Bahnhof Leipzig-Leutzsch. Mittwoch, 15:45 Uhr. Einen kurzen Moment lang konnte man sich als Außenstehender fragen, wer dort auf dem S-Bahnsteig wohl ankommen mag? Massive Polizeipräsenz und ein dunkelgekleideter Mob, der aus dem Zug strömte. Hatte die Szene des 1. FC Lokomotive doch mobil gemacht und das Spiel der U23 im Alfred-Kunze-Sportpark an die Tagesordnung gesetzt? Schnell wurde jedoch klar, dass es sich um die Anhänger der BSG Chemie handelte, die gemeinsam zum Nachholspiel anmarschierte. Treppe hoch, eine Durchsage der Polizei und schon ging es als geschlossene Gruppe in Richtung Stadion. Von etwaigen Lokisten war weit und breit keine Spur. Und wenn, dann kämen jene vom alten Bahnhof Leutzsch aus. Dort, wo es früher häufig übel gescheppert hatte. Den legendären Waldweg hinunter zum Gästeblock. Und in der Tat, auch am alten Bahnhofsgebäude war die Polizei präsent, doch von sich sammelnden Lok-Fans konnte keine Rede sein.
BSG Chemie vs. 1. FC Lokomotive II: Kurioses Leipziger Derby mit Gästesieg
HotGeknuddel indes am Heimzugang des altehrwürdigen AKS. Gemeinsam wollte die Chemie-Szene das heimische Stadion betreten. Dies dauerte jedoch eine ganze Zeit, denn Polizei und Ordner nahmen jeden Fußballfan genau unter die Lupe. So lange, dass die Partie eine Viertelstunde später angepfiffen wurde. Kurz vor Anpfiff sammelten sich dann doch noch ein paar einzelne Anhänger des 1. FC Lok. Etwas ratlos standen sie auf dem Vorplatz. Kurzes Gespräch mit einem Ordner. Hinein oder draußen bleiben? Als Mini-Truppe im Gästeblock gerade stehen? Immerhin, Grill und Bierstand waren aufgebaut. Also nur hinein in die gute Stube. Zehn Lok-Fans waren es am Ende, die sich im Gästebereich eingefunden hatten. Anfangs völlig ruhig, im späteren Verlauf des Spiels jedoch mit einigen Aktionen.
Mehr Fans wurden es nicht. Das hatte sicherlich mehrere Gründe. Die aktive Szene des 1. FC Lok unterstützte zeitgleich im Plache-Stadion die erste Mannschaft beim überaus wichtigen Regionalligaspiel gegen den SV Babelsberg 03. Dass es somit beim Auswärtsspiel der U23 keinen organisierten Support geben würde, war bereits im Vorfeld klar. Offen war jedoch, wer sonst eine der 200 zur Verfügung gestellten Gästekarten kaufen würde. Klar war jedoch, Stadionverbotler und Krawalltouristen hätte die überall präsente Polizei erst gar nicht zum Stadion gelassen. Und einfach mal so als einzelner Lok-Fan nach Leutzsch zu fahren, ist zudem eine recht skurrile Vorstellung. Zehn taten es trotzdem. Man mag schmunzeln, doch der Mut, sich dort als Mini-Truppe zu zeigen, fordert auch ein kleines Portiönchen Respekt.
Trotz der frühen Anstoßzeit (geplant 17 Uhr, real dann 17:15 Uhr) fanden immerhin 1.635 Zuschauer in den Kunze-Sportpark. Eine ordentliche Hausnummer, wenn man bedenkt, dass hier von einem Bezirksligaspiel gesprochen wird! Unterstützt wurden die Ultras der BSG Chemie wie bereits beim Pokalspiel gegen den Chemnitzer FC von einigen Mitgliedern der Ultras Frankfurt. Gemeinsam sorgten sie hinter dem Tor für eine passable Stimmung. Verzichtet wurde dieses Mal – bis auf einen Rasenwurf in der zweiten Halbzeit – auf den Einsatz von Pyrotechnik. Vielleicht konnte Material aufgrund der strengen Kontrollen nicht mit ins Stadion genommen werden, vielleicht verzichtete man ganz bewusst auf Rauch und Bengalos, vielleicht aber wurde dieses bereitgehalten für einen Treffer der BSG Chemie, welchen es jedoch an diesem späten Nachmittag nicht zu feiern gab.
