulf Kirsten leer ausgingen, konnte Asprilla in der 55. und 67. Minute noch zwei Treffer nachlegen. Von Bayer 04 kam nicht allzu viel, völlig verdient zog der AC Parma mit einem ungefährdeten 3:0-Sieg ins UEFA-Pokalfinale ein.

Nach Abpfiff hieß es für unsere Busbesatzung: Rein in den Bus und Abfahrt! Keine Tankstelle und keine Raststätte durfte mehr angesteuert werden. Die polizeilichen Einsatzkräfte eskortierten uns bis zur italienisch-schweizerischen Grenze, die wir irgendwann in der Dunkelheit erreicht hatten. Durst! An der Grenze zeigten wir der italienischen Polizei gedanklich oder auch real den Stinkefinger, und in der Schweiz wurde sogleich die erste Tanke angesteuert. 

Italienischen Boden hatte ich seitdem nicht mehr betreten. Nachtragend bin ich nicht. Es hatte sich zum einen nicht ergeben, zum anderen lockten zunehmend die osteuropäischen Länder. So zum Beispiel Polen im Dezember 1995, wo bei minus 20 Grad und steifer Brise das CL-Duell Legia Warschau vs. Spartak Moskau besucht wurde. 

Was Leverkusen betraf, so gab es noch eine echte Überraschung. Der damalige Manager Reiner „Calli“ Calmund hatte unsere Busbesatzung zu einem klärenden Gespräch und einem Essen im VIP-Bereich des Ulrich-Haberland-Stadions eingeladen. Er wollte wissen, wo der Schuh drückte und was in Zukunft bei weiteren Europapokal-Touren besser organisiert werden könnte. Was bei mir drückte? Die Suche nach einer Freundin, doch hierbei konnte Calli nun wahrlich nicht helfen. Die Weichen dafür konnten wenig später in Berlin gelegt werden. Welch ein Glück aber auch. Sowohl damals, als auch heute. *Zwinker-Smiley* Und was Italien betrifft, so wäre ich langsam mal wieder bereit für eine Sause. Es muss ja nicht unbedingt Fußball sein, oder doch? Das England-Trikot lasse ich aber mal lieber daheim… 

Anmerkung: Eine Kapitel zu jener Sause gibt es im Buch „Zwischen den Welten“ zu lesen. Infos und Bestellmöglichkeit: www.marco-bertram.de

Fotos: Marco Bertram, turus-Archiv

Artikel wurde veröffentlicht am
18 April 2023
Spielergebnis:
3:0
Zuschauerzahl:
14.000

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wie passend, dass ein Spiel in Rom ansteht :)
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