Als Fan eines Drittligisten erlebst du in einer gewöhnlichen Saison nicht allzu viele Highlights. Meppen, Großaspach und Lotte sind halt keine Gegner, um die dich nicht viele Leute beneiden. Da kommt der DFB-Pokal mit der Chance auf einen attraktiven Gegner aus der Ersten Liga doch ganz gelegen, um den Glanz vergangener Tage zumindest mal für ein Spiel zurück ins eigene Stadion zu holen.
Megaparty im Ostseestadion: Hansa Rostock schlägt den VfB Stuttgart!
HotBei der Auslosung im Sommer hoffst du, dass es nicht Sandhausen oder Ingolstadt werden. Stattdessen bekommt dein Verein den VfB Stuttgart zugelost und du bist ganz zufrieden. Stuttgart ist interessant genug, um die Leute ins Stadion zu holen, aber kein Übergegner, bei dem es nur um die Höhe der Niederlage geht.
Irgendwer gräbt eine Statistik aus, die besagt, dass Hansa in allen drei DFB-Pokal-Spielen gegen Stuttgart gewonnen hat und plötzlich scheint auch dieser Sieg nur noch Formsache. Beim VfB spielen Mario Gomez, Benjamin Pavard und Ron-Robert Zieler? Na und, Hansa hat in den letzten 26 Jahren dreimal gegen Stuttgart im Pokal gewonnen. Was soll denn da bitte schief gehen?
Dann ist die Sommerpause irgendwann vorbei, die reguläre Saison läuft wieder und plötzlich ist es so weit. Samstagabend, das Stadion füllt sich langsam. Hattest du in den letzten Tagen auf Nachfragen noch geantwortet, dass du nach dem Spiel nicht in Rostock übernachtest, weil Hansa keine Verlängerung braucht, um das Ding klar zu machen, und du dadurch ja gar nicht so spät nach Hause kommst, backst du plötzlich kleinere Brötchen.
Nicht gleich in der ersten halben Stunde drei Gegentreffer zu kassieren wäre schön. Es so lang wie möglich offen halten. Sich zumindest anständig verkaufen. Gute Stimmung haben. Keine Szenen, die wieder wochenlang für Diskussionen sorgen. Einen schönen Abend verbringen. Das wär’s doch. Und wenn sich dann vielleicht doch noch eine Verlängerung ergibt, dann wäre alles gut.
Das Stadion ist ausverkauft und die meisten Zuschauer sind dem Aufruf von Fanszene und Verein gefolgt, in weiß zu erscheinen. Der Gästeblock ist ebenfalls voll und wird vor dem Spiel schon einmal richtig laut. Weil die Bandenwerbung im Pokal abgeklebt wird, gibt es hinter dem Tor an der Nord Platz für das große “Ostseestadion Rostock”-Banner. An der Süd steht über die gesamte Breite “ULTRAS” mit der Kogge und dem Krieger der Suptras in der Mitte.
Die Gänsehaut vom “Hansa Forever” ist noch nicht abgeklungen, da werden auch schon die Schals und Fahnen geschwungen. “Forza FCH!” Und als die Mannschaften aus dem Spielertunnel kommen, geht es richtig los. Erst leuchtet nur eine Fackel, dann eine Handvoll und schließlich brennt die ganze Süd. Du stehst mittendrin und siehst nichts außer roten Flammen und weißem Rauch, es ist unfassbar heiß. Du gehst in dieser großartigen Atmosphäre auf und weißt, heute wirst du alles geben, denn nichts anderes erwartest du von jedem anderen im Stadion, schon gar nicht von den Männern auf dem Platz.
Als der Schiedsrichter das Spiel anpfeift, hängt der Rauch noch in der Luft, aber jeder einzelne im Stadion ist da, um die Mannschaft zu unterstützen und die erwischt einen sehr guten Start. Die erste Chance gehört nach ein paar Minuten zwar den Gästen, aber Hansa lässt sich nicht beeindrucken und spielt mutig nach vorne. Schon nach acht Minuten - der Rauch ist immer noch nicht verflogen - kommt Hansa zu seiner ersten guten Chance.
Vladimir Rankovic spielt den langen Ball auf rechts nach vorn, Cebio Soukou lässt Holger Badstuber stehen, dribbelt in den Strafraum und legt den Ball ganz souverän an Ron-Robert Zieler vorbei ins Tor. Mit dem Außenrist. Als wäre es das normalste der Welt für einen Drittligaspieler, einen gestandenen Bundesliga-Torwart zu vernaschen.
