Ein Spiel wie aus dem Drehbuch. Viel Petting, dann aber gleich dreimal ein barbarischer Orgasmus! Drei Höhepunkte in den letzten zehn Minuten. Zweimal drehte der zahlreich mitgereiste Anhang des F.C. Hansa Rostock vor Freude komplett durch, zwischendurch ging die SG Dynamo Dresden in der 87. Minute mit 2:1 in Führung, und auf den Rängen tobten die begeisterten SGD-Fans. Als Hansa in der 90. Minute wiederum den Ausgleich zum 2:2 erzielte, gab es bei den Blau-Weiß-Roten kein Halten mehr. Was für ein Wechselbad der Gefühle für beide Seiten in der Schlussphase dieses brisanten Ost-Duells. Gänsehaut, feuchte Augen, Begeisterung, Erleichterung, Enttäuschung. Alles lag in den letzten Minuten so dicht beieinander. Am Ende trennten sich die Rivalen mit 2:2. Ein Unentschieden, das unter dem Strich in Ordnung geht. Wie ein Sieg fühlte es sich indes für die Rostocker an. Als sportlicher Außenseiter beim Tabellenführer zweimal einen Rückstand egalisieren - das war im Vorfeld dieser Partie nicht unbedingt zu erwarten. Und ja, wer am Ende dieses Fußballspiels nicht emotional komplett durchgebürstet war - dem ist nicht zu helfen.
Dynamo Dresden vs. Hansa Rostock: Utopische Jubelorgien auf beiden Seiten
HotSechseinhalb Stunden zuvor. Der Rostocker Sonderzug rollte am Bahnhof Berlin-Lichtenberg ein, um die dort zusteigenden Hansa-Fans aufzunehmen. Unaufgeregt nutzten einige Zugfahrer den Zwischenstopp, um auf dem Bahnsteig ein Zigarettchen zu rauchen oder in Reihe und Glied fröhlich auf die Gleise zu strullern. Stressfaktoren? Keine. Alles entspannt! Kurz nach halb zehn setzte der Sonderzug der Deutschen Bahn seine Fahrt nach Sachsen fort. Insgesamt 2.100 Hansa-Fans durften dieses Mal zum Auswärtsspiel nach Dresden reisen. Mit hinein in den Block durften sie auch sämtliche Banner und zahlreiche blau-weiß-rote Fahnen nehmen. Im Gegenzug verzichtete man auf den Einsatz auf Pyrotechnik.
Auf Heimseite hatte man eine große Choreo vorbereitet. „Der Traum vom Aufstieg wird größer, größer und größer!“ Passend dazu wurden schwarze, gelbe und weiße Zettel hochgehalten, die ansteigende Linien bildeten. In der Mitte wurde eine große schwarze Zwei präsentiert. Der Weg in die Zweitklassigkeit ist geebnet, der ersehnte Aufstieg ist in greifbarer Nähe. Und das ohne Schulden auf dem Buckel! Die Sportgemeinschaft ist schuldenfrei, wurde in der Halbzeitpause im Rahmen der Verabschiedung des Geschäftsführers Robert Schäfer, der um die vorzeitige Freigabe gebeten hatte, bekanntgegeben. Eine letzte Rückzahlungsrate an Michael Kölmel wird am kommenden Montag überwiesen, dann kann endlich dieses Kapitel geschlossen werden. Ganz klar, ohne die Darlehen von Kölmel wäre manch ein Klub (auch Union Berlin wurde Dank ihm gerettet) vor die Hunde gegangen, doch einmal muss schließlich ein Schlussstrich gezogen werden. Bei Dynamo Dresden ist dies erfreulicherweise nun der Fall.
