Nach und nach trafen gegen 11 Uhr bei schönstem Sonnenschein die Busse und Autos am Leutzscher Straßenbahnhof in der Rathenaustraße ein. Bedächtig begrüßten sich die Anhänger des BFC Dynamo, letzte Details für den geplanten Gedenkmarsch wurden geklärt. Gegen 12 wurde schließlich Aufstellung genommen. Ganz vorn die Personen mit den Blumen und Kränzen, dahinter die 79er mit einem langen Banner: „Staatlich verfolgt seit 1979. Kein Vergessen - Mike Polley - Tod durch Polizeikugeln - 3. November 1990 - ungesühnt“ Nach kurzer Anweisung ging es durch den kleinen engen Tunnel, in dem zahlreiche BFCer den Kopf einziehen mussten, auf die andere Seite der Bahngleise zum alten, inzwischen komplett verwaisten Bahnhof Leipzig-Leutzsch, an dem damals am 03. November 1990 beim Auswärtsspiel des FC Berlin beim FC Sachsen Leipzig die Situation komplett aus dem Ruder lief und letztendlich ein Toter und mehrere Schwerverletzte zu beklagen waren. Während im besagten Tunnel noch lockere Gespräche zu vernehmen waren, verstummten am Ort der Kranzniederlegung auch die letzten Anwesenden. Rainer Lüdtke sprach ein paar Worte und bedankte sich bei den Anhängern des 1. FC Lok Leipzig, der BSG Chemie Leipzig, des 1. FC Magdeburg, der SG Dynamo Dresden, des VfL Bochum, von Wismut Aue und des eigenen Vereins für die Anwesenheit, Zusammenarbeit und Anteilnahme.
Chemie Leipzig vs. BFC Dynamo: „Wir vergessen nie!“ - angemessenes Gedenken in Leutzsch
HotArg beklemmend wurde es, als Peter das Megafon gereicht bekam und schilderte, was damals am besagten Tag geschah. Das was die im Kreis stehenden Anwesenden zu hören bekamen, war erschütternd. Sicher werden die meisten bereits Dokumentation im Netz gesehen und zahlreiche Berichte gelesen haben. Dass die Schüsse aus größerer Distanz abgegeben wurden, scheint unbestritten. Live vor Ort am alten Leutzscher Bahnhof die Worte eines selbst Betroffenen zu vernehmen, war jedoch - auch nach so vielen Jahren - wahrlich schockierend. Peter wurde von einer Polizeikugel in Kopf / Hals getroffen und überlebte denkbar knapp. Fünf Tage lag er im November 1990 auf der Intensivstation, insgesamt drei Wochen blieb er im Krankenhaus. Dass er noch lebt, hat er allein der Tatsache zu verdanken, dass sich in Leipzig eine Uniklinik befindet.
Während seines gesamten Krankenhausaufenthaltes durften seine Familie und Freunde ihn nicht besuchen. Seine Eltern durften ihn nur ein ein-, zweimal sehen. Nachdem Peter wieder ansprechbar war, wurde er jeden Tag von der Polizei verhört. Da die Kugel noch in seinem Hals steckte, konnte der Polizist, der den Schuss abgab, ermittelt werden. Es handelte sich um einen sehr jungen Polizisten, und vermutlich waren es seine ersten Schüsse mit der Dienstwaffe im Rahmen eines Einsatzes. Da die Schüsse eben nicht, wie damals zu lesen waren, aus Notwehr nur auf die Beine gingen, wurde vermutlich bewusst versucht, das Ganze unter die Decke zu kehren und allein den Hooligans des BFC Dynamo die Schuld zu geben an der Eskalation. Versöhnliche Worte? Diese könne er nicht finden, so Peter. Noch immer sei er unendlich wütend darüber, wie im Nachfeld gelogen und vertuscht wurde.
Damals am 03. November 1990 wurden die Anhänger des BFC Dynamo mit Tränengas und Schlagstock aus dem Gästeblock des Alfred-Kunze-Sportparks getrieben. Die Partie FC Sachsen Leipzig vs. FC Berlin sollte ohne Gästefans stattfinden. Am alten Leutzscher Bahnhof eskalierte die Situation vollends. Ein klares Konzept der polizeilichen Einsatzkräfte war nicht erkennbar. Nach den tragischen Vorfällen in Leutzsch eskalierte es im späteren Verlauf des Tages nochmals in der Leipziger Innenstadt, wo zahlreiche Geschäfte geplündert wurden.
