Fußballstadt Buenos Aires: Interview mit dem Fibel-Autor Lukas Lange

Fußballstadt Buenos Aires: Interview mit dem Fibel-Autor Lukas Lange

 
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In Argentinien werden Liebe, Leidenschaft und Verrücktheit für den Fußball extrem gelebt. Die Stadien sind Orte großer Emotionen – selbst die VIP-Plätze sehen aus wie die Fankurven in Deutschland. So steht es im Klappentext der neuen Fußballfibel geschrieben. Lukas Lange, der 1986 in Bern geboren wurde und viele Jahre bei Young Boys in der Fankurve stand, lebt seit sieben Jahren in seiner Wahlheimat Buenos Aires und fand in der Kurve von San Lorenzo ein neues Zuhause. Während des Corona-Lockdowns nutzte er die Zeit und verfasste ein überaus umfangreiches Buch über die Fußballstadt Buenos Aires. Bevor er am 1. September sein Werk in der Schankwirtschaft BAIZ in Berlin Prenzlauer Berg persönlich vorstellen wird, durften wir ein ausführliches Interview mit ihm führen. Dabei ging es um seinen persönlichen Werdegang, den Alltag in Buenos Aires und auch um die kleineren Vereine abseits der großen Metropole. Viel Spaß beim Lesen!

turus.net / Marco: Moin Lukas, erzähl doch mal zuerst, wo du aufgewachsen bist, wie du zum Fußball kamst und welcher Verein anfangs hier in Europa dein Herz beglückt hat.

Lukas Lange: Hallo Marco, vielen Dank schon mal für die Möglichkeit für dieses Interview. Ich bin 36 Jahre alt und komme aus Bern in der Schweiz. Dort bin ich aufgewachsen und wurde recht früh Young Boys Fan. Warum genau, weiß ich gar nicht. Meine Eltern waren - was Bern betrifft - nicht fußballinteressiert. Trotzdem war ich 1995 im Alter von neun Jahren bei meinem ersten Spiel. Im Anschluss wollte ich immer wieder mit meinen Jungs zu den Spielen fahren. Zwar wurde Young Boys zuletzt viermal Schweizer Meister und spielte in der Champions League, doch war dies damals ganz anders. Sie waren recht schlecht und spielten immer am Rande des Abstiegs. 1997 sind sie dann auch abgestiegen. Von daher war es auch etwas schwieriger, Schulfreunde zu finden und mit ihnen dorthin zu fahren. Ich konnte das aber durchziehen. Ab 1997 sah ich sämtliche Heimspiele, 1998 durfte ich im Alter von 12 Jahren auch auswärts fahren. Ich würde das halt als normale Fankarriere beschreiben. Ich bin alles gefahren und wurde auch in der Fankurve aktiv. Parallel dazu bin ich auch zu vielen anderen geilen Spielen gefahren in Europa und auf der ganzen Welt, um meine Länderpunkte zu machen. In meinem Fall war es jedoch weniger klassisches Groundhopping. Ich wollte einfach geile Spiele sehen. Speziell zu sagen ist, dass meine Mutter nicht fußballinteressiert ist und mein Vater gebürtiger Hamburger ist. Seit über 40 Jahren lebt er in der Schweiz, ist aber HSV-Fan. Als Kind hatte ich immer die HSV-Spiele am Fernseher verfolgt. Daher habe ich als Schweizer auch einen deutschen Verein - und das ist der HSV. Ich bin früher auch häufig dorthin gefahren.

 

turus: Und ab wann hattest du deine Fühler nach Südamerika ausgestreckt?

