Heimkurve, Sitzplatz auf der Gegengerade, Innenraum, Pressetribüne, VIP-Bereich oder Gästeblock. Alles beim gleichen Spiel - alles im gleichen Stadion. Alle bekommen das gleiche sportliche Geschehen auf dem Rasen zu sehen, doch sind die Unterschiede in Sachen Wahrnehmung enorm. Manchmal genügt es ja bereits bei einem Spiel XY ein wenig den Standort in einer Stehkurve zu wechseln. Der Wechsel vom Innenraum auf die Pressetribüne oder von einem Stehplatz zu einem gemütlichen Sitzplatz ist frappierend und überrascht mich manchmal auch nach 30 Jahren Fußball immer wieder aufs Neue.
Traumziel Rudolf-Harbig-Stadion Dresden: Auswärts alle asozial
Und klar doch, der spannendste Ort eines Fußballstadions ist der Gästeblock. Welcher VIP-Sitzer oder Verbandsfunktionär kann sich wirklich vorstellen, wie es ist, als Gästefan zu einem Spiel zu fahren und in einem gut abgeschirmten Gästekäfig zu stehen?! Neee, kannste dir nicht vorstellen! Musste erlebt haben. Punkt. Und da ich von Natur aus neugierig bin und stets auf der Suche nach dem gewissen Adrenalin-Kick war, schaute ich einst im Zeitraum 1992 bis 1995 gleich 25-mal in der Gästekurve des alten Müngersdorfer Stadions vorbei. Die ersten beiden dort im Gästeblock gesehenen Partien gegen den TSV Bayer 04 Leverkusen und den F.C. Hansa Rostock im Frühjahr 1992 brachten den Stein zum Rollen. Was für ein geiler Scheiß! Was für ein Nervenkitzel! Oben die Kölner Hools im Block 38, unten die abgehenden Gästefans. Ein Träumchen für Adrenalin-Junkies. Ein Spiel in Kölle war immer der Hammer. Also stellte ich mich immer wieder mit rein in die Gästekurve. Mit Dresden, VfB Leipzig, Karlsruhe, Hamburg, Mönchengladbach, Schalke 04. Es war immer was los, und das Rütteln der Hools an den Zäunen und der anschließende Gang über die legendäre „Boxwiese“ zur Straßenbahn waren legendär.
Umso mehr war ich erstaunt, als Karsten und ich zwischendurch auch mal Sitzplatztickets für den Oberrang oder die Gegengerade gekauft hatten. Was für ein Unterschied! Was für eine andere Wahrnehmung. Irre! Allein die Akustik war plötzlich eine ganz andere. Im Gästeblock dachte man selbst beim Spiel gegen den KSC, dort sei der Nabel der Welt, genauer gesagt, das Epizentrum der Betonschüssel namens Müngersdorfer Stadion. Doch Pustekuchen. Da musste wirklich schon Schalke kommen.
Nun denn, kürzlich fiel mir auf einer Facebook-Seite das Buch „Auswärts alle asozial“ von Uwe Leuthold ins Auge. Ein Blick auf amazon - oha, das gute Stück scheint irre gut anzukommen. Da ich den Autor selbstverständlich kenne, er schrieb unter anderen die „SG Dynamo Dresden Fußballfibel“, war mir klar, dass das Lesen dieses Buches für mich ein Muss ist. 17 Heimspiele von Dynamo Dresden. 17-mal im Gästeblock. Als Dynamo-Fan ging er ein Jahr fremd. Die Fragen, die ihn bewegten: Ist man auswärts immer asozial? Wie groß ist der Respekt vor der Stimmung im Rudolf-Harbig-Stadion? Was bewegt die Gästefans in Zeiten zunehmender Kommerzialisierung? Wie zerlegt man fachgerecht eine Stadiontoilette?
