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US-Botschaft in Berlin (Ostberlin) / Anekdoten

06 Jul 2008 13:49 #8318 von Marco

Anekdoten zur US-Botschaft in Ostberlin

Anlässlich der Einweihung der neuen US-Botschaft am Pariser Platz in Berlin möchte ich noch einmal in Erinnerung schwelgen und satte 20 Jahre zurück gehen.
Zurück in die Zeit des Kalten Krieges, als sich auch in Ostberlin seit Mitte der 70er Jahre eine US-Botschaft befand, und zwar in der Neustädtischen Kirchstraße 4-5 nahe des S-Bahnhofs Friedrichstraße.

Es war Anfang der 80er Jahre. Als sich meine Eltern regelmäßig mit meiner Westberliner Tante im legendären Café Egon-Erwin-Kisch an der Straße Unter den Linden trafen, liefen wir stets an den Schaukästen am Gebäude der Botschaft der Vereinigten Staaten vorbei.
Schon schnell registrierte ich, dass sich im Gebäude eine öffentlich zugängliche Bibliothek befand. Ich drängte meine Eltern, mit mir dort hinein zu gehen, doch sie meinten, das Risiko sei zu groß.
Es war an der Eingangstür zu lesen, dass man ab dem 15. Lebensjahr ohne Begleitung der Erziehungsbertechtigten diese Bibliothek betreten dürfe.
Im August 1988 war es endlich soweit. Mit meinem DDR-Personalausweis fuhr ich zur US-Botschaft und betrat stolz mit Herzklopfen das altehrwürdige Gebäude. Ein US-Marine in Uniform stand in einem Glaskasten und bewachte den Eingangsbereich, und an einer Sicherheitsschleuse wie am Flughafen warf ein netter älterer Mann einen kurzen Blick in die Papiere.
Anschließend war der Weg frei zu den Räumlichkeiten der Bibliothek. Ich war begeistert. Als DDR-Bürger befand ich mich rein rechtlich auf dem Territorium der USA. Ich warf einen Blick durch die schweren Gardinen auf die Straße, wo DDR-Beamte in Zivil und Uniform den Bürgersteig abliefen. Innerlich zeigte ich den Stinkefinger und genoss die Situation.
Das alles hatte was geheimnisvolles. Ja, das war Geschichte und Politik hautnah.
Bei Marie Hagen bekam ich einen Bibliotheksausweis mit Barcode. ich war die Nummer 275, es schien nicht viele Leute zu geben, die diesen Service nutzten. Und auch im Gebäude traf man nur sehr, sehr wenige DDR-Bürger an.

Man konnte in den Büchern und Zeitschriften blättern oder sich in dem dortigen kleinen Vorführungssaal einen aktuellen US-Film anschauen.
Etliche Male besuchte ich allein oder mit Freunden die Bibliothek. Häufig bemerkte ich, dass ich beim Reingehen udn Verlassen des Gebäudes beobachtet wurde. Und das eine Mal wurde ich bis zum S-Bahnhof Friedrichstraße von Stasi-Leuten verfolgt und abgefangen.
Was ich denn dort drin zu suchen habe, wurde ich gefragt. Meine Daten wurden sofort notiert.
Ich antwortete, dass ich dort Geographiebücher auf Englisch lese, um für den Unterricht zu lernen.
Ob das nicht in der Stadtbibliothek möglich sei, wurde ich gefragt.
Nein, englische Lektüre sei dort rar, und mich interessiere die Geographie der gesamten Erde, gab ich als Antwort.
Meinen Eltern erzählte ich natürlich nichts davon...

Im Herbst 1988 suchte ich in der Bibliothek die Adresse vom weißen Haus heraus und schrieb dem frisch gewählten US-Präsidenten George Bush Senior einen Brief.
Der konkrete Inhalt ist mir nach 20 Jahren etwas entfallen. Ich war 15 Jahre alt, und ich gratulierte ihm zur Wahl, erzählte auf Englisch von meiner Schule und bat um den Weltfrieden.
Mir war natürlich bewusst, dass der Brief von der Stasi geprüft wurde. Deshalb lobte ich auch ein wenig die DDR und schrieb nichts negatives. Naiv war meine Aktion trotzdem.
Am 24. August 1989 erhielt ich Antwort vom Weißen Haus in Washington.
Ich sprang an die Decke vor Freude, meine Mutter fiel ins Essen.
Post vom weißen Haus an mich kleinen popeligen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik...
Die Rückseite des Umschlags war bekritzelt und bestempelt mit Nummern. K6, G2, D8...
Immerhin war es erstaunlich, dass mir dieser Brief tatsächlich zugestellt wurde. Dass man mich am nächsten Tag nicht gleich in den Jugendwerkhof steckte, verdankte ich wohl der fortgeschrittenen Situation im Sommer 1989. Es gab bereits größere Probleme in der DDR...

Im Herbst 1989 wurde es auch in der US-Botshcaft in der Neustädtischen Kirchstraße unruhig. Das Gebäude von der Volkspolizei abgeriegelt. Im Innern war eine Handvoll DDR-Flüchtlinge verblieben.
Ich stritt mich mit der VoPo und bestand darauf, meine ausgeborgte Lektüre zurückgeben zu können. Mit Begleitung durfte ich bis an die Tür gehen, und dort dem lächelndem Ami am Empfang die Bücher in die Hand zu drücken...

Am 27. Oktober 1989 erhielt ich vom damaligen US-Botschafter noch ein signiertes Exemplar der Constitution of the United States of America with explanatory notes.
Kurz nach der Wende löste sich die Bibliothek in der US-Botschaft auf. Man bat die interessierten Ostberliner ab nun das Amerika Haus am Bahnhof Zoo zu besuchen.