Lukas: In den längeren Sommerpausen bin ich immer auf ausgedehnte Reisen gegangen. Grundsätzlich war ich auch viel in den asiatischen und arabischen Ländern unterwegs, vor allem aber war ich von den lateinamerikanischen Ländern fasziniert. Einerseits hat mir dies als Reiseregion am besten gefallen, andererseits fand ich dort den Fußball klasse. Dorthin habe ich viele Reisen gemacht, und ich war in fast allen Ländern Lateinamerikas. Vor allem in Südamerika. Bei meiner Faszination für den Lateinamerika und den lateinamerikanischen Fußball stach ganz klar Argentinien hervor. Buenos Aires ist einfach die Fußball-Welthauptstadt. Es gibt einfach keine andere Stadt mit so vielen Vereinen und so viel Fußballfankultur. Das Spezielle dort: Viele assoziieren Fußball mit der Fußballfankultur. Klar, Leute wie wir sprechen auch hier in Europa, wenn wir uns über Fußball unterhalten, nicht nur über das sportliche Geschehen und die Vereinsstrukturen, sondern in einem Atemzug von der Fankultur. In Argentinien ist dies allerdings in der ganzen Gesellschaft so. Wenn man dort beispielsweise über die Boca Juniors redet, spricht man nicht nur über die Spiele und den Verein, sondern über die Kurven. Diese sind elementarer Bestandteil der Außendarstellung des Vereins. Wenn zum Beispiel der 50-jährige Mitarbeiter mitbekommt, dass du Fußballfan bist, zeigt er dir nicht ein Ausschnitt eines Spiels, sondern er zeigt dir mal gleich ein YouTube-Video, wo die Kurve ein neues Lied singt und erklärt, dass dieser Verein XY die besten Fans hat. Aus diesen Gründen packte mich die Faszination für Argentinien. Ich bin immer wieder dorthin gereist, und es war immer mein Traum, dort eines Tages zu leben. Mit 28 Jahren habe ich mich dann daheim bei den Young Boys ein wenig zurückgezogen aus der aktiven Fanszene und verwirklichte meinen Traum, nach Buenos Aires zu ziehen. Dort hat man als Ausländer, der dort dauerhaft wohnen möchte, einige Vorteile. Zum Beispiel kann ich dort wohnen und falle auf der Straße nicht auf. In Kolumbien könnte ich dagegen zehn Jahre wohnen und trotzdem würde jeder erkennen, dass ich Ausländer bin. Ein anderer Punkt: In Kolumbien, Venezuela und Brasilien gibt es nur Ober- und Unterschicht und es gibt wenig Vermischung. Das ist zum Leben in solch einer Gesellschaft schon sehr anstrengend. Zwar sind auch in Argentinien die Ober- und Unterschicht ausgeprägter als in Deutschland und der Schweiz, doch ist es dort nicht so krass, dass nur in seiner Schicht gelebt wird. Es gibt durchaus eine Vermischung. Das waren auch die zwei wichtigen Punkte, warum ich mich in Lateinamerika für Buenos Aires entschieden habe. 

turus: Wo genau in Buenos Aires wohnst du?

Lukas: Seit sieben Jahren wohne ich nun in Buenos Aires, vorher war ich oft beim Reisen dort. Genauer gesagt, seit 14 Jahren war ich immer wieder dort. Zuerst habe ich ziemlich zentral in der Nähe des Congreso in einer großen WG gewohnt. Das war eine ziemlich coole Mischung aus Leuten aus dem Landesinnern und Europäern, die dort gewohnt haben. Da jedoch fast alle meine Freunde in der Zona Norte wohnen - in etwa zwischen den Stadien von Platense und Tigre -, bin ich dann auch dorthin gezogen. Ich war zunehmend mit den Leuten dort unterwegs, und nun wohne ich seit fünf Jahren selber in der Zona Norte. Ich habe dort an mehreren Orten gelebt. Unter anderen in Vicente López, gar nicht mal so weit weg vom Platense-Stadion. Mittlerweile wohne ich in Béccar, einem Teil von San Isidro. Ganz in der Nähe des Tigre-Stadions. Ich lebe dort eigentlich nur mit argentinischen Freunden. Ich wohne zwar inzwischen alleine, doch im selben Hochhaus haben einige Freunde eine Wohnung. Meinen Alltag bestreite ich nur mit Einheimischen und ich bin in einige Freundesgruppen hineingerutscht. 

turus: Was machst du eigentlich beruflich?

