Lebenswege kreuzen sich. Manchmal verlaufen sie stückweise auch parallel. Anfang 2006 stieg ich mit fünf Freunden in einen Flieger, der uns über Madrid nach Kuba brachte. Mit einem Schlag tauchten wir in das Leben der kubanischen Hauptstadt La Habana ein. In Vedado kamen wir in einem privaten Haus unter, auf den Märkten der Straßen versorgten wir uns mit dem Nötigsten. In einem der arg verfallenen Gebäude besuchten wir an einem Nachmittag eine alte Dame - die Mutter eines kubanischen Bekannten, der mittlerweile vor den Toren Berlins sein Zelt aufgeschlagen hat. Oder besser gesagt, sein Einfamilienhaus gebaut hatte. Die bröcklige Fassade, die spartanische Küche, die quer verlaufenden Stromleitungen, der baufällige Balkon, der Geruch im Treppenhaus, der offen stehende Stromanschlusskasten, die Sessel in der Wohnung, die Bilder an der Wand, die aufgestellten Kerzen - alles hatte sich fest in meinem Gedächtnis eingebrannt…
Melancholie in La Habana: Wenn eine Kurzgeschichte ganze Bände spricht…
Ein guter langjähriger Freund von, der Künstler und Dichter Mark Bauch, flog kurze Zeit nach meiner Reise ebenso nach Kuba. Ihn führte das Spirituelle nach La Habana, und es sollten noch einige weitere Reisen folgen. Kürzlich zeigte er mir in seiner Berliner Wohnung bei einer Tasse Kaffee einen von ihm verfassten Text. Ich las die Zeilen - und plötzlich war es, als sei meine Kuba-Reise nicht 12 Jahre her. Mit einem Mal waren die Erinnerungen wieder ganz frisch. So, als sei ich erst vor einer Woche bei der älteren Dame in La Habana zu Besuch gewesen…
An dieser Stelle möchten wir sein Werk präsentieren:
Stromausfall in La Habana
(von Mark Bauch / Sugar de Santo)
Wann war es gewesen?
Sie hatte es vergessen.
Unbedeutsam.
Nachdenklich zog sie wieder an der billigen Zigarette.
Seit Stunden kein Strom. Stille. Kein leises Surren des Ventilators.
Immer das Gleiche. Jede Woche. Immer wieder Stromausfall.
Alles war veraltet. Nichts funktionierte mehr, weder in Havanna, noch irgendwo in diesem Land. Ein weiterer tiefer Zug an der Zigarette.
Ende.
Verärgert und gelangweilt drückte sie die Zigarette aus.
Immer noch stand der Ventilator still.
Sie blickte auf ihre Fingernägel. Was sollte sie sonst auch tun?
Der Nagellack war schon alt und abgeblättert. Wie alles hier.
Auf den Nägeln waren noch Farbreste von Rot. Eine Touristin hatte ihr den Nagellack geschenkt. Ein schönes kräftiges Rot.
Sozialistisches Rot. Sie hatte ihn nur wenige Male sparsam benutzt.
Ja, Armut und Sparsamkeit. Und Bitterkeit.
Es machte sie nur noch krank. Alles hier. Jeden Tag Probleme.
Alte und Neue.
Irgendwie konnte sie ihn verstehen.
Eines Nachts war er einfach weg. Sie hatte nichts gemerkt.
Wie immer war sie erschöpft und müde, von der Arbeit, den Problemen und ihrem Leben. Ihre Nächte waren Traumlos. Schwer und unruhig.
Nichts. Es gab Nichts. Keine Notiz. Kein Brief. Einfach Nichts.
Was war aus ihm geworden? War er über das Meer gegangen? Lebte er noch? Wie? Wo?
Sie hatten ja nichts. Außer Arbeit. Sinnlose, wertlose Arbeit in einem kubanischen Betrieb.
SIE waren noch da, in der Abwesenheit: der MAXIMO LEADER. Und Ché.
SÍ, VICTORIA SIEMPRE!
Alt und vergilbt schauen sie mahnend Tag für Tag den Arbeitern zu:
VENCEREMOS CAMA - PATRIA O MUERTE!
Er hatte nichts mitgenommen. Keine Tasche. Nichts. Er trug nur seine bunten Glasperlenketten seiner afrikanischen Geister. Zum Schutz? Hatte es geholfen?
Sie zündete sich wieder eine neue Zigarette an. Die Packung war fast leer.
Gedankenverloren griff sie nach ihrer Handtasche, kramte darin umher, bis sie ihre Geldbörse fand. Nur ein paar kubanische Pesos. Wertlos. Gerade genug für billige Zigaretten und billigen Rum.
Immer noch stand der Ventilator still. Drückend war die Wärme.
Wieder der letzte Zug an der Zigarette. Warum hatte sie nur vergessen Rum und Zigaretten zu kaufen?
Sie blickte sich im Raum umher. Die Wände hatten Risse vom letzten Hurrikan.
Die Farbe blätterte ab, und fiel zu Boden. Alte, abgewetzte, aufgebrauchte Möbel, aus vergangenen Jahrzehnten, auf denen dutzende bereits gesessen hatten.
Ja, sie konnte ihn verstehen. Nur allzu gut. Diese Hitze!
Viel zu früh geheiratet. Wie alle Kubaner.
Sie ging ins Bad und tauchte ein Stück alten Stoff ins Wasser. Es war warm.
Seicht tupfte sie sich ab. Kaum Linderung! Gott! Diese Hitze!
Kein Strom seit gestern Nacht.
Gleich würde ihre Schicht in der Fabrik beginnen. Dort gab es immerhin einen funktionierenden Ventilator. Und die tägliche Portion Monotonie. Und das Neuste aus der Granma. Sie durfte nicht die Zigaretten vergessen.
Und den Rum. Und das Stoßgebet um Hilfe zur Virgin de la Regla. Kerzen waren zu teuer. Hatte sie nicht noch irgendwo Stumpen? Von ihrem Mann?
Sie ging ins Schlafzimmer. Seit Monaten war sie nicht mehr an seinem Schrank gewesen. Seit der Zeit seines Verschwindens. Wieso auch?
Für einen Moment blickte sie versunken auf die Jeans. Ein Geschenk von Freunden. Aus Amerika. Dem gelobten Land. Da gab es alles. Freiheit. Gute Arbeit. Dollars, die Wert hatten. Supermärkte mit vollen Regalen. Vielleicht konnte sie ja seine amerikanischen Jeans verkaufen? Oder tauschen? Sie musste es probieren.
Müde warf sie seine Sachen aufs Bett. Nichts. Wieder Nichts.
Keine Kerzenstumpen. Doch nur ein Stoßgebet. Wie immer. Das musste reichen. Sie hatte die Zeit vergessen. Energisch klopfte es an die Tür.
Du bist zu spät! rief ihre Kollegin.
Sie nahm schnell ihre Jeansjacke und ihre Handtasche, und zog die Tür hinter sich zu.
Leise begann der Ventilator seine Arbeit mit einem Surren.
Fotos: Mark Bauch, Marco Bertram
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