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Schweizer Politposse

10 Apr 2008 17:08 #7888 von kalleman
Schweizer Politposse wurde erstellt von kalleman
Das so ruhige schweizerische Politikleben erlebt ein regelrechtes Erdbeben :shock: :twisted:

Was ist passiert? Das rechtsbürgerliche Parlament musste den Bundesrat (7-köpfiges Gremium) bestätigen. Dem Bundesrat gehörte auch Christoph Blocher, der Kopf der rechten SVP) an. Im Vorspann zu diesen Erneuerungswahlen kam es zu wüsten Drohungen und Beschimpfungen der SVP. Dem Parlament drohten sie, bei einer Abwahl von Blocher die Regierung zu verlassen und in die Opposition zu gehen. Das Parlament seinerseits hatte genug von SVP-Ultimaten, Drohungen und Beschimpfungen und wählte Christoph Blocher ab und ersetzte ihn durch das SVP-Mitglied Frau Widmer-Schlumpf, eine sehr fähige Politikerin.

Danach kam es zu unwürdigen und wohl für die Schweiz einmaligen Szenen im Parlament. Die Linke jubelte und die Rechte versuchte die Vereidigung von Widmer-Schlumpf abzwürgen. Drohungen und Beschimpfungen folgten.
Aus Sicht der SVP hätte nur Blocher oder keiner gewählt werden dürfen. Widmer-Schlumpf hätte die Wahl ablehnen müssen. Weil sie das nicht getan hat, gilt sie als in der Partei als Verräterin.

Danach legte sich das ganze etwas, denn die SVP hatte zwei Probleme. Einerseits hatten sie bisher im Parlament schon immer Opposition betrieben, eine klassische Opposition wie in Deutschland lässt das schweizer Politsystem nicht zu, sie wäre wirkungslos. Andererseits blieb die Bevölkerung ruhig, der erwartete Empörung im Volk über die Abwahl Blochers blieb aus. Die Hardliner der SVP gerieten unter massiven Druck wegen ihren persönlichen Diffamierungen und Beleidigungen gegen politisch anders gesinnte. Die Partei drohte auseinanderzubrechen.

Chrisoph Blocher, zweifellos ein sehr fähiger Mann, konnte die Partei zusammenkitten und die Partei konnte die letzten vier Kantonsratswahlen gewinnen und bekam wieder neues Selbsbewusstsein und schreitet zur Rache.
Dazu kommt noch die Dummheit der linken Parteien, die der SVP wieder laufend "Futter" bieten.

Was wir nun in der Schweiz erleben ist eine für unser Land beispiellose Politposse. Die Hardliner der SVP wollen sich mit allen Mitteln an der "Verräterin" Widmer-Schlumpf rächen. Die Partei, die intern schon immer hart gegen Abweichler vorging, will nun Widmer-Schlumpf mit allen Mitteln von der Bühne holen. Sie forderte ultimativ ihren Rücktritt, ansonsten soll sie aus der Partei ausgeschlossen werden, Dies kann aber nur die Sektion der Ortspartei. Tut sie es nicht freiwillig und tut es die Ortspartei nicht, soll die ganze Kantonalpartei aus der SVP Schweiz ausgeschlossen werden.

Die SVP argumentiert Widmer-Schlumpf sei "undemokratisch" in den Bundesrat gekommen, weil sie nicht von der Partei vorgeschlagen wurde, was natürlich völliger Quatsch ist, weil sie korrekt und demokratisch vom Parlament gewählt wurde.

Auf jedenfall ist hier ganz schön was los. Mal sehen, wie die Rachefeldzüge der SVP weitergehen.

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11 Apr 2008 23:02 #7902 von reise_frank
reise_frank antwortete auf Re: Schweizer Politposse
Also um durchzusehen, muss man erst einmal zwei oder dreimal querlesen... :wink:

Frank

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12 Apr 2008 16:38 #7909 von kalleman
kalleman antwortete auf Re: Schweizer Politposse
Ja ich weiss. Ist halt schwer zu beschreiben ohne das ganze Schweizer Politsystem erklären zu müssen.

Die SVP startete auf jedenfall den heftigsten Angriff aufs Schweizer Politsystem, seit es dieses gibt. Ihre Vertreter sind von einem missionarischen Eifer beseelt. Ihre Parteistruktur erinnert schon ein bisschen an die Organisation faschistischer Gruppen. Sie hat so einen Totalitätsanspruch. Einer sagt, wo es lang geht und alle marschieren mit. Die SVP glaubt, dass die anderen Parteien das Land den Bach runterschicken: Nur die SVP kann das Land retten. (Dabei geht es der Schweiz so gut wie noch nie in ihrer Geschichte)