Lukas: Ich habe eine Tourismus-Ausbildung und meine Eltern haben in Bern ein Tee-Fachgeschäft. Ich habe Kundenreisen nach China, Japan und Südkorea organisiert, weil wir als Fachgeschäft natürlich unsere Tees direkt vor Ort bei den Teebauern einkaufen. Direkt in den Dörfern kann man zu den Teebauern gehen und die Teesorten begutachten. Die Nachfrage war da und ich habe dann seit 2012 die Kundenreisen nach Fernost geplant und organisiert. Dies mache ich auch weiter, während ich hier in Argentinien lebe. Alle drei Reisen sind immer nacheinander, und somit fliege ich einmal im Jahr rüber und führe dann die drei Reisen durch. In der Regel mache ich dann auf der Rückreise einen Halt in Europa und besuche Freunde und Familie. Wenn’s gut läuft, schaue ich, wie Young Boys Meister wird. In Buenos Aires arbeite ich auch mit Touristen. Ich mache verschiedene Dinge, führe kleine Führungen durch oder auch größere - je nach Nachfrage. Unter anderen verkaufe ich den Leuten auch Eintrittskarten für die Spiele von Boca und River, weil das teilweise nicht einfach ist. Aber ja, das Thema Tourismus ist seit drei Jahren schwierig, und die letzten zwei Jahre war ich wegen Corona quasi ohne Job. Und in dieser Zeit habe ich nun dieses Buch über den Fußball in Buenos Aires geschrieben. Inzwischen sind allerdings die ersten Touristen wieder nach Buenos Aires zurückgekommen und ich kann wieder arbeiten. Ich hoffe, dass ich nächstes Jahr wieder nach China, Japan und Südkorea gehen kann. Ob das wirklich klappt, weiß ich allerdings noch nicht genau.

 

turus: Hast du in Buenos Aires einen neuen Herzensclub gefunden?

Lukas: Meine fußballerische Entwicklung in Argentinien war ähnlich wie die bei vielen Leuten, die dort hingereist sind. Ich schaute erst einmal ganz viele Spiele und war fasziniert. Ich habe all die Derbys gesehen - die großen und kleinen. Ich fand die eine Kurve richtig geil und die andere Kurve halt auch mal weniger geil. Nach all den Jahren bin ich dann bei San Lorenzo hängengeblieben - und das ist mittlerweile mein argentinischer Verein. Das habe ich auch im Buch so deklariert. Ich hatte zuerst einige wichtige Spiele gesehen und dann habe ich Leute kennengelernt und bin nach und nach reingewachsen. Eines Tages stand ich dann bei denen mit in der Kurve. Anfangs hatte ich ja in der Innenstadt gewohnt und dort hatte man irre schnell Leute kennengelernt. Meist waren dies aber eher Argentinier aus dem Landesinnern, andere Latinos und Europäer. Durch San Lorenzo bin ich dann in die Gruppe reingerutscht, die in der Zona Norte wohnt und im Stadion mit der Martínez-Fahne präsent ist. Dadurch habe ich auch ihre anderen Kollegen kennengelernt, die River-Fans oder Boca-Fans sind. Auf diesem Wege bin ich dann in die Freundesgruppen reingerutscht, die nun mein Zuhause sind.

turus: Um mal auf deine Fußballfibel zu sprechen zu kommen. Wie kam es eigentlich dazu? Wie ist eigentlich der Kontakt zum Herausgeber Frank Willmann bzw. zum Verlag zustande gekommen?

Lukas: Also der Kontakt kam zustande, weil ich einen guten Freund habe, der die Darmstadt-Fußballfibel geschrieben hat. Er hat mir dann eines Tages gesagt, hey, ich habe eine Mail vom Verlag bekommen, in der drin steht, dass nun auch Städte-Fibeln in Planung seien. Er meinte dann, dass ich unbedingt Buenos Aires machen müsse. Der Kontakt zu Frank kam dann sehr fix zustande. Dies ist tatsächlich mein erstes Buch, aber ich hatte vorher bereits an diversen Fanzines - unter anderen am Darmstädter Fanzine - mitgeschrieben. 

 

turus: Und diese Frage bekommt jeder gestellt. Schreibst du lieber morgens beim Kaffee oder abends bei Bier und Wein?

