Ein schwarzer Seesack. Nicht mehr, nicht weniger. In diesen großen Seesack, der mit Hilfe einer hellen fetten Kordel zugeschnürt werden konnte, musste das Nötigste für die kommenden zwei, drei Jahre gepackt werden. Wochenlang stand der Seesack inmitten des Chaos im Dachgeschosszimmer. Daneben häuften sich Kleidungsstücke, ein paar Bücher und all die Kosmetika und Medikamente, die für eine zig tausend Kilometer lange Tour über die Ozeane benötigt werden könnten. Für den Kopf war das Ganze völlig surreal. Ende der 1990er Jahre hatte ich alles aufgelöst. Eine Wohnung bzw. ein WG-Zimmer in der Stadt hatte ich seit Anfang 1998 nicht mehr. Die letzten anderthalb Jahre vor Abfahrt wohnte ich mit auf dem Bauernhof, auf dem die beiden acht Meter langen Segelboote gebaut wurden. In einer Scheune standen die aufgebockten Boote, 20 Meter Luftlinie von ihnen entfernt hatten wir unsere Unterkunft in dem alten Bauernhaus. Was im Sommer 1995 mit einer fixen Idee begann, mündete in einem Projekt, das uns zu 100 Prozent vereinnahmte - und unser Leben komplett verändern sollte.
Los geht´s auf Weltreise! Wenn das Leben in eine einzige Tasche passt
Von Berlin nach Sydney - so lautete der Plan. Kommen die Olympischen Spiele nicht nach Berlin, so kommen wir halt zu ihnen. Im Gepäck eine Botschaft aus unserer Heimatstadt. Wir fanden etliche Sponsoren, die unser Vorhaben unterstützten. Die Medien kamen reihenweise zum Bauernhof vor den Toren Berlins, um über die vier „verrückten“ Bootsbauer zu berichten. Irgendwann gab es kein Zurück mehr. Wir mussten los. Ich saß im wahrsten Sinne des Wortes mit im Boot. Zweifel am Gelingen der langen Tour waren vorhanden, doch wurden diese schlichtweg weggedrückt. Sturm, Krankheit, Unfall, nicht genügend Segelkenntnisse? Bewaffnete Überfälle so wie vier Jahre zuvor in Brasilien? Abends im Bett starrte ich manchmal in die Dunkelheit und dachte über die möglichen Gefahren nach. Ich habe einen 13 Jahre jüngeren Bruder, und es schmerzte ungemein bei der Vorstellung, ihn für so lange Zeit nicht mehr zu sehen.
Am nächsten Morgen wurden die trüben Gedanken einfach vom Tisch weggewischt. Das gemeinsame Frühstück rief. Kaffee aus der großen Kanne, frisch gebrühter Tee aus dem Garten gepflückter Pfefferminze, Brötchen mit reichlich Aufschnitt. Der kommende Tag wurde geplant. Es würde wieder bis spät in die Nacht gehen. Die Zeit drängte. Sydney rief. Ende Sommer 1999 sollte es am Strelasund losgehen. Kam ein Reporter einer großen Zeitung oder gar ein Fernsehteam vorbei, gab es innerlichen Aufschwung. Los jetzt! Das ist DIE Chance, komplett aus dem normalen Leben auszubrechen. Hinter einem wurden doch eh schon die Seile gekappt. Keine eigene Unterkunft mehr. Keinen Job mehr. Ich hing zwischen dem Abitur auf dem zweiten Bildungsweg und einem möglichen Studium. Drei von uns waren 26 Jahre alt. Der Vierte war zu jenem Zeitpunkt 31. Auch kein Alter. Das Leben stand uns quasi noch bevor.
Im Sommer 1999 blieb immer weniger Zeit für Familie und Freunde. Wir ackerten in der Scheune wie die Blöden. Wir schienen um zehn Jahre gealtert. Doch wenn wir erst einmal in der Südsee sind, würde die Jugend wieder zurückkehren. Und dann kam der Tag, an dem der Seesack zugeschnürt wurde. Ich packte zwei Plüschtiere als Glücksbringer mit rein. Mein Brüderchen hatte mir einen kleinen Eisbären mitgegeben. Auch das Känguru kam mit. Dazu ein paar Notizbücher und Nachschlagewerke. Reisepass, Traveller Checks, die Papiere von der Auslandskrankenversicherung, die Adressen etwaiger Kontakte im Ausland. Damals wurde noch (fast) alles in Papierform erledigt. Immerhin hatten wir Laptops und ein elektronisches Seekarten-Programm dabei. Zudem erhielten wir spezielle Antennen vom Unternehmen Orbcomm. Über Satellit könnten wir E-Mails in die Heimat schicken. Und ja: Die ersten hatten ja im Herbst 1999 bereits eine Mail-Adresse. Allerdings steckte die Technologie noch in den Kinderschuhen und die Satelliten waren nur sehr selten anzupeilen.
