DDR-Oberliga 1969/70: Verantwortung als Zuschauer - „Eisenhütte, he, ja, he!“

DDR-Oberliga 1969/70: Verantwortung als Zuschauer - „Eisenhütte, he, ja, he!“

„Eisenhütte, he, ja, he!“ Man schrieb den 23. August 1969, als die DDR-Oberligasaison 1969/70 startete und die BSG Stahl Eisenhüttenstadt zum ersten Mal mit von der Partie war. Als Tabellenführer der Staffel Nord der DDR-Liga stieg „Hütte“ vor der BSG Lokomotive Stendal und dem F.C. Hansa Rostock II auf. Mit 20 Treffern war Horst Kittel einer der Garanten für diesen sportlichen Erfolg, mit 64 Toren in 30 Spielen waren die Eisenhüttenstädter mit Abstand die Treffsichersten. Bemerkenswert: Auch die SG Dynamo Dresden packte den Sprung von der Staffel Süd zurück in die DDR-Oberliga, Im Jahr zuvor musste die SGD als Vorletzter gemeinsam mit Lok Stendal den bitteren Weg in die Zweitklassigkeit antreten. Ganze zwei Törchen hatten den Dresdnern gegenüber der BSG Chemie Leipzig zum Klassenerhalt gefehlt.

Bleiben wir aber bei der BSG Stahl Eisenhüttenstadt, deren Vorgängerverein BSG Stahl Fürstenberg am 27. November 1950 ins Leben gerufen wurde. Am 8. März 1953 übernahm das Eisenhüttenkombinat die Trägerschaft für die BSG Stahl Fürstenberg, die fortan den Namen BSG Stahl Stalinstadt führte. Nachdem am 13. November 1961 Stalinstadt (zusammen mit Fürstenberg) in Eisenhüttenstadt umbenannt worden war, nahm auch die BSG Stahl diesen Namen an. Das heutige Stadion Sportanlage Waldstraße (ehemals Stadion der Hüttenwerker) wurde bereits im Jahre 1928 für die Sportgemeinschaft Schönfließ als Sportplatz errichtet und 1950 schließlich als Stadion ausgebaut.

Rund 7.400 Zuschauer kamen in der Oberliga-Saison 1969/70 im Schnitt zu den Heimspielen - und das, obwohl Stahl Eisenhüttenstadt gegen den Abstieg spielte und diesen am Ende auch nicht verhindern konnte. Zum Vergleich: Beim BFC Dynamo waren es in jener Spielzeit im Schnitt 4.700 und beim FC Vorwärts Berlin 5.700 Zuschauer. Die meisten Zuschauer zogen damals Dynamo Dresden (18.500), die BSG Chemie Leipzig (17.500) und der Hallesche FC Chemie (15.500) an.

In die Saison 1969/70 startete „Hütte“ vor rund 10.000 Fußballfreunden mit einer knappen 0:1-Niederlage gegen die Chemiker aus Leutzsch, am zweiten Spieltag folgte ein 1:1 vor 9.000 Zuschauern gegen den FC Rot-Weiß Erfurt. Nachdem auswärts mit 1:0 in Karl-Marx-Stadt gewonnen wurde, stand am 6. September 1969 das Heimspiel gegen die BSG Sachsenring Zwickau an. Mit dem Karl-Marx-Städter Elan sollte es nun gegen Zwigge rangehen, und im Programmheft wurde im Grußwort gefordert, dass die Anfeuerung und stimmungsvollen Sprechchöre einfach keine Minute abreißen dürfen. Das Ganze müsse auf den Rängen laut sein, und nicht erst, wenn es „rollt“ oder ein Tor gefallen ist. In fetten Buchstaben wurde drunter noch ein „Eisenhütte! He, ja, he! - He, ja, he! - He, ja ,he!“ druntergesetzt.

Auf der gegenüberliegenden Seite warb der VEB (B) Zuschlagstoffe Frankfurt (Oder) für seine Kiese, Sande, Kleinbeton, und in der Programmverlosung gab es zehn Freikarten für das nächste Heimspiel gegen den FC Vorwärts Berlin und drei Wimpel mit Autogrammen der Oberligaspieler. Wahrlich dick waren die Programmhefte in jener Zeit nicht - auf der Rückseite wurde der nur 1,62 Meter große Spieler Karl-Heinz Pauser, der gegen die SG Dynamo Schwerin seinen Auftakt gab, vorgestellt -, und doch wurde abseits des Grußwortes noch einmal der mögliche Support der Zuschauer angesprochen.