Lukas: Puh, wie soll ich sagen? Ich glaube nix von beidem. Ich bin morgens einfach aufgestanden und habe mich gleich rangesetzt. In der Regel habe ich zuerst das Geschriebene vom Vortag gelesen, um thematisch reinzukommen. In der Regel habe ich versucht, den 8-Stunden-Tag einzuhalten. Meist habe ich gegen neun begonnen und dann bis fünf oder sechs geschrieben. Abends schrieb ich in der Regel nicht, weil meist was los war. Aber klar, es kam schon mal vor, dass ich einfach weitergeschrieben habe, weil ich gerade im Flow war. 

turus: Hört man Lateinamerika, denken viele gleich an Kriminalität und die möglichen Gefahren beim Reisen. Hattest du auf all deinen Reisen schon mal unangenehme Erlebnisse abseits des Fußballs? 

Lukas: In Argentinien hatte ich eigentlich noch nie Probleme. Auf meinen Lateinamerika-Reisen wurde ich einmal 2007 in Venezuela und einmal 2010 in Kolumbien ausgeraubt. In Argentinien ist mir indes noch nie etwas passiert. Man gewöhnt sich natürlich auch, etwas auf der Hut zu sein und auf bestimmte Sachen zu achten. Automatisch führe ich einen Fuß durch eine Schlaufe der Tasche, damit diese niemand unbemerkt wegnehmen kann. Dies mache ich dann auch in Europa so, und meine Freunde fragen dann ganz erstaunt, was ich da anstelle. Man gewöhnt sich halt an gewisse Sicherheitsmaßnahmen. Stets gilt: Keine Angst haben, aber Respekt. Dies ist stets meine Devise. Hört man aufs Bauchgefühl, dann ist eigentlich alles recht entspannt. Natürlich entspannt sich das alles auch, wenn man dort wohnt und die Sprache kann, weil man dann alles besser einschätzen kann. Wenn ein Besoffener einem was zuruft, weiß man dann halt, ob er nur einen Scherz macht oder ob Gefahr in Verzug ist. Allgemein kann man durchaus sagen, dass Argentinien bzw. Buenos Aires nicht so gefährlich ist, wie es mitunter in deutschsprachigen Fanzines dargestellt wird.

turus: Buenos Aires ist bekanntlich der Fußballnabel von Argentinien. Aber vielleicht kannst du uns einen kleinen Überblick geben, welche anderen relevanten Vereine es noch gibt, die aus ganz anderen Ecken von Argentinien kommen.