Im Oktober 1999 stachen wir dann in See. Das Gefühl, als am Ufer der Marina Neuhof bei Stralsund die Anwesenden uns zuwinkten und wir uns mit den beiden Booten Meter für Meter entfernten, war unbeschreiblich. Trauer? Freude? Irgendwie ganz, ganz anders. Es war nicht in Worte zu fassen. Es überstieg einfach die Vorstellungskraft. Keine Ahnung, wann ich die Heimat, meine Freunde und Verwandten wieder sehen würde. Ich machte mir nichts vor. Ich wusste, dass das Risiko groß war. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir gar nicht wiederkommen würden, lag ganz locker im zweistelligen Prozentbereich. Im Herbst über die Nordsee, durch den Ärmelkanal und durch die Biscaya? Mehr als heikel. Es ging einfach nicht früher. Die letzten Arbeiten und Vorbereitungen konnten nicht zeitiger abgeschlossen werden. Während mein Segelpartner am Steuer saß, lag ich in der Bugkoje und schaute auf die wenigen mitgenommenen persönlichen Utensilien. Krass, es geht los! Einfach so ins Ungewisse. Es gibt kein Zurück mehr! Ein Aussteigen mitten auf dem Atlantik oder dem Pazifik würde kaum möglich sein. Kurz schoss ein Angstschwall durch den Körper und die Stirn wurde feucht. Dann holte mich jedoch wieder der Segelalltag ein. Position am Laptop eintragen, Tee kochen, die Wache übernehmen…
Letztendlich kam alles anders. Allerdings überlebten wir alle vier. Und das ist die Hauptsache. Ein Jahr später fuhr ich mit der Transsibirischen Eisenbahn gen Irkutsk, Ulaanbaatar und Peking. Eine halbe Weltreise der anderen Art. Drei Jahre später wanderte ich gemeinsam mit Karsten über 1.000 Kilometer quer durch Deutschland. Wiederum drei Jahre später radelten wir zu zweit durch den Balkan von Horgos nach Kjustendil. Andere Welten in Serbien, Rumänien und Bulgarien. Das Leben ist ein Abenteuer…
Und wie das Leben so ist, kreuzen sich mitunter die spannenden Wege. Anika fand den Weg zu unserem Magazin und schrieb in der jüngeren Vergangenheit einige Male über die Spiele des F.C. Hansa Rostock sowie über ihre spannenden Reisen entlang der Ostseeküste, durch Moldawien und Georgien. Persönlich durfte ich sie ein einziges Mal treffen. Beim Rostocker Auswärtsspiel beim SC Fortuna Köln. Anika ist eine überaus sympathische Frau, doch hätte ich ihr - wenn ich nicht davon gewusst hätte - solch verwegene Touren zugetraut? Eher nicht. Und wieder trifft das Sprichwort zu. Stille Wasser sind tief. Manch einer spuckt halt nur große Töne, und andere machen einfach. Einfach so. Mitunter völlig aus der Kalten.
So plant Anika derzeit mit ihrem Partner Denis eine Weltreise mit offenem Ende. Da war selbst ich baff. Wohnung und Jobs wurden bereits gekündigt, diverse Utensilien werden bei guten Freunden untergestellt. „Ostwärts nach Westen“, lautet das Motto. Und das mit dem Fahrrad! Bereits seit zehn Jahren sind Anika (Jahrgang 1989) und Denis (Jahrgang 1983) gemeinsam auf Reisen. Bislang waren sie häufig in Osteuropa und Zentralasien unterwegs. Einige Berichte von diesen Touren sind in unserem Magazin nachlesbar.
