Die Enttäuschung stand dem 31-jährigen Leif Lampater und dem 20-jährigen belgischen Fahrer Jasper de Buyst mehr als deutlich ins Gesicht geschrieben. Besonders Lampater, der beim Rudy Project Racing Team unter Vertrag steht, wirkte bei der Siegerehrung deprimiert, ja geradezu fassungslos. Der Gesamtsieg beim 103. Berliner Sechstagerennen schien am Ende nur noch Formsache zu sein. Das klare Ziel vor der letzten Großen KIA Jagd im ausverkauften Velodrom war allzu deutlich: Beim finalen Kampf gegen Kenny de Ketele (Belgien) & Andreas Müller (Österreich) sowie Robert Bartko & Theo Reinhardt auf der Hut sein, keine Runde abgeben und somit Dank des allzu deutlichen Punktevorsprungs die Sache nach Hause schaukeln. Manch einer munkelte im Vorfeld, dass man vielleicht Robert Bartko ganz oben aufs Treppchen deichseln würde. Schließlich feierte dieser in Berlin seinen Abschied vom aktiven Radsport. Doch ein Rundengewinn gegen Lampater und de Buyst schien im Prinzip kaum möglich, in allzu guter Form hatte sich das Team 3 über all die sechs Tage präsentiert.
Rückblick und Fazit: 103. Sechstagerennen Berlin unter dem Strich ein voller Erfolg
Etliche Radsportfreunde erklärten sogar, dass Lampater und de Buyst hätten locker drei, vier Runden Vorsprung vor der finalen Jagd haben hätten können, doch da es sich nicht um eine Bahn-WM, sondern um ein Sechstagerennen handelt, das den Zuschauern möglichst viel Spannung bis zum letzten Tag bieten soll, gingen die Favoriten sicherlich nicht bis ans absolute Limit. Mit dem tatsächlichen Ausgang der Großen Jagd war indes nicht wirklich zu rechnen. Sicher, bei Team 4 Kenny de Ketele & Andreas Müller handelt es sich durchaus um ein hochkarätiges Duo, das bereits im Vorfeld gemeinsam mit dem besagten Team 3 und dem Team 1 Vivien Brisse (Frankreich) & Christian Grasmann hoch gehandelt wurde. Aber dass wenige Runden vor dem Zieleinlauf Lampater und de Buyst das Team de Ketele & Müller davonziehen lassen müssen – nein, damit war wahrlich nicht zu rechnen. Schließlich handelt es sich hierbei um ein erfahrenes Team, das zuletzt beim Sechstagerennen in Gent, bei dem mitunter bis zum Anschlag gefahren wurde, gemeinsam den Gesamtsieg einfahren konnte.
Sei wie es sei, kurz vor Schluss der Großen Jagd erkämpften sich Kenny de Ketele und Andreas Müller einen Rundengewinn und konnten Dank diesem – trotz weniger Punkte – letztendlich das Berliner Sechstagerennen 2014 gewinnen. Die Pistole des Kampfrichters ertönte, die Stimme der beiden Hallensprecher Karsten Migels und Jens Wischnewski überschlugen, die Stimmung auf den Rängen war auf dem Siedepunkt. Ganz besonders bei Andreas Müller brachen die Emotionen heraus. Über das gesamte Gesicht strahlend verteilte er Kusshände. Und ja, ein Berliner stand auf dem Treppchen ganz oben! Zwar wechselte Andreas Müller vor wenigen Jahren nach Österreich, doch geboren wurde er im November 1979 in der deutschen Hauptstadt! Gemeinsam mit Robert Bartko, Guido Fulst und Andre Kalfack hatte er im Jahr 2000 seinen ersten großen Titel einfahren können: Deutscher Meister in der Mannschaftsverfolgung.
Apropos Robert Bartko. Der 1975 in Potsdam geborene Bartko, der sowohl auf der Bahn, als auch auf der Straße auf eine überaus erfolgreiche Karriere zurückschauen kann (unter anderen zweimal Gold bei den Olympischen Spielen 2000 und drei Weltmeistertitel), verkündete während des Berliner Sechstagerennens seinen Rückzug vom aktiven Radsport. Mehr Zeit für sein geplantes Studium und seine Familie seien die Hauptbeweggründe, so Bartko. In körperlicher Hinsicht könnte er nämlich noch locker paar Jährchen ranhängen. Umso erfreulicher, dass es im Berliner Velodrom mit dem Sprung auf das Treppchen geklappt hatte. Gemeinsam mit dem 23-jährigen Theo Reinhardt zeigte er auf der 250 Meter langen Bahn eine prima Leistung und durfte somit am letzten Abend nach der Großen Jagd vom Podest aus ein paar Dankesworte an seine Eltern, an Theo Reinhardt und das Publikum richten. Ganz gewiss ein emotionaler Moment für alle Seiten.