Unter der Überschrift „Unsere Verantwortung als Zuschauer“ kam Dietwald Hickstein „in eigener Sache“ zu Wort. Wie gesagt, wie schrieben den September 1969, und das Ganze liest sich aus heutiger Sicht ein wenig erstaunlich. Gegen Chemie Leipzig und Erfurt war die Hütte von „Hütte“ wahrlich voll, doch zeigte man sich mit der Unterstützung von Seiten der Fans nicht allzu zufrieden. So schrieb Dietwald Hickstein: „Aber Hand aufs Herz: Haben wie als große Kraft ‚Publikum‘ in diesen ersten Spielen auch unsere Oberliga-Bewährung bestanden? Ich finde, eigentlich nicht so recht. Warum eigentlich können wir uns noch immer nicht daran gewöhnen, wie das der nur 300-köpfige Leipziger Chemie-Anhang bei uns in Eisenhüttenstadt so prächtig demonstrierte, dass die eigene Mannschaft über die volle Spielzeit angefeuert werden will, um große Leistungen zu vollbringen. Warum erschallen die ‚Klasse-Sprechchöre‘ bei uns immer erst dann, wenn unserer Mannschaft ein Tor gelingt oder das Spiel läuft?“

Weiter unten im Text hieß es: „Es war doch in den vergangenen Jahren und speziell in der Vorsaison auch ein schönes Bild, wenn die Sprechchöre bildlich durch hunderte schwarz-weiße Fahnen und viele geschmack- und humorvolle Spruchbänder untermalt wurden. Ob wir darauf nicht gerade jetzt in jedem Spiel stärker als bisher zurückkommen sollten? Wie wäre es übrigens mit einem ständigen Sprechchor als lautstarke Anfeuerung unter dem Motto - ‚Eisenhütte, he, ja, he!‘ - den wir heute vielleicht gemeinsam erstmals probieren sollten. Ich glaube, was die Leipziger Chemie-Anhänger und andere können, das bringen wir schon lange.“

Ob es half? Gute Frage. Das Spiel gegen Sachsenring Zwickau mit Jürgen Croy im Tor endete vor 9.000 Zuschauern 0:0. Die Partie darauf ging beim Mitaufsteiger Dynamo Dresden mit 0:6 komplett in die Hose. Am 13. September 1969 war Vorwärts Berlin in Eisenhüttenstadt zu Gast, und vor 10.000 Zuschauern hatte Hans-Joachim Steinfurth die Stahl-Kämpfer mit 1:0 in Führung gebracht. Am Ende hieß es 1:3 - die Oberliga war für Stahl Eisenhüttenstadt dann doch eine Nummer zu groß. Aber gut, ganz geschlagen gab man sich bis zum Schluss nicht. Am 22. Spieltag wurde daheim mal eben der 1. FC Magdeburg mit 4:0 weggeputzt. Noch waren es 7.500, die Stahl die Treue hielten.

Nachdem in der Woche darauf mit 1:2 beim F.C. Hansa Rostock verloren wurde, schwanden wieder die Hoffnungen auf den Klassenerhalt. Vor nur noch 6.000 Zuschauern musste man sich am 20. Mai 1970 daheim gegen Wismut Aue mit 2:3 geschlagen geben. Und das nach einer 2:0-Führung zur Pause! Das 3:2 für Aue erzielte Ernst Einsiedel in der 90. Minute. Der Abstieg war somit praktisch besiegelt. Mit einer knappen 0:1-Niederlage bei Stahl Riesa und einem achtbaren 0:0 gegen den BFC Dynamo wurde vor 3.000 Zuschauern die DDR-Oberligasaison mit Anstand beendet.

Und es kam noch dicker. Im August 1970 war die BSG Stahl Eisenhüttenstadt in den „Skandal von 1970“ verwickelt. Die Rechtskommission des DDR-Fußballverbandes (DFV) hatte ein Verfahren wegen zu hoher Zahlungen an Spieler und Trainer eingeleitet. Die BSG Stahl Eisenhüttenstadt galt dabei als Wiederholungstäter, denn schon in der Saison 1966/67 war sie wegen unerlaubter Spielerziehung (DDR-Sprachregelung für Abwerbung) zu einem 4-Punkte-Abzug verurteilt worden. Am 4. September 1970 wurden schließlich drakonische Sanktionen ausgesprochen. Die BSG Stahl Eisenhüttenstadt wurde rückwirkend in die Bezirksliga zurückgestuft, der Sektions-Sekretär Siegfried Nowka, sowie die Trainer Manfred Fuchs und Hans Studener wurden für zwei Jahre gesperrt. Die Spieler Matthias Jahn, Hartwig Köpcke, Peter Pauser und Gerhard Weidhas erhielten eine Spielsperre bis zum Ende der Saison.