Für ihre Weltreise haben die beiden einen eigenen Blog eingerichtet. So steht zum Thema Route geschrieben: „Eine feste Route gibt es vor unserer Reise nicht. Wir wissen, dass wir in Richtung Osten starten wollen, erstmal die Ostsee hoch, ins Baltikum, dann in Richtung Süden. Was danach kommt, wissen wir selbst noch nicht so genau. Was wir gern alles sehen wollen, allerdings schon: den Kaukasus, den Iran, Israel, die Mongolei, den Baikal-See, Transnistrien, Kalmückien, Kirgistan, Usbekistan, Nepal, Bhutan, Japan, Myanmar, Laos, die Philippinen, Indonesien, Neuseeland, Chile, Peru, Costa Rica… Ob das alles so möglich ist? Keine Ahnung. Wir wollen kurzfristig planen und vor Ort entscheiden, worauf wir Lust haben und wie wir weiter machen wollen.“
Im ersten Blog-Eintrag heißt es zudem: „Der Plan ist folgender: Wir lassen unser altes Leben hinter uns, brechen alle Zelte in Hamburg ab, behalten nur noch das, was wir wirklich brauchen, und fahren mit dem Fahrrad so weit nach Osten, dass wir irgendwann im Westen wieder ankommen. Wir wollen ein einfaches Leben führen, im Zelt übernachten und die Welt sehen. Wir wollen keine Termine mehr haben und mal erleben, was Freiheit ist. Und wir wollen versuchen, nicht zu fliegen. Wir hatten schon ein paar Monate Zeit, uns an den Gedanken Weltreise zu gewöhnen und im Grunde dreht sich unser Leben seitdem zu einem großen Teil um die Vorbereitung. Aber nun, da wir unsere Jobs gekündigt haben, hat das Ganze eine andere Dimension angenommen. Klar, das macht auf der einen Seite Angst, aber auf der anderen Seite freuen wir uns riesig auf das, was vor uns liegt.“
Und die Reaktionen in ihrem Umfeld? Die Beiden haben ein persönliches Best-of der gesammelten Reaktionen zusammengetragen. In voller Länge kann dieses Best-of im Blog angeschaut werden, doch vier Perlen möchten wir hier schon mal vorab präsentieren:
„Ihr sauft doch heimlich Zuhause!“ – ein betrunkener Freund im Stadion.
„Kind, warum bist du so anders?“ – eine besorgte Mutter.
„Ihr könnt euch doch nicht einfach so verpissen!“ – ein empörter Freund.
„Mutige Entscheidung, die Eier hätte ich auch gerne.“ – ein Mann, der denkt, weniger Eier zu haben.
Und im Januar dieses Jahres kam schließlich der große Moment. Anika kündigte ihren festen Job. Auch diesbezüglich möchten wir eine von ihr verfasste Passage wiedergeben:
„… Am großen Tag, dem 21. Januar, waren dann aber all die Dinge, die mich monatelang bei Laune gehalten hatten, ganz weit weg. Stattdessen: Anspannung, feuchte Hände. Na klar, es war nicht meine erste Kündigung. Ich habe es schon immer so gehalten, dass ich selbst entschieden habe, wann Schluss ist mit einem Job. Aber es war das erste Mal, dass ich noch keinen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte und auch nicht vorhatte das zu tun.
Für das Gespräch mit meinem Chef hatte ich mir ziemlich genau überlegt, was ich sagen wollte. Von meiner ausgefeilten Rede über die Erfahrungen und Chancen, die ich mir von unserer Weltreise erhoffe, blieben dann aber noch genau zwei Sätze übrig: ‚Ich werde im Sommer auf Weltreise gehen… Und dann werde ich nicht mehr hier sein.‘ Wow, Anika, wie wortgewandt. Du solltest einen Blog schreiben!
Aber mal ehrlich. Freiwillig aus einer unbefristeten Festanstellung austreten? Einen Job aufgeben, den ich eigentlich gern mache? Die einzige Firma verlassen, in der ich nur mit Kollegen arbeite, die ich mag? Und wofür? Für ein Fahrrad und ein paar Taschen? Ein Leben ohne Kühlschrank und Waschmaschine? Bin ich denn eigentlich total bescheuert?
Nun ja, da kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Die Entscheidung ist ja wohlüberlegt und vor allem auch nicht grundlos gefallen und ich bin auch echt froh, dass es jetzt so ist wie es ist. Dennoch fühlte sich dieser große Schritt erstmal einfach nur absurd an und es dauerte im Anschluss die intensivste Spinning-Stunde meines Lebens bis ich wieder einen meinem Alter angemessenen Blutdruck hatte.
Meine Kollegin aus dem HR hatte zuvor bereits mit ihrer unerwarteten Reaktion („Wie geil!“) ganz viel Druck aus der Situation genommen und auch meine anderen Kollegen haben in den folgenden Tagen einen Großteil dazu beigetragen, dass es mir nun sehr gut geht mit meiner Kündigung. Obwohl sie es wohl bedauern, dass ich nicht mehr da sein werde, haben sie mir von Anfang an mit ihrem Interesse und ihren teils praktischen, teils fragwürdigen Tipps (Ein Bierhelm? Wirklich?) ein gutes Gefühl gegeben. …“
Exakt 20 Jahre nachdem wir vier Segler einen großen Traum hatten und auf große Tour gingen, werden Anika und Denis ihre Weltreise starten. Wir werden sie medial begleiten - und die beiden werden uns mit Berichten und Fotos versorgen. Wir sind gespannt, wir fiebern mit und drücken janz, janz feste die Daumen! Und dazu noch ein persönliches "Ahu! Wir werden niemals untergehen!"
Fotos: Marco Bertram, Anika, Arne Mill
Benutzer-Bewertungen
Möchte da nichts falsch machen. Gibt es Firmen und Reiseveranstalter, die gesamte Touren planen?
Udo