Lukas: Fußball in Argentinien ist ziemlich zentralisiert und das kommt auch in meinem Buch vor. Das Ganze ist auch historisch so gewachsen. Zwar kommen die größten Vereine aus Buenos Aires, doch gibt es um Buenos Aires herum zwei Städte. Die eine ist La Plata. Die zählen einige Leute noch zu Buenos Aires, doch offiziell liegt sie nicht in Buenos Aires. Dort gibt es Estudiantes de La Plata, die sicherlich die Erfolgreichsten sind von den Vereinen außerhalb von Buenos Aires. Viermal haben sie die Copa Libertadores gewonnen. Dann gibt es noch Gimnasia y Esgrima La Plata, die jedoch ziemlich wenig gewonnen, aber auch eine große Fanmasse haben. Die dortigen Derbys zwischen Estudiantes und Gimnasia sind wirklich auch sehr gut. Dann gibt es vier Stunden nördlich von Buenos Aires die ziemlich verrückte Stadt Rosario, wo Newell’s Old Boys und Rosario Central herkommen. Das sind mit die besten Fanszenen in Argentinien. Die beiden haben zwar nationale Meisterschaften gewonnen, aber international noch keinen Titel geholt. Beide haben tolle Stadion, und das Aufeinandertreffen der Rivalen wird in Argentinien als das „el clásico mas caliente del país“ (heißeste Derby des Landes) betitelt. Zwei Stunden weiter nördlich kommt Santa Fe. Dort gibt es auch zwei Vereine. Colón und Unión. Die sind etwas kleiner als die Beiden aus Rosario, doch haben auch sie eine beachtliche Fanbasis. Colón ist deutlich größer und wurde erst kürzlich argentinischer Meister. Des weiteren haben wir Córdoba, die zweitgrößte Stadt Argentiniens. Dort gibt es gleich vier relevante Vereine. Talleres hat die meisten Fans, dicht gefolgt von Belgrano. Das Duell zwischen beiden ist auch das dortige größte Derby. Der dritte Verein ist Instituto Atlético Central und der vierte heißt Racing Córdoba. International konnten diese Vereine noch nichts holen, wobei dieses Jahr Talleres gut dabei war. Dann gibt es noch die Region Mendoza im Westen des Landes. Das Komische dort: Die eigentliche Stadt Mendoza ist relativ klein, weil in der dortigen Region alles in kleinere Städte aufgeteilt ist. Der aktuell große Verein von Mendoza ist Godoy Cruz, die sind für einen Verein aus dem Landesinnern recht gut und international ab und zu dabei. Der eigentliche größere Verein in Mendoza ist Independiente Rivadavia, der spielt allerdings seit einigen Jahren nur in der zweiten Liga. Auf jeden Fall müsste man an dieser Stelle noch die beiden Tucumán-Vereine nennen. Buenos Aires, Rosario, Santa Fe und La Plata - dies sind die relevantesten Fußballstädte, und außerhalb dieser vier Städte sind aktuell die größten Vereine Godoy Cruz in Mendoza und die beiden Vereine in Tucumán. Die spielen meist erste Liga und haben auch schon international gespielt. Das wären Club Atlético Tucumán und Club Atlético San Martín, und das Derby ist auch richtig gut. Ganz im Norden Argentiniens haben wir noch die Stadt Salta, die hat drei Vereine mit vielen Fans, wobei es nur einer von denen in die erste Liga geschafft hatte. Inzwischen spielt Gimnasia allerdings wieder in der dritten Liga. Was haben wir sonst noch? Eine spannende Sache noch. Oben am Rìo Paraná befinden sich direkt nebeneinander die Städte Corrientes und Resistencia. Diese beiden Städte sind mit einer einzigen Brücke verbunden, darunter gibt es mehrere hundert Kilometer keine Brücke. Passend dazu gibt es das „Derby der Brücke“. Früher, als es noch Gästefans gab, wurden diese nach Hause gefahren und anschließend wurde die Brücke hochgeklappt, damit nix mehr passiert. Beide Vereine haben allerdings auch ein Stadtderby: Club Atlético Chaco For Ever und Club Atlético Sarmiento in Resistencia sowie Deportivo Mandiyú und Boca Unidos in Corrientes. 

turus: Vielen Dank für diese ausführliche Ausführung. Ich habe da noch eine andere Frage. Wie lief das Ganze eigentlich während der Corona-Krise ab? 

Lukas: Als Corona in Argentinien ankam, wurde erst einmal alles dichtgemacht. Es gab eine Ausgangssperre und man durfte nur noch zum Einkaufen raus. Es fand eigentlich gar nix statt. Zuerst wurde der Fußball ganz abgesagt. Dann ist allerdings Corona in Argentinien anders abgelaufen als in Europa, weil nach dem ersten Lockdown der lange Sommer kam. Im Winter gab es dann noch einmal einen zweiten Lockdown. Der erste Lockdown kam ja bei uns im Herbst und nicht wie bei Euch im Frühling, da die Jahreszeiten auf Süd- und Nordhalbkugel ja verschoben sind. Das heißt, dass bei uns der erste Lockdown richtig lang war. Das war richtig hart. Wir hatten rund vier Monate Ausgangssperre. Anfangs hatten sich alle daran gehalten, später hatten die Leute nach und nach die Lockerungen quasi selber durchgenommen. Fußball gab es lange Zeit gar keinen mehr, und danach halt erst einmal ohne Publikum. Irgendwann im Oktober 2021 ging es endlich wieder los mit halb gefüllten Stadien. Ab November 2021 war dann wieder alles normal. 

turus: Was mir beim Lesen einfiel. Gibt es eigentlich auch kleine Vereine, die von Einwanderern gegründet wurden? So wie es hier in Deutschland beispielsweise einen FK Srbija, S.D. Croatia Berlin und den FC Polonia Berlin gibt. Gibt es so etwas auch Argentinien? Gibt es im Amateursport vielleicht auch kleine Vereine, die von deutschen, osteuropäischen oder brasilianischen Einwanderern ins Leben gerufen wurden?