Blickfang war gewiss ein zusammengenähter Schalteppich, bestehend aus zahlreichen Utensilien des 1. FC Lok bzw. des VfB Leipzig, auf welchem mit weißen Buchstaben „Gruppo Anti Lok“ geschrieben war. Ansonsten wusste der Heimblock mit fast durchgehendem Support zu überzeugen. Und die zehn Gästefans? Die wurden zum ersten Mal aktiv, als in der 22. Minute Saif Khalifa Mohamed Al Abri zur 1:0-Führung der Lok-Bubis einlochen konnte. Während die Lok-Spieler vor dem Heimbereich die Fäuste hoben, hingen die Jungs im Gästekäfig am Zaun. Als einer von ihnen später noch einen Seidenschal der Chemiker hervorzauberte und mit diesem am Zaun wedelte, suchten die Ordner ein weiteres Gespräch. Der Inhalt dürfte klar sein. Bitte keine unnötigen Provokationen, schließlich müsse man an den Nachhauseweg denken. Und die Leutzscher Nebenstraßen können verdammt ungemütlich sein. Und ja, es wirkte ein wenig surreal, wie die wenigen Lok-Fans immer wieder am Zaun hingen und somit auf sich aufmerksam machten. Ganz klar, als Außenstehender hätte man sich gewünscht, dass es keine parallele Ansetzung und somit einen gefüllten Gästebereich gegeben hätte.
Sei wie es sei. Schön, dass diese Partie nach reichlich Hickhack der vergangenen Monate nun endlich über die Bühne ging. Und für Siebtligafußball war die Partie wirklich ordentlich. Der Einsatz stimmte und Torchancen gab es einige. Nicht zufrieden sein konnte der BSG-Anhang. Nachdem es mit dem 0:1-Rückstand zum Pausentee ging, legte die Heimmannschaft im zweiten Spielabschnitt noch einmal ein Schippchen drauf. Zum Ende hin schnürte Chemie die Gäste förmlich ein, doch entweder fehlte der letzte präzise Pass oder aber der Lok-Torwart und der Fuß eines Abwehrspielers verhinderten den mehr als verdienten Ausgleich. Auf den Rängen rumorte es, das 1:1 musste einfach her! Die Mannschaft wurde nach vorn gepeitscht, doch es half nichts, Lok II hätte am Ende fast das 2:0 machen können und konnte die drei Punkte in trockene Tücher bringen. Abpfiff, kurzer Jubel bei den Spielern. Gegenseitig brüllten sie sich dann jedoch vom Rasen. Runter hier! Rein in die Kabine! Bloß keine unnötigen Provokationen in Richtung enttäuschter Chemie-Fans. Erst in der Umkleide ließen die Lok-Spieler ihren Emotionen freien Lauf.
Die zehn Lok-Fans hatten sich bereits vor Ende der Partie am Ausgang des Gästeblocks versammelt. Noch ein kurzer Jubel bei Abpfiff und dann nichts wie weg. Das war auch besser so, denn der ebenfalls geschlossenen „Abreise“ der Chemie-Szene hätte man als Lok-Fan besser nicht über den Weg laufen sollen. Auch als neutraler Beobachter war man an diesem Abend froh, wieder in der Straßenbahn in Richtung Hauptbahnhof zu sitzen. Im Prinzip war es wie immer: Der AKS fasziniert, die Stimmung ist prima, doch irgendwie ist und bleibt Leutzsch auch ein stückweit gruselig. (Allerdings hat Leutzsch auch eine überaus unangenehme persönliche Vorgeschichte, die bereits 19 Jahre zurückliegt.)
Fotos: Marco Bertram