Nach den gestrigen Schilderungen von Peter bekam Klasen das Megafon gereicht. Sichtbar tief bewegt stimmte er mit lauter Stimme das „You'll Never Walk Alone“ an, in dessen Refrain sämtliche anwesenden Fans mit einstimmten. Es war ein zutiefst bewegender Moment, bei dem die eine oder andere Träne die Gesichter herunter rollte. Umso befreiender für alle fühlte sich im Anschluss das „Hier regiert der BFC!“ an. Laut hallte zudem das „Wir vergessen nie! ACAB!“ durch Leipzig-Leutzsch.
Auch bei mir suchten die Tränen den Weg aus den Augenwinkeln. Mir wurde bewusst, dass ich es verdrängt hatte, als am Montag nach den Schüssen von Leipzig-Leutzsch in meiner Berufsschulklasse der EBAG am Ostbahnhof die Nachricht vom Todesfall die Runde machte. In den Wochen zuvor wurde ich von einem Kumpel immer wieder eingeladen. „Marco, komm doch mal mit! Hübsch kloppen und auch mal wat absahnen!“ Die Auswärtsspiele in Eisenhüttenstadt und Brandenburg waren im Gespräch. Was für eine konfuse, wilde und auch düstere Zeit im Herbst 1990. Als Jugendlicher wurde man in der Wendezeit voll ins kalte Wasser geworfen. Im Juni 1990 den Abschluss an der Polytechnischen Oberschule, im September dann plötzlich Ausbildung in einem Betrieb, in dem es drunter und drüber ging. Keine Ordnung mehr. Niemand wusste, wie es weitergehen würde. Ausbilder und Auszubildende in einem Boot - allerdings mit anderem Ziel. Es krachte verbal, jeder drehte frei, machte, was er wollte. Am Wochenende beim Fußball genoss jeder die „totale Freiheit“ und ließ auch mal den Frust ab. Der Volkspolizei, die ab Oktober 1990 nun für die Bundesrepublik arbeitete, wurde mitunter mit Fäusten und Steinen gezeigt, was man von ihr hält. Der eine wollte einfach nur Bambule, der andere wollte dem alten System quasi noch einmal richtig in den Arsch treten. Den „Tritt“ hätte ich auch gern gegeben, doch mein Bauchgefühl sagte mir: Das mit der Auswärtsfahrt mit dem FC Berlin lass mal lieber bleiben. Ich war damals 17 Jahre alt. Mike Polley war 18, als er erschossen wurde. Er war keiner „aus der ersten Reihe“. Er war einfach mit dabei. Zur falschen Zeit am falschen Ort.
Im November 1994 fuhr ich dann auch nach Leipzig-Leutzsch. Nach vier Jahren gab es für den FC Berlin die erste Wiederkehr. Ich saß damals auf einem Sitz und wurde bepöbelt, als ich Bilder vom Gästeblock anfertigte. Der kräftige Schlag in mein Gesicht nach dem Spiel vor dem AKS in 1:5-Situation ist eine Anekdote für eine Bierrunde. Mehr nicht. In meinem Kopf fest eingebrannt hatten sich die Ereignisse später am Leutzscher Bahnhof. Wieder eskalierte es. Nicht so schlimm wie im Herbst 1990, doch Schlagstöcke und Steine kamen zum Einsatz. Das von den BFCern immer wieder gebrüllte „Schießt doch! Schießt doch!“ meißelte sich in mein Hirn. So was vergisst man nie. Der Hass auf die polizeilichen Einsatzkräfte war grenzenlos. Ein älterer BFCer sprang auf die Gleise und zwang einen IC zur Notbremsung. Schon bald war das gesamte Bahnhofsgelände eingenebelt. Später am Leipziger Hauptbahnhof fasste mir auf dem Bahnsteig ein behelmter Beamter an den Hals und griff mit den Lederhandschuhen fest zu. Sein Gesicht werde ich nie vergessen. Genauer gesagt, seinen Hass, der in seinen Augen klar erkennbar war. Mehr möchte ich auch gar nicht dazu schreiben. In Büchern hatte ich die Ereignisse von 1994 mehrmals beschrieben. Nach dem gestrigen Gedenkmarsch und der Kranzniederlegung öffneten sich im Kopf noch einmal ganz andere Türen - nämlich die zum düsteren Keller, den man eigentlich gern stets geschlossen hält.