Lukas: Argentinien ist ja ein Einwanderungsland, und in meinem Buch gibt es dazu auch ein extra Kapitel. Davon ganz abgesehen sind viele Vereine einst von den Engländern gegründet worden. Etliche dieser Vereine sind allerdings von der Landkarte verschwunden, weil sie sich nicht vom Amateursport-Gedanken verabschiedet haben. Später haben dann viele Einwanderer - Spanier, Italiener, etc. - die meisten Vereine gegründet. Aber halt nicht als Einwanderer-Vereine, sondern als ganz normale Clubs. So wurden einst die Boca Juniors von sechs Italienern ins Leben gerufen.  Zwar wurde sich auf die Herkunft berufen, doch waren die Vereine stets für alle offen. Es gibt allerdings auch Einwanderer-Vereine wie Deportivo Español, die ein Derby gegen Sportivo Italiano spielen. Da spielen dann wirklich Spanier gegen Italiener, aber beide Vereine sind in der Gegenwart relativ unbedeutend und waren auch nie wirklich richtig bedeutend. Des weiteren gibt es noch Deportivo Armenio, der von armenischen Einwanderern gegründet wurde. Und warte, da gibt’s noch Deportivo Paraguayo, und sicherlich gibt es auch Kolumbianer und Bolivianer, die sich zum Fußballspielen zusammenschließen, aber die sind meist nicht im Ligabetrieb des argentinischen Verbandes dabei. Was die deutschen und Schweizer Einwanderer betrifft, so gibt es im Landesinnern sicherlich kleinere Vereine, die aber im relevanten Clubfußball nicht zu finden sind. Es gibt allerdings einen jüdischen Verein, der darum kämpft, in die AFA aufgenommen zu werden. Der Verband tut sich allerdings ziemlich schwer mit Neuaufnahmen.

turus: Schauplatz Rostocker Ostseestadion. Das „Hansa forever“ ertönt. Gänsehaut, die Augen werden feucht. So ist das in meinem Fall. Nun kann man sich ausmalen, wie es sich in einem argentinischen Hexenkessel anfühlt. Das ist ja noch mal ein anderes Level. Wenn man dann eingebunden ist und seinen Verein gefunden hat - wie ist das? Wie oft kommt es vor, dass sich die Tränen vor Freude und Überwältigung ihre Wege bahnen? 

Lukas: Es ist natürlich verrückt, in Argentinien in einer Kurve zu Hause zu sein. Manchmal wird das Ganze natürlich auch Alltag und es gibt ein ganz normales Heimspiel. Oftmals gibt es aber die Momente, wo einem bewusst wird, hey, wo bin ich denn hier überhaupt? Im Normalfall gehen wir vor den Spielen gemeinsam grillen und haben eine geile Zeit. Und dann geht es in die Kurve, und dort gehen alle völlig ab. Es ist immer wieder sehr emotional und es gibt sehr schöne Momente. Und klar, die gibt es auch nach sieben Jahren immer noch. Und dann immer dieser Wille, dieses Spiel unbedingt gewinnen zu wollen! Dieses absolute Glücksgefühl nach einem Sieg und die krasse Traurigkeit nach einer Niederlage. Nichts desto trotz kommt es bei San Lorenzo, auch wenn ich dort inzwischen zu Hause bin, gefühlsmäßig nie ganz an meinen Schweizer Heimatverein Young Boys heran…

turus: Vielen Dank für dieses überaus ausführliche Gespräch, das wir mit Hilfe von Sprachnachrichten geführt haben. Wir alle sind gespannt auf die kommenden Lesungen in Berlin, Hamburg und Bern - und wir wünschen Dir für die Zukunft viel Glück. Mögen die „Cuervos“ von  San Lorenzo eines Tages mal wieder argentinischer Meister werden!

Veranstaltungshinweis:

Am 01. September 2022 stellt Lukas Lange um 19:30 Uhr in der BAIZ in der Schönhauser Allee 26a in Berlin Prenzlauer Berg sein Buch vor. Schaut vorbei - der Eintritt ist frei!

Fotos: Lukas Lange, Marco Hensel, Arne Amberg

> zum Verlag Culturcon Medien (externer Link)

Artikel wurde veröffentlicht am
31 August 2022

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