Weil wir von Georgien bis dahin nur die Küste und die Gegend um Tiflis herum kennengelernt haben, wollen wir einen Ausflug ins Landesinnere machen - namentlich in die Stadt Kutaisi. Da diese relativ weit im Westen Georgiens gelegen ist und die Fahrt von Tiflis aus gut und gerne drei Stunden dauern kann, haben wir uns dazu entschieden, unsere Unterkunft in Tiflis für eine Nacht leer zu lassen, um zwei Tage in Kutaisi zu verbringen.
Eine Reise durch Georgien: Von Tchiatura nach Kutaisi und zum Okatse-Canyon
Auf dem Weg dorthin machen wir einen Zwischenstopp in Tchiatura, einer heruntergewirtschafteten Industriestadt, die aber interessant ist, weil sie über ein Netz von Seilbahnen verfügt, das aus den 1950ern stammt und nie wirklich modernisiert worden ist. Für die Menschen sind diese Seilbahnen oft die einzige Möglichkeit, in ihre Bergdörfer zu gelangen, weil diese entweder nicht anders oder nur über große Umwege zu erreichen sind.
Ende des 19. Jahrhunderts war Tchiatura der größte Manganeerzproduzent der Welt und hielt etwa die Hälfte am weltweiten Exportvolumen. Heute sind die Vorkommen fast vollständig erschöpft - und die Stadt ebenso. Die verrosteten Industrieanlagen im Tal jenseits der Hauptstraße dominieren das Stadtbild und alle weiteren Gebäude passen sich dem optisch an.
In den Plattenbauten, die selbst für Plattenbauten sehr traurig aussehen, stehen die meisten Wohnungen leer und gibt es nicht wenige Fenster, die zerstört und nur durch Planen verhangen sind, und nicht wenige Menschen, die trotzdem dahinter wohnen, was vor allem im Winter kein Spaß sein muss.
Zwischen 1992 und 2004 gab es in Tchiatura keine Stromversorgung, Trinkwasser muss auch heute noch aus dem Brunnen geholt werden und selbst die Wohnungen in den Plattenbauten werden noch durch Holzöfen beheizt. Kurzum, die Stadt ist keine Touristenhochburg. Und dadurch natürlich sehr interessant.
Wir fahren also erstmal zum zentralen Seilbahnhof der Stadt, von dem aus zwei Linien auf die nächstgelegenen Berge abfahren. Einerseits könnten wir zum Spaß mitfahren. Andererseits ist das Leben ja auch ganz schön. Einerseits sind die alten Maschinen sowjetischen Ursprungs ja oft sehr zuverlässig und unfallfrei. Andererseits ist es heute so heiß und die Kabinen wirken wie enge Stahlsaunen ohne Lüftung.
Wir belassen es dabei, uns das Ganze von unten anzuschauen, was bereits eindrücklich genug ist. Dass diese kleinen Stahlkisten über eine so lange Zeit an ihren Stahlseilen hängen bleiben und immer noch unfallfrei funktionieren, scheint ein Wunder. Und doch passen sie mit ihren Dellen, der abblätternden Farbe und ihrer altertümlichen Erscheinung so gut in diese Stadt, die hauptsächlich damit beschäftigt zu sein scheint, irgendwie weiter zu funktionieren, weil es ja irgendwie weitergehen muss.
In Kutaisi angekommen geht es zuerst zur Bagrari-Kathedrale, die auf einem Hügel über der Stadt liegt. Hier stellen wir zum ersten Mal fest, wie heiß es heute eigentlich ist. Der Jetta ist ja wie erwähnt gebürtiger US-Amerikaner und kennt als Einheit für die Außentemperatur nur Fahrenheit. Ja, klar, die 104 F auf dem Armaturenbrett sehen eindrucksvoll, weil dreistellig aus, aber eine Vorstellung davon, was das in Grad Celsius bedeutet, haben wir nicht wirklich. Um es kurz zu machen: wir haben knapp 42 Grad Celsius. Und der Wind, der hier über Hügel weht, fühlt sich an als würde er einem die Augenbrauen versengen.
Wir flüchten uns also schnell in das Innere der Kirche, das uns mit seiner göttlichen Frische anzieht, und verweilen ein paar Minuten. Draußen im Hof unter einem Baum steht eine Handvoll Männer in schwarzen Roben und probt ein Lied, das einer von ihnen auf der Ukulele begleitet. Würde nicht gerade ein Reisebus anrücken, es wäre ein perfektes Bild von einem gediegenen Nachmittag im georgischen Sommer.