Während im K Block die Zettel-Choreo präsentiert wurde, ließ man im Stehblock des Gästebereichs die blau-weiß-roten Fahnen wehen. Einfaches Mittel, große Wirkung. Es war angerichtet, das mit Spannung erwartete Aufeinandertreffen der einstigen DDR-Oberligisten und Bundesligisten konnte beginnen. Vor ausverkauften Rängen, 28.622 Zuschauer konnten dieses Mal vor Ort sein, ging es auf dem Rasen sogleich zur Sache. Mit hohem Tempo stürmte Hansa in der dritten Minute über die rechte Seite. Mit Schmackes schloss Stephan Andrist ab, doch der Ball klatschte nur an den rechten Pfosten. Fast im direkten Gegenzug versuchte es Andreas Lambertz von schräg, das Spielgerät sauste jedoch am Hansa-Gehäuse vorbei. Die polizeilichen Einsatzkräfte nahmen sicherheitshalber schon mal in der Pufferzone zwischen Gegengerade und Gästeblock platz. Ein paar Dresdener hatten zehn Minuten vor dem Spiel bereits probehalber am ausgelegten Netz gezerrt und waren ein Stück in Richtung Gästefans gerückt.
Apropos Polizei. Ein Beamter mit Kamera stellte sich auf der anderen Seite des Gästeblocks direkt an die Plexiglaswand. Logischerweise zeigten sich die Hansa-Fans nicht wirklich amüsiert. Das permanente Filmen kann eh nicht verhindert werden, aber muss man sich dazu so dicht an den Block stellen?! Die Antwort der Rostocker: Zuerst wurde ihm eine Fahne quer in den Weg gehängt, wenig später wurde ihm reichlich Fahnenstoff vor das Gesicht gewedelt. Bevor das Ganze ausarten zu drohte, nahm der Beamte schließlich etwas mehr Abstand vom Epizentrum. Auf dem Platz versuchten indes die Gastgeber die Initiative zu ergreifen. Nach knapp 20 Minuten kamen Modica und Testroet zu Möglichkeiten.
Wenig später war es schließlich soweit. 1:0 für Dynamo Dresden! Und was für ein Traumtor! In der Nähe von Pfosten und Torauslinie hatte Justin Eilers mit dem Rücken zum Tor eigentlich keine echte Chance, den Ball unterzubringen. Ach doch, eine Möglichkeit gab es - und genau diese nutzte er! Mit der Hacke brachte er den Ball im Gehäuse unter! Kurioser geht es kaum. Die Dynamo-Fans waren außer Rand und Band. Eindeutige Gesten in Richtung Gästefans. Aufgerissene Münder. Hochgerissene Arme. Nicht wenige zeigten hocherfreut den Mittelfinger. „Hansa-Schweine!“, ertönte es aus allen Ecken.
Die Rostocker hatten die passende Antwort parat. Nur zwei Minuten nach dem Rückstand zog Garbuschewski ab und prüfte SGD-Keeper Blaswich. Der sofortige Ausgleich wollte jedoch nicht fallen, solch ein Späßchen sollte es erst am Ende der Partie geben. Bis zum Pausentee ließ Dresden nicht mehr allzu viel zu, demzufolge ging es mit der 1:0-Führung der Hausherren zu den jeweiligen Kabinenansprachen. Anfangs nicht allzu hektisch ging es im zweiten Spielabschnitt zur Sache. Im Gästeblock wurden indes von einem komplett in Schwarz vermummten Rostocker etliche gezogene Utensilien ausgebreitet. Eine Sachsen-Fahne, einige Schals (darunter ein paar Freundschaftsschals der SGD und des FSV Zwickau), ein T-Shirt, ein Sweatshirt mit der Aufschrift Elbflorenz sowie ein weinrotes Kapuzenshirt. Fein säuberlich wurden die Stücke ausgelegt und somit gut sichtbar dem Heimpublikum präsentiert. Im K Block hatte man dieses Mal nicht allzu viel feindliches Material zur Hand, doch ein paar blau-weiße Stoffe wurden auch dort gezeigt.