Auf den Plätzen vier und fünf standen am Ende das Team 1 Vivien Brisse & Christian Grasmann (minus zwei Runden, 211 Punkte) und das Team 6 Yoeri Havik (Niederlande) & Vojtech Hacecky (Tschechien) (minus zwei Runden, 210 Punkte). Hinter den ersten fünf Teams der Rangliste klaffte in sportlicher Hinsicht eine deutliche Lücke. So hatten Team 7 Tristan Marguet & Maximilian Beyer und Team 14 Henning Bommel & Kersten Thiele bereits elf Runden Rückstand. Die beiden US-Amerikaner Guy East und Daniel Holloway, die auch abseits der Bahn für viel Spaß und Freude sorgten, konnten 44 Punkte einfahren und lagen 24 Runden zurück. Letzter wurde das spanische Team 2 Daniel Muntaner & Albert Torres. Allerdings gab es hierfür einen Grund: Muntaner musste nach einem Sturz mit Kieferbruch das Sechstagerennen vorzeitig beenden.
Wirklich spannend ging es am letzten Tag auch beim ESSO Weltpokal der Steher und beim Wolfram Champions Sprint zu. So lieferten sich im Schlussspurt des Steher-Rennens der Schweizer Mario Birrer mit Schrittmacher Helmut Baur und der Lokalmatador Florian Fernow mit Schrittmacher Peter Bäuerlein einen packenden Zweikampf, den der amtierende Europameister Mario Birrer für sich entscheiden konnte. In der Gesamtwertung Dritter hinter Birrer und Fernow wurde der in Bernau bei Berlin geborene Robert Retschke. Der US-Amerikaner Zachary Kovalcik, der aufgrund seiner Frisur und seiner lockeren Art sofort ins Auge fällt, wurde Sechster.
Punktgleich in den letzten Sprint-Wettbewerb gingen am Dienstagabend die Rivalen Robert Förstemann und Maximilian Levy. Während Förstemann im Rundenrekordfahren stets die Halle rocken ließ und mehrmals einen neuen Bahnrekord aufstellen konnte, konnte Levy meist bei den direkten Duellen als Erster das Vorderrad über die Linie bringen. Im Keirin hatten – wie bereits in den Jahren zuvor – meist andere Sprinter die Nase vorn. So zum Beispiel der Thüringer René Enders, der als schnellster Anfahrer der Welt gilt. Im besagten letzten Sprint-Duell war es dann Robert Förstemann, der mit wenigen Zentimetern Vorsprung auf Maximilian Levy diesen Wettkampf und somit auch die Gesamtwertung des Wolfram Champions Sprint gewinnen konnte. Eins steht indes fest: Die deutschen Sprinter sind in hervorragender Verfassung. Die UCI Bahn-Weltmeisterschaft in Cali (Kolumbien) kann kommen! Los geht´s dort mit dem Teamsprint am 26. Februar 2014.
Im Ladies Cup 2014, der im Rahmen des Berliner Sechstagerennens nur an den ersten drei Tagen ausgetragen wurde, konnte Stephanie Pohl nach einem enttäuschenden ersten Tag an den beiden folgenden Wettkampftagen mächtig zulegen und sich am Ende den ersten Platz der Gesamtwertung sichern. Zweite wurde die slowakische Fahrerin Alzbeta Pavlendova, Dritte die Westfälin Mieke Kröger. Charlotte Becker, ebenfalls in NRW geboren, belegte am Ende Rang vier. Schade, dass es keine Sprintwettbewerbe der Frauen zu sehen gab. Vielleicht sollten diese in Zukunft mit ins Programm aufgenommen werden. Dass allerdings der Ablaufplan bereits jetzt überaus gut gefüllt ist, steht jedoch fest. So ging es an den Abenden mitunter wirklich Schlag auf Schlag. Besonders am Finaltag wirkte der Zeitplan überaus straff. Langeweile kam beim Publikum ganz gewiss nicht auf. Zwar wird auch im Berliner Velodrom am Rande der Six Days gern und ausgiebig gefeiert, doch unter dem Strich ist und bleibt das Berliner Sechstagerennen vor allem eine hochkarätige Sportveranstaltung.
In diesem Jahr wurde das Drumherum noch einmal aufpoliert. Eine neue Lichtershow erfreute die Besucher. Zwar vermisste man anfangs die legendäre Melodie vor der Eröffnung des jeweiligen Tages, doch die neue Lichtershow ist knackiger und zeitgemäßer. Zwar könnte man schon bald den letzten Hauch Berliner Muff, der an alte Tage erinnert, vermissen, andererseits rüsten sich die Veranstalter für die Zukunft. Ein Abebben des allgemeinen Interesses war eher nicht zu spüren, vielmehr durfte sich über stets volle Ränge gefreut werden. Die Stimmung im Velodrom ließ bei spannenden Sprints oder der Endphase der Steher-Rennen die Augen feucht werden. Sicherlich wird es immer Kritikpunkte und Verbesserungsvorschläge geben – unter dem Strich kann jedoch mit gutem Gewissen festgehalten werden: Das 103. Berliner Sechstagerennen 2014 war eine klasse Veranstaltung. 2015 kann kommen! Wir freuen uns drauf!
Fotos: Arne Mill
> zu den einzelnen turus-Fotostrecken: 103. Berliner Sechstagerennen 2014
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