Am nächsten Tag satteln wir den Jetta besonders früh, um aus der Stadt zu kommen, bevor die große Hitze über das Tal herfällt. Daher sind wir in einer der ersten Führungen des Tages in der Prometheus-Höhle nördlich von Kutaisi. Die Prometheus-Höhle ist ein etwa zwei Kilometer langes, unterirdisches Höhlensystem mit einem Fluss in der Mitte und unzähligen bunt angestrahlten Stalagmiten und Stalaktiten.
Das Ganze ist prinzipiell echt gut gemacht und vor allem die riesigen unterirdischen Hallen sind absolut beeindruckend. Leider hält uns unser Guide für eine Grundschulklasse, die vor allem möglichst schnell durch die Höhle geschleust werden soll und immer möglichst eng zusammen bleiben muss. Das ist sehr schade, denn dadurch bleibt keine Zeit, die außerordentliche Atmosphäre und die unwirkliche Landschaft ernsthaft auszukosten.
Eine halbe Stunde später stehen wir dafür am Besucherzentrum des Okatse-Canyon, das im Gegensatz zum Canyon selbst direkt an der Straße gelegen ist. Wir zahlen ein paar Lari Eintritt, um uns dann auf den Weg zum Canyon zu machen. Dieser ist nicht mit dem Auto zu erreichen, die Beschilderung verspricht allerdings, dass es nur 2,2 Kilometer und 30 Minuten sind. Da wir ja gut zu Fuß sind und der Weg durch einen Park mit einer Menge Bäumen am Wegrand führt, machen wir uns wenig Gedanken. Ist ja nicht weit.
Stimmt, weit ist es nicht [auch wenn ich die 2,2 Kilometer für maßlos untertrieben halte], dafür aber heiß ohne Ende. Mittlerweile ist es Mittag, die Sonne brennt gnadenlos und so dicht wie gedacht ist das Blattwerk der Bäume gar nicht. Wie man es auch dreht und wendet, wir benötigen fast die doppelte Zeit und sind komplett fertig als wir unten am Eingang des Canyon ankommen.
Als der Puls wieder heruntergefahren und der Schweiß auf dem Shirt getrocknet ist, geht es dann aber wirklich los. Über hundert Meter hoch ist der künstliche Pfad gelegen, der bis zu einer frei schwebenden Aussichtsplattform in einem knappen Kilometer Entfernung führt. Immer schön nah am Berg entlang, aber doch so gebaut, dass man sich über die Höhe sehr bewusst ist. Das eine oder andere Knie kommt da schon mal ins Zittern.
Dafür ist von der Plattform aus der Blick auf das Tal, den Fluss und die Schlucht so beeindruckend, dass ich nur zu drei Gedanken in Dauerschleife fähig bin:
“Was ein Ausblick!”
“Scheiße, ist das hoch!”
“Wie klein und unwichtig bin ich eigentlich?”
Zurück am Eingang ist absolut ausgeschlossen, dass wir den Weg zurück zum Besucherzentrum zu Fuß zurück legen, denn es ist - überraschenderweise - immer noch viel zu warm und außerdem kommt erschwerend hinzu, dass der Rückweg bergauf geht. Aber wir wären schließlich nicht in Georgien, würde nicht irgendwo ein Taxi bereit stehen.
Als wir dem ersten Fahrer einen Mondpreis abschlagen, werden zwei ältere Damen auf uns aufmerksam und schlagen vor, dass wir uns ein Taxi teilen könnten. Ein Fahrer, der einen anständigen Preis macht, ist auch schnell gefunden, also nichts wie los.
Unsere beiden Mitfahrerinnen sind zwei feine Damen jenseits der Sechzig mit Kleidchen und Sonnenhut. Der Fahrer hat etwa dasselbe Alter wie die Damen und auch das Auto scheint nicht wesentlich jünger zu sein. Es ist ein weißer Lada Niva mit breiten Offroad-Reifen und Allradantrieb und es stellt sich schnell heraus, dass diese zwei Merkmale deutlich gewichtiger sind als das Alter des Wagens.