Erst kurz vor dem Mauerfall gelang Stahl Eisenhüttenstadt eine Rückkehr in die DDR-Oberliga. Von 1989 bis 1991 war „Hütte“ erstklassig, zudem stand man 1991 im FDGB-Pokalfinale, das knapp gegen den F.C. Hansa Rostock mit 0:1 verloren wurde. Da Hansa bekanntlich Meister wurde, durfte Eisenhüttenstadt im Europapokal der Pokalsieger antreten. Gegner in der ersten Runde war Galatasaray Istanbul (1:2 und 0:3). In der Folgezeit spielte der EFC Stahl in Regionalliga, NOFV-Oberliga, Brandenburg-Liga und Landesliga.

Am 1. Juni 2015 wurde schließlich der FC Eisenhüttenstadt gegründet, in dem sich die vier Vereine Eisenhüttenstädter FC Stahl, SG Aufbau Eisenhüttenstadt (mit seiner Sektion Fußball), 1. FC Fürstenberg und Jugendförderverein Eisenhüttenstadt zum 1. Juli 2016 zusammenschlossen. Seitdem erfolgt die Fortführung des Spielbetriebs als FC Eisenhüttenstadt. In der zurückliegenden Saison konnte in der Landesliga Süd als 14. die Klasse gehalten werden. Zum letzten Heimspiel gegen den FSV „Glückauf“ Brieske/Senftenberg (0:1) kamen 120 Zuschauer in die Sportanlagen Waldstraße. Lang, lang ist’s her, als das „Eisenhütte, he, ja, he!“ durch das Stadion hallte…

In eigener Sache: Lust auf eine Zeitreise in Form eines Fußball-Romans? Mit sechs Meistertiteln und zwei FDGB-Pokalsiegen war der ASK/FC Vorwärts Berlin in den 1960er-Jahren einer der erfolgreichsten Vereine in der DDR-Oberliga. Es gab legendäre EC-Spiele gegen Wolverhampton, Benfica und Feyenoord, Namen wie Otto Fräßdorf, Jürgen „Kuppe“ Nöldner, Karl-Heinz Spickenagel hatten einen großen Klang. Mit dem Umzug nach Frankfurt (Oder) endete zwar die goldene Ära des Vereins, doch auch im Stadion der Freundschaft feuerte eine treue Anhängerschaft ihre Helden im rot-gelben Dress an. Aus dem Blickwinkel zweier jugendlicher Anhänger lässt Marco Bertram die Vereinsgeschichte lebendig werden. Dabei zeigt er das reale sportliche Geschehen eingebettet in eine farbefrohe Schilderung des zeitgenössischen DDR-Alltags. Mit persönlicher Widmung zu haben ist dieses Werk direkt beim Autor: www.marco-bertram.de

Fotos: Marco Bertram

Artikel wurde veröffentlicht am
29 Juni 2023

Ligen

Inhalt über Liga
Oberliga

Benutzer-Kommentare

11 Kommentare
 
100%
4 Sterne
 
0%
3 Sterne
 
0%
2 Sterne
 
0%
1 Stern
 
0%
Alle Benutzer-Kommentare ansehen View most helpful
Hast du schon ein Konto?
Datenschutz
Durch das Anhaken der folgenden Checkbox und des Buttons "Absenden" erlaube ich turus.net die Speicherung meiner oben eingegeben Daten:
Um eine Übersicht über die Kommentare / Bewertungen zu erhalten und Missbrauch zu vermeiden wird auf turus.net der Inhalt der Felder "Name", "Titel" "Kommentartext" (alles keine Pflichtfelder / also nur wenn angegeben), die Bewertung sowie Deine IP-Adresse und Zeitstempel Deines Kommentars gespeichert. Du kannst die Speicherung Deines Kommentars jederzeit widerrufen. Schreibe uns einfach eine E-Mail: "kommentar / at / turus.net". Mehr Informationen welche personenbezogenen Daten gespeichert werden, findest Du in unserer Datenschutzerklärung.
Ich stimme der Speicherung meiner personenbezogenen Daten zu:
Kommentare
G
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 1 0
G
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 2 0
G
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 2 1
K
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 4 0
JS
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 3 0
Wirklich sehr gut geschrieben, Marco!
K
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 4 0
G
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 5 0
G
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 6 0
T
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 7 0
E
Kommentar melden Kommentare (0) | War dieser Kommentar hilfreich für dich? 8 0
Alle Benutzer-Kommentare ansehen