Am gestrigen Nachmittag führte mein Weg mit in den Gästeblock. Als einer der ersten passierte ich die doppelte Absperrung und fertigte die ersten Bilder an. Es dauerte ein Weilchen, bis sämtliche Gästefans im Stadion waren, doch aufgrund des Zeitpuffers kam keine Hektik auf. Bei Anpfiff war der Gästeblock gefüllt, am Zaun war ein eigenes angefertigtes Banner in Gedenken an Mike Polley befestigt.
Während auf Heimseite der Stadionsprecher das berühmte „Warum seid ihr alle hier??“ brüllte und auf dem Norddamm eine Choreo („Gegen alle Gewalten - Klasse halten“) zu sehen war, stieg im Gästeblock dichter schwarzer Rauch auf. Wenig später wurde hinter dem Gästebereich ein Wasserwerfer aufgefahren.
Im Gästeblock des AKS fand sich am Sonntagnachmittag der wohl älteste Gästemob des Landes ein. Die meisten gehörten der Ü40-Fraktion an und standen im krassen Gegensatz zu den aktiven Fanszenen anderer Vereine. Vor Ort in Leutzsch waren selbstverständlich auch die Fraktion H und die Ultras BFC, doch an diesem Nachmittag ging es aufgrund des hohen Altersschnitts und auch aufgrund des Gedenkens an Mike Polley sehr verhalten zu. Während es bei der BSG Chemie Leipzig derzeit sportlich um alles geht, haben die Berliner nur noch den Berliner Pokal im Fokus. Das Halbfinale gegen Tennis Borussia Berlin am kommenden Mittwoch ist das A & O, auswärts bei Chemie trat quasi eine B-Elf an. Demzufolge war die BSG Chemie Leipzig die bessere Mannschaft und bestimmte das Spielgeschehen.
Von Berliner Seite aus Respekt gezollt wurde an diesem Tag der aktiven Fanszene der BSG Chemie. Auf provozierende Spruchbänder wurde bei den Diablos komplett verzichtet. Stattdessen gab es in der ersten Halbzeit folgendes auf dem Norddamm zu lesen: „In Gedenken an die durch die deutsche Polizei Ermordeten! RIP! ACAB!“ Lauter Applaus im Gästeblock. Das „ACAB!“ hallte nun aus beiden Fanlagern. Auf dem Rasen erspielte sich Chemie indes einige Möglichkeiten und ging nach einer Viertelstunde Dank des Treffers von Pierre Merkel verdient in Führung. In der zweiten Halbzeit hätte Chemie erhöhen können, ja müssen. Zum einen hatte jedoch BFC-Keeper Kevin Sommer einen guten Tag und stand das eine oder andere Male bereit zur Abwehr, zum anderen ballerte Rintaro Yajima in der 52. Minute einen Strafstoß deutlich über die Latte.
Und beim BFC? Auf dem Rasen passierte nicht viel. Im Block sorgte Klasen in der zweiten Halbzeit mit einer angestimmten Uffta für etwas Schwung. Kurz vor Ende wurde Chemie für die ausgelassenen Chancen fast böse bestraft, als nach einer Ecke plötzlich der Ball im Gehäuse lag. Jubel im Gästeblock, doch aufgrund eines Stürmerfouls wurde der Treffer nicht gegeben. Mit 1:0 konnten die Leutzscher die Partie gewinnen. Ein Sieg, der aufgrund der Siege der direkten Konkurrenten, sehr wichtig ist.
Nach dem Spiel erfolgte noch eine polizeiliche Maßnahme, bei mehreren Fans wurden die Personalien aufgenommen. Grund war weniger der aufsteigende Rauch, sondern die während der Aktion erfolgte Vermummung einiger BFC-Anhänger. Diese Maßnahme zog und zog sich, mit rund 90-minütiger Verspätung konnten die letzten drei Busse schließlich Leipzig-Leutzsch verlassen und gen Berlin rollen…
Ergänzung: Im Vorfeld der Partie brachte die Georg-Schwarz-Brigade aus Leipzig-Leutzsch eine Gedenktafel am alten Bahnhof an.
Fotos: Marco Bertram, Patrick Skrzipek
Ligen
Benutzer-Kommentare
Ruhe in Frieden MP!
Gruß Oliver