Es gibt nämlich keine befestigte Straße. Im Grunde gibt es eigentlich gar keine Straße, sondern nur eine unkoordinierte Aneinanderreihung riesiger Steine, tiefer Löcher, vieler Hügel und im Weg stehender Büsche. Es geht rasant bergauf und bergab und ich bin mir sicher, so mancher neumoderner SUV hätte diese Herausforderung nicht gemeistert. Aber über die Zuverlässigkeit alter Maschinen sowjetischen Ursprungs ist ja weiter oben schon zu lesen.
Die beiden Damen sind vollkommen aus dem Häuschen. Sie lachen, jubeln [Ich meine, das Wort сенсация/Sensazia wäre mehrfach gefallen.] und schäkern mit dem Fahrer, der hin und wieder mal vergisst zu schalten und sich auch nicht durch Nebensächlichkeiten wie Gegenverkehr, wo eigentlich keiner hinpasst, aus der Ruhe bringen lässt.
Wir begnügen uns unterdessen damit, auf die Fragen unserer Mitreisenden zu nicken [Im Grunde nickt man auf einem Weg wie diesem ja unaufhörlich.], zu lachen, wenn sie lachen, und uns nicht zu übergeben. Und das klappt auch alles ganz gut.
Bevor wir schließlich zurück nach Kutaisi fahren, legen wir einen Abstecher zum Kinchkha-Wasserfall ein, der vor allem deshalb sehenswert ist, weil es wirkt als würde der Fluss davon überrascht, dass der Berg, über den er fließt, plötzlich endet und das Wasser deshalb einfach runterfällt.
Kurz bevor wir abfahren, bekommen wir vom Parkplatzwächter, den es in Georgien wirklich gibt, wo man ein Auto abstellen kann, den Tipp, mal an der Badestelle nebenan vorbei zu schauen. Diese Badestelle ist im Grunde ein Flussbett voller Steine, die zum Teil natürlichen Ursprungs sind und zum anderen Teil mal ein Haus ergeben haben müssen. Außer uns gibt es keine Touristen, nur ein paar georgische Familien, die den Sommer und das Zusammensein feiern und den Fluss nutzen, um baden zu gehen und ihre Getränke kühl zu halten.
Irgendwann müssen wir dann allerdings wirklich aufbrechen, denn wir haben am Abend noch einen Termin in Kutaisi. Europa League-Qualifikation, Torpedo Kutaisi gegen Vikingur Gøta, Georgien gegen die Färöer Inseln. Es ist der Klassiker, den wir erwartet hatten, und nach Abpfiff geht es direkt zurück auf die Straße, denn wir haben ja noch unsere Unterkunft in Tiflis, die wir für die letzte Nacht nochmal in Anspruch nehmen wollen.
Für die 210 Kilometer benötigen wir über drei Stunden, weil die direkte Straße zwischen den beiden Städten nur zur Hälfte eine echte Autobahn ist und zur Hälfte die meist befahrene Landstraße der Welt. [Nach meiner Einschätzung] Selbst mitten in der Nacht reihen sich die Autos direkt aneinander und sorgen die alten LKW mit ihren Abgasen für Kopfschmerzen. Bei so viel Verkehr ist es kein Wunder, dass offenbar alle Straßenhändler - egal ob sie Melonen, Hängematten oder Touristenkram verkaufen - ihr Geschäft rund um die Uhr betreiben. Im Übrigen erklärt das auch, warum die alle den halben Tag Mittagsschlaf machen.
Georgien hat wirklich alles zu bieten, was wir uns vorher vorgestellt hatten: weite Gebirgslandschaften, reine Natur, alte Kirchen, viel Kultur und nette Menschen. Leider ist es derzeit sowas wie der Geheimtipp unter den Reisenden, die abseits vom Mainstream unterwegs sein wollen, und das sind gar nicht mal so wenige. An einigen Orten ist der Tourismus schon so weit, dass er zur Industrie geworden ist, was wirklich schade ist, weil damit vielen Orte der gewisse Reiz genommen wird. Man fühlt sich nicht so richtig abgezockt wie in anderen Gegenden der Welt - im Gegenteil, die Menschen sind wirklich toll und fast immer um unser Wohlergehen besorgt gewesen - aber so richtig allein und ungestört ist man als Reisender in Georgien nicht mehr. Deshalb geht es für uns von hier aus weiter nach Armenien.
Fotos: Anika (ein Zug nach Irgendwo)