Das Projekt „17-mal Gästeblock“ wurde in der Zweitliga-Saison 2017/18 umgesetzt und bis auf ein Spiel, bei dem er in einem Stau steckenblieb, erfolgreich durchgeführt. Die Gegner der SG Dynamo Dresden waren in jener Saison unter anderen der 1. FC Union Berlin, der FC Erzgebirge Aue, der FC St. Pauli, der 1. FC Nürnberg, Eintracht Braunschweig und der 1. FC Kaiserslautern. Klingt interessant - und das war es auch. Um mal gleich zu den Fakten zu kommen: Uwe ging in jener Saison fremd - und die SG Dynamo Dresden war in der Heimtabelle auf dem letzten Platz zu finden! Fünf Siege - vier Unentschieden - acht Niederlagen. So lautete die Bilanz aus Sicht der SGD. Allein der guten Auswärtsbilanz (Rang sechs) war es zu verdanken, dass Dresden nicht in die 3. Liga abstieg. Das war wahrlich knapp.
Das Buch musste den Weg zu mir finden. Und das tat es dann auch. Das Cover war schon mal vielversprechend, und ich suchte in den jeweiligen Kapiteln mal gleich die Fotos. Ooooh schade, nur schwarz-weiß. Aber hey, hier geht es auch nicht um Fotos. Die Worte sprechen Bände genug. Als Fremder fotografiert man nicht im Gästeblock - und generell ist bei vielen Fanszenen das Hantieren mit Handy im Block ein absolutes No-Go. Verständlich also, dass Uwe Leuthold bei jedem Spiel nur eine Art Symbolfoto knipste. Quasi als Beweisfoto. Außer bei einer Partie. Beim Duell SG Dynamo Dresden vs. FC St. Pauli wurde es als Außenstehender nicht wirklich gemütlich. Nachdem das Smartphone in die Hand genommen wurde, gab es gleich ne Ansage, die wenig Spielraum ließ. Bei einem erneuten Versuch gab es sogleich einen gezielten Becherwurf. Ha, beim Lesen dieses Kapitels habe ich innerlich richtig abgefeiert. Ich stellte mir vor, wie ich mich mal auswärts in den Pauli-Block stellen würde. Utopisch. Ahu!
Aber für Uwe Leuthold gab es auch das eine oder andere wirklich gemütliche Stelldichein im Gästebereich des Dynamo-Stadions. Nett ins Gespräch kam er unter anderen mit den Fans aus Sandhausen und Ingolstadt. Richtig Alarm im Block war, als Eintracht Braunschweig und Fortuna Düsseldorf zu Gast waren. Bei den einen ging es robust und eher im Old-School-Stil zu, die anderen feierten frenetisch den Aufstieg in die 1. Bundesliga. Laut und brachial. Das sind Situationen, bei denen du auch als Außenstehender Gänsehaut und Pipi in den Augen bekommst. Weil es geil ist. Weil es Fußball ist. Weil es genau diese Momente sind, die unseren Fußball ausmachen.
Ich möchte an dieser Stelle auch gar nicht zu viel verraten. Weil ich so begeistert bin, würde ich am liebsten gleich die eine oder andere Anekdote weitergeben, doch wäre das ja blöde. Ich hatte das Büchlein in zwei Stunden durch. Es hätte doppelt, dreimal, ja zehnmal so dick sein können. Was soll ich sagen? Logisch, dass es von mir eine klare Kaufempfehlung gibt. Und da das Teil so lässig ist, muss ich wohl die Kölner Geschichten von 1992 bis 1995 auch mal auf Papier bringen. :-)
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Anmerkung: Das Aufmacherfoto ist nur ein Symboldbild und soll den Blick aus dem Gästeblock verdeutlichen. Hansa Rostock spielte in jener Saison leider eine Etage tiefer. Auf dieses Kapitel hätte ich mich allerdings ganz besonders gefreut... *Zwinkersmilie*
Fotos: Anika, Marco Bertram, K. Hoeft, Maik Demuth