Für mich war ein Kapitel abgeschlossen. Der Reiz wurde nur vor dem Mauerfall ausgelöst. Meine Erinnerungen an diese bewegte Zeit sind auch nach 20 Jahren noch sehr frisch und intensiv, und das Betreten dieses Gebäudes zur Zeit des Kalten Kriegs werde ich nie vergessen. Diesen Geruch im Gebäude. Diese ganze Absurdität. Dieses Gefühl der Geborgenheit. Dieses mulmige Gefühl beim Verlassen des Gebäudes...

So weit, so gut,

viele Grüße an alle

Marco



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08 Jul 2008 23:04 #8328 von Anke
Meine Güte, Marko, das wusste ich sooo alles gar nicht...
Also zu jener Zeit hatte ich noch andere Dinge im Kopf.
Meinen Zauberwürfel und mein Monchichi nämlich... :wink:

LG Anke

immer fein sauber bleiben ;-) <img src="{SMILIES_PATH}/icon_wink.gif" alt=";-)" title="Wink" />;-)

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10 Jul 2008 12:44 #8331 von Mark
hi marco, du hattest mir mal von erzählt, nun fällt es mir wieder ein.
konnte da wirklich jeder einfach reinspazieren?
was passierte, wenn man einfach drin blieb?

beijos
mark

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28 Jul 2008 16:11 #8404 von Marco

Hallo,

ja, von amerikanischer Seite aus war jeder willkommen.
Okay, Leute der Stasi nun bestimmt nicht gerade, aber ansonsten jeder DDR-Bürger.
Von DDR-Seite konnte man den Leuten nicht verwehren, die Bibliothek besuchen, aber mit Sicherheit konnte es im beruflichen Leben unangenehme Folgen haben...
Meine Eltern besuchten nicht die Botschaft, weil dies einfach zu heikel war, denn das Gelände wurde intensivst beobachtet und überwacht.
Wie ich erwähnte, es gab wirklich nur wenige registrierte User der Bibliothek. Nur wenige hundert - und das in ganz Ostberlin...
Wenn man drin blieb? Das hatten die Amerikaner nicht gern. In ihren Augen sollte die Ständige Vertretung der BRD sich um solche Belange kümmern. Kurz vor dem Mauerfall blieben jedoch auch in der US-Botschaft einige DDR-Bürger drin. Das Gebäude wurde daraufhin geschlossen, damit der Ansturm nicht zu groß werden würde...

Viele Grüße

Marco

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30 Apr 2009 13:40 #11140 von turusnet
Die Geschichte haben wir heute im turus|Magazin veröffentlich:

Geschichte hautnah: DDR-Jugendlicher in der US-Botschaft in Ostberlin
www.turus.net/gesellschaft/3894- ... erlin.html

Viel Spass beim Diskutieren

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30 Apr 2009 15:56 #11154 von travelnator

Marco schrieb: Im Herbst 1988 suchte ich in der Bibliothek die Adresse vom weißen Haus heraus und schrieb dem frisch gewählten US-Präsidenten George Bush Senior einen Brief.
Der konkrete Inhalt ist mir nach 20 Jahren etwas entfallen. Ich war 15 Jahre alt, und ich gratulierte ihm zur Wahl, erzählte auf Englisch von meiner Schule und bat um den Weltfrieden.
Mir war natürlich bewusst, dass der Brief von der Stasi geprüft wurde. Deshalb lobte ich auch ein wenig die DDR und schrieb nichts negatives. Naiv war meine Aktion trotzdem.
Am 24. August 1989 erhielt ich Antwort vom Weißen Haus in Washington.
Ich sprang an die Decke vor Freude, meine Mutter fiel ins Essen.
Post vom weißen Haus an mich kleinen popeligen Bürger der Deutschen Demokratischen Republik...
Die Rückseite des Umschlags war bekritzelt und bestempelt mit Nummern. K6, G2, D8...


uahauhuhuaahau! :D

BTW: Hast Du eigentlich damals den Brief mit der Hand geschrieben?

Und: Bitte tue mir einen Gefallen: Schreib auch an Barack Obama. :D

Marco schrieb: Immerhin war es erstaunlich, dass mir dieser Brief tatsächlich zugestellt wurde.


Das kann ich mir bei dieser Stasi gut vorstellen, ja. Leider lassen sich wegen Deiner Scan-Verkleinerungen die Poststempel etwas schlecht lesen. Das Datum wäre schon interessant.

Liberdade, essa palavra que o sonho humano alimenta que não há ninguém que explique e ninguém que não entenda.

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27 Jul 2009 00:05 #11818 von Marco

Hallo Travelnator,

ja, die Briefe in die USA hatte ich mit der Hand geschrieben. Ein paar Briefe, die damals wieder zurück kamen, habe ich noch in einer Kiste im Haus meines Vaters... :wink:
Der Brief ans Weiße Haus im Januar 1989 kam zum Glück in Washington an. Im Sommer 1989 hatte ich dann das Antwortschreiben erhalten. Das war wirklich der Hammer. Abgestempelt in den USA...
Ein Brief an Obama?
Dafür ist die Generation nach mir dran! :mrgreen:
Ich habe Ende der 80er Jahre meine Arbeit getan. Da ich immer wusste, dass die Stasi die Briefe checken würde, schrieb ich sehr diplomatisch. So bat ich Bush Senior unter anderem um globale Abrüstung... :wink:

Gruß Marco

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