Was für ein Tor, was für ein Auftakt. Das Ostseestadion bebt und du kannst es nicht fassen. Kannst es nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert, wie wichtig dir dieses Tor ist, wie viel Energie, wie viele Emotionen einfach nur aus dir heraus geschrien werden wollen, wie gut es sich anfühlt, genau hier zu sein und nirgendwo anders.
Jetzt geht es Schlag auf Schlag weiter. Es brennen wieder ein paar Fackeln, T-Shirts werden ausgezogen und durch die Luft gewedelt, es gibt keine Zeit zum Verschnaufen, denn die hat die Mannschaft auf dem Platz auch nicht. Hansa spielt stattdessen unbeirrt weiter und lässt sich nicht aus dem Konzept bringen. In dieser Phase ist es ein ausgeglichenes Spiel und die Führung nicht unverdient.
Nach einer knappen halben Stunde übernimmt Stuttgart schließlich die Kontrolle und drängt Hansa in die Defensive. Die Gäste bauen nun mehr Druck auf das Tor von Ioannis Gelios auf, aber Mannschaft und Fans halten dagegen. Leise ist es im Ostseestadion ja eigentlich nie, aber eine solche Lautstärke wie heute hat man hier schon lange nicht mehr gehört und das geht auch an den Spielern nicht vorbei.
Der Gästeblock trägt nicht besonders viel zur Atmosphäre bei und kann auch nichts bieten, was man nicht von jedem anderen Erstligaverein auch hören könnte. Für Stuttgart entstehen zwar ein paar Möglichkeiten zum Torabschluss, aber wirklich brenzlig wird es nur einmal nach einem Freistoß von Dennis Aogo, den Ioannis Gelios aber parieren kann.
Dann endet die erste Halbzeit nach einer gefühlten Ewigkeit und nach außen hin hast du eine große Klappe - “Jetzt noch ein, zwei Dinger nachlegen und dann ist gut.” - aber innerlich hast du nur Schiss. Dass Stuttgart erst den Ausgleich und dann noch drei, vier Tore macht. Dass es so wird wie immer: gut gekämpft, tolle Stimmung, aber am Ende hat es nicht gereicht, Klassenunterschied und so. Dass hinterher die Enttäuschung überwiegt. Dass dir diese eine Szene wochenlang im Kopf herumgeistert, die die Entscheidung hätte sein können. Was wäre, wenn? Wer wäre wohl der nächste Gegner geworden? Wie weit hätten wir es geschafft?
Dagegen hilft nur eins: nicht nachdenken, Vollgas geben und jede Minute genießen, die die Führung weiter Bestand hat. Einfach weiter machen.
Das ist auch dringend notwendig, denn Stuttgart dominiert die zweite Halbzeit von Beginn an. Es ist jetzt ein Spiel auf ein Tor und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, wann der Ausgleich fällt. Doch Hansa hält weiter gut dagegen, die Abwehr um Julian Riedel und Kai Bülow lässt nicht viel zu und Stuttgart fällt trotz der drückenden Überlegenheit nicht viel mehr ein als einige Flanken in die Mitte, die nicht gewinnbringend verwertet werden können oder mit Glück haarscharf am Pfosten vorbei fliegen.
Hansa spielt mittlerweile mit einer Fünferkette in der Abwehr und einer Viererkette zur Sicherheit davor. Es ist immer ein Fuß oder Bein eines Rostockers im Weg, das den Abschluss unterbinden kann. Aber trotzdem weißt du: Wenn Stuttgart jetzt den Ausgleich macht, geht Hansa hier unter und verliert das Spiel. Es geht nur noch ums Halten des Vorsprungs und jeder tut sein möglichstes. Die Spieler auf dem Platz, die Fans auf den Rängen, der Trainer an der Linie.
Erst eine Viertelstunde vor Schluss bekommt Hansa wieder ein paar Spielanteile und kann hin und wieder mal einen Ball in die Stuttgarter Hälfte bringen. Leider fehlt inzwischen die Kraft, um die Bälle sicher an den Mann zu bringen und die Konter gefährlich auszuspielen. Stuttgart wirkt mittlerweile allerdings echt genervt und du spürst, dass das Spiel wieder zu kippen droht, dass hier heute tatsächlich die Sensation möglich ist.