Auf dem Platz drängte Dynamo Dresden nach etwas über einer Stunde, zuvor hatte man Rostock etwas viel Freiraum gelassen, zum 2:0. Zuerst versuchte sich Justin Eilers mit einem Sololauf, dann musste Ahlschwede in letzter Sekunde vor Eilers klären. Der zweite Treffer der SGD lag in der Luft, aber er wollte einfach nicht fallen. Und wer vorn die Dinger nicht reinmacht, wird hinten bestraft. Fünf Euro für das Phrasenschwein, aber so ist das nun mal. Kurioses geschah in der 82. Minute. Ecke für den F.C. Hansa. Der Ball wurde hereingebracht und ehe man sich versah, war das Spielgerät plötzlich im Kasten. Nur wer hatte diesen Treffer erzielt? So schnell konnte man gar nicht schauen! Mit leichter Verzögerung legte dann im Gästeblock der Jubelorkan los. Ja, tatsächlich, Marco Hartmann hatte aus dem Stand mit dem Kopf den Ball in den eigenen Kasten gehauen. Einer geschenkten Kuh schaut man nicht ins Maul, die Hansa-Fans waren außer Rand und Band. Es gab kein Halten mehr. Nach den letzten Niederlagen gegen Dresden winkte nun ein Punktgewinn.
Doch noch war lange nicht Schluss. Dresden wollte den Sieg. Mit Schwung ging es in der 87. Minute nach vorn. Stefaniak legte den Ball auf zum zuvor eingewechselten Robert Andrich, und dieser fackelte nicht lange. 2:1 für die Sportgemeinschaft! Sein erster Treffer im Trikot der Schwarz-Gelben! Dresden außer Rand und Band. Haufenbildung vor dem K Block. Das Stadion bebte und nun schepperte das gesungene „Hansa-Schweine!“ richtig derb laut. Der Sieg war quasi in trockenen Tüchern. Was sollte in der verbleibenden kurzen Zeit noch groß anbrennen? Eine Menge! Nach einem Freistoß von Hansa sprintete Ahlschwede heran, schnappte sich den Ball, legte sich ihn zurecht, suchte die Lücke in der Dynamo-Abwehr und zog kurz vor der Strafraumgrenze einfach mal ab. Sekunden später zappelte der Ball im Netz und das kollektive freudige Ausrasten im Gästeblock spottete nun jeder Beschreibung. Was für eine Erlösung aus Sicht der Rostocker.
Wenig später war Schluss und lautstark hallten das „Ahu!“ und das „Sieg!“ über den Platz. Partystimmung unter den 2.100 Gästefans. Etwas Ratlosigkeit bei den Heimfans, doch diese wird sehr bald verfliegen, denn die Freude über den sicherlich baldigen Aufstieg wird diesen Rückschlag schnell in Vergessenheit geraten lassen. Den Rostockern wird dieser Punktgewinn jedoch weiteren Auftrieb im harten Abstiegskampf geben. Und eins ist klar, mit dieser gezeigten Einstellung wird man den Klassenerhalt ziemlich sicher packen!
Buchtipp: Ende 2020 kam der 512-seitige Wälzer „Kaperfahrten - Mit der Kogge durch stürmische See“ aus der Druckerei. Mitgearbeitet haben an diesem Buch rund 20 Personen (Heiko Neubert, Mia B. "Chelsea", Aumi, Keili, Klischi, Anika...), anzuschauen und zu lesen gibt es Berichte, Anekdoten und Fotos aus dem Zeitraum 1988 bis 2020. Mit dabei sind auch einige Aufeinandertreffen von Dynamo Dresden und Hansa Rostock, so zum Beispiel die legendären Partien vom 4.11.1988, vom 22.02.2006, vom 23. Mai 2015 und vom 19. März 2016. Zudem gibt es hinten ein knackiges Interview mit Baldi und NB-Frank zu lesen, in dem es unter anderen über die alten Zeiten des Hansa-Fanclubs Udopia und das Auswärtsspiel in Dresden am besagten 4. November 1988 geht. Interesse geweckt? Zuschlagen! Das Buch ist direkt beim Herausgeber / Autor Marco Bertram bestellbar: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Weitere Infos zum Buch gibt es auch auf der privaten Webseite: www.marco-bertram.de
Fotos: Marco Bertram
Ligen
Benutzer-Kommentare
VG Ronny