Das Schweizer System funktioniert nur, solange man Kompromissbereitschaft zeigt. Die SVP, die sich gerne als "schweizerischer" als alle anderen sieht und die Schweiz vor was weiss ich allem retten will, hat sich davon verabschiedet. Sie glauben, als einzige die richtige Politik zu machen. Beispielsweise bei der Ausarbeitung eines Gesetzesartikel: Die anderen Parteien haben entweder dem Vorschlag der SVP zuzustimmen oder die SVP lehnt die ganze Vorlage ab. Den Respekt vor politischen Institutionen haben sie längst in den Bodensee gekippt. Zum Beispiel: In einigen wenigen Gemeinden stimmt das Stimmvolk über Einbürgerungen ab. Aus meiner Sicht eine ziemliche Sauerei. Derjenige, der sich einbürgern lassen will, muss alles offenlegen: Lohn, Vermögen, Familienverhältnisse etc. Danach kann das Volk anonym
abstimmen, ohne Begründung. Das Bundesgericht (In Deutschland Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe) verbot diese Praxis, denn für eine Ablehnung der Einbürgerung braucht es eine Begründung. Darauf beschimpfte die SVP das Bundesgericht übelst und nannte es parteiisch, griff einzelne Richter an und zogen sie durch den Dreck.

Das Schweizer Politsystem erweist sich aber als sehr stabil. Obwohl die SVP zwar die wählerstärkste Partei ist, ist ihr Einfluss beschränkt, weil sie nur etwa 30% Wähleranteil hat. Die anderen 70% wählten andere Parteien und das ist nunmal die Mehrheit und das zu akzeptieren, fällt der SVP sehr schwer. Sie glaubt, sie sei das Volk, das gegen die Classe politique kämpfen muss.

Sie hat also nur etwas 30% der Sitze im Parlament. Das Parlament wählt die sieben Bundesräte alle 4 Jahre. Der Bundesrat besteht aus 2 SVP, 2 SP, 1 CVP und 2 FDP Politkern. Um "seinen" Bundesrat durchzubringen, brauchen die Parteien die Hilfe von anderen Parteien und so entstehen Kuhandel. "Ich wähle deinen und du meinen". Die SVP hielt es nicht für nötig zu handeln, sondern die drohte, wird ihr Vertreter Blocher nicht gewählt, gehen wir in die Opposition.

Vor der Wahl kann man noch "Wahlwerbung" machen. Hier lobt man in der Regel die Leistung "seiner" Bundesräte. Dei SVP machte es anders. Sie beschimpfte die anderen Bundesräte übelst und lobte einzig ihren Blocher. Der zweite SVP-Bundesrat ist aus SVP Sicht nicht "ihr" Bundesrat, weil der sich als Bundesrat nicht im Dienst der Partei, sondern im Dienste des Landes sieht. Er will keine Parteiinteressen, sondern Landesinteressen vertreten. So wie es eigentlich sein soll.

Die anderen Parteien beschlossen, Blocher abzuwählen und eine andere Vertreterin, Frau Widmer-Schlumpf der SVP zu wählen (Es hat ja auch dort ausserhalb der Hardliner fähige und gute Politiker). So wurde der stark polarisierende Blocher abgewählt, für die SVP-Spitze brach eine Welt zusammen, einige weinten (!!!).

Es stelle sich heraus, dass die SVP gar nicht auf dieses Szenario vorbereitet war. Opposition im Parlament machten sie ja schon vorher. Sie lehnten alles ab, was ihnen nicht passte, Kompromisse gab es keine. Aber die anderen 70% des Parlaments konnten die SVP überstimmen. Die SVP stand also in gewisserweise auf verlorenem Posten. Politisch änderte sich somit eigentlich nichts, nur das Bundesrat Blocher nicht mehr in der Regierung sass, nichtmal im Parlament, er musste Bern verlassen. Abgewählt wurde er nicht wegen seinem Leistungsausweis, sondern wegen seiner kompromisslosen Art, aber vorallem wegen dem respektlosen Umgang seiner Partei mit Andersdenkenden, ihren Diffamierungen, Verleumdungen, Kesseltreiben, Beleidigungen. Also versuchte die SVP Frau Widmer-Schlumpf zu zwingen, die Vereidigung zum Bundesrat abzulehnen, doch sie liess sich vereidigen und nun schritt die SVP zum Rachefeldzug.

Was nun aber gestern passiert ist, auch das gab es noch nie in der Schweiz. 10'000nde von Menschen demonstrierten in Bern gegen die SVP und ihre politische "Unkultur" und für Frau Widmer-Schlumpf. Das mag in anderen Ländern normal sein, aber ehe ein Schweizer für Politiker auf die Strasse geht, muss schon sehr viel passieren.

Eigentlich ist jetzt die Situation paradox. Die SVP gewinnt zwar Wahl um Wahl, aber kann ihre Ziele dennoch nicht erreichen, weil sie keine Mehrheit hat. Dazu kommt, dass sie alle Majorzwahlen gewinnt, aber sämtliche Proporzwahlen verliert. Das heisst, dass die Bevölkerung zwar die Partei wählt, aber ihre Vertreter nicht in die Regierungen (sei es auf Gemeinde, Kantons oder Bundeseben) wählt. Das führt wieder zur paradoxen Situation, dass z.B. im Parlament der Kantone die SVP die meisten Sitze hat, aber in der Regierung der Kantone keine SVP-Vertreter sind.

Ich hoffe, man kommt wenigstens ein bisschen draus, was ich meine ... :?: :lol:

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