Jeder Ball nach vorne, jede offensive Aktion wird vom Publikum dankbar angenommen und lässt die Stimmung nochmal aufkochen. Die Mannschaft ist körperlich am Limit angekommen und die Unterstützungen von den Rängen gefragt, um die allerletzten Reserven frei zu setzen. Das weißt du, das weiß jeder im Stadion und jeder gibt nochmal alles für die Mannschaft, für den Verein. Die Stimmung geht mittlerweile nicht mehr nur von der Süd aus, auch von den anderen Seiten kommen Gesänge und schwappen durch das Stadion. Nur noch ein paar Minuten durchhalten, dann ist es geschafft.
Und dann geht es plötzlich ganz schnell. Cebio Soukou setzt sich auf rechts durch und leitet den Ball weiter auf Willi Evseev. Dieser bekommt nach einem missglückten Flankenversuch die zweite Chance, spielt Soukou an, der mittlerweile am Elfmeterpunkt lauert und den Ball nach links auf den freistehenden Mirnes Pepic weiterleitet. Pepic nimmt den Ball volley und setzt ihn in die rechte Ecke am Torwart vorbei ins Tor.
Und dann explodiert das Stadion. Du schreist alle Energie heraus, die du noch in dir hast, schüttelst jeden, den du zu fassen bekommst, verdrückst eine Träne und bist komplett außer dir. Es ist ein Augenblick purer Extase, kollektiven Ausrastens, reiner Freude. Überall bilden sich Trauben von Menschen, die sich in den Armen liegen, die gesamte Bank ist auf dem Feld, der Torschütze bekommt die gelbe Karte für das Ausziehen des Trikots und das ist das unwichtigste, das heute passiert. Denn es steht 2:0 gegen einen Erstligisten im Pokal, nur wenige Minuten vor Schluss und es ist kein Traum.
Falls bis dahin noch jemand gesessen hat, ist auch er nun aufgestanden und klatscht die Arme über dem Kopf zusammen. “AHU!” hallt es durch das Stadion, hinsetzen wird sich hier niemand mehr. Der Sieg ist nun so gut wie sicher und es wird Zeit für ein bisschen Übermut. “Und ihr wollt Erste Liga sein?”, “Ihr könnt nach Hause fahr’n!”, “Oh, wie ist das schön!”.
Die letzten Minuten fühlen sich an wie eine Ewigkeit. Stuttgart versucht es natürlich weiterhin, kommt aber nicht an Hansas Defensive vorbei, denn diese besteht jetzt aus zehn Spielern, die mit ihrer letzten Kraft und schierem Willen das Tor verteidigen.
Nach 94 Minuten pfeift der Schiedsrichter das Spiel ab und es gibt endgültig kein Halten mehr. Die komplette Bank ist sofort wieder auf dem Platz, die verletzten Oliver Hüsing und Marcel Hilßner feiern zusammen mit der Mannschaft, die letzten Reste der Bengalos werden abgebrannt. Das größte Spiel, das das Ostseestadion in den letzten Jahren gesehen hat, endet 2:0 gegen den VfB Stuttgart, Hansa steht in der zweiten Runde des DFB-Pokals und so richtig fassen kannst du es an diesem Abend noch lange nicht. Aber das macht nichts, denn dafür ist noch genug Zeit.
Jetzt heißt es erstmal, die Mannschaft feiern und den lieblichen Überschwang des Siegestaumels genießen. “Absteiger, Absteiger!” schallt es den Stuttgartern auf ihrem Weg Richtung Gästeblock von der Süd aus entgegen. “Gegen Hansa kann man mal verlieren!”. “Berlin! Berlin! Wir fahren nach Berlin!”. Wenns läuft, drehn se durch, ansonsten sind se Mecklenburger.
In diesem Sinne: noch fünf Spiele bis Europa!
Bericht: Anika
Fotos: Aumi, Arvid Langschwager, Stefan Brunkhorst
- Ostseestadion
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Benutzer-Kommentare
Dennoch muss auch gesagt werden, dass sicher der Gegner im eigenen Rausch etwas untergeht. Aber auch hier muss ich den Leuten aus Stuttgart Respekt zollen. Denn bis zum entcheidenden 0:2 war das eine ordentliche Leistung und gerade in Anbetracht der Situation z.B. um Längen besser als Dortmund letzte Saison in Magdeburg.
Grüße