Bei Dippach, Dankmarshausen und Obersuhl verlief die Grenze sehr verworren und mit Ecken und Kanten. So lag die Ortschaft Großensee noch in einem Zipfel auf DDR-Territorium. In dieser Region befanden sich bereits damals wichtige Kalibergbaustätten, die für beide deutsche Staaten wichtig waren. Aus diesem Grund fanden auch keine Grenzbereinigungen und Begradigungen statt. Über Leimbach, Dippach und Berka wanderten wir nach Untersuhl und Gerstungen. Der Zustand von Berka an der Werra und Untersuhl war erschreckend. Gut 50 Prozent der Gebäude standen leer, und die Straßenzüge gaben ein trauriges Bild ab. Von Fachwerkhäusern blätterte Farbe ab, Scheiben waren eingeschlagen, und Innenräume wurden mit Graffiti beschmiert.
Grenzwanderung 2003: Vom Kalibergbau Untersuhl zum Freilandmuseum Teistungen
„Sheis Juden“. Dieser rot hingeschmierte Schriftzug auf einer Zimmerwand schrie mich durch ein zerschlagenes Fenster an. Der scheinbar hirnverbrannte Schmierfink hatte noch nachträglich das fehlende c oben zwischen das S und das h gequetscht. Das s hatte er mit dem ß gleich ganz vertauscht.
Auf den Schornsteinen ehemaliger Fabrikanlagen nisteten Störche, und aus den verwitterten Fugen der Ziegelsteinwände wuchsen kleine Birken. Diesen Ortschaften in dieser Ecke des Wartburgkreises ging es sichtlich schlecht. Der Leerstand war gravierend, uns es schien auch in mittlerer Zukunft keine besseren Zeiten in Sicht. Die Zeiten, in denen tausende in den Kali-Bergwerken beschäftigt waren, sind vorbei. Wem es möglich war, zog nach dem Zusammenbruch der DDR aus dieser Region weg.
Da wir zweimal die Autobahn 4 hätten überqueren müssen, folgten wir zwischen Untersuhl und Sallmannshausen nicht direkt dem Grenzverlauf, sondern liefen auf der Straße über Gerstungen nach Sallmannshausen und Wommen. Bis Gerstungen mussten wir auf einer holprigen Kopfsteinpflasterstraße wandern, die einem schwer zu schaffen machte. Der Belag war sehr uneben, und die Seitenränder der Straße waren überzogen mit Schlaglöchern. Donnernd fuhren Autos und Lkw vorbei. Gerade in diesem Moment rief mich ein Mann aus Frankfurt am Main auf meinem Mobiltelefon an und fragte nach unserem Projekt und unserer genauen Wanderroute. Ich brüllte fast ins Telefon, erklärte, dass wir gut vorankämen, und dass wir gerade unglücklicherweise auf eine Straße ausweichen müssten. Was für ein enormer Lärmpegel störte mein Telefonat. Mein Gesprächspartner aus Frankfurt musste gedacht haben, wir liefen eine Autobahn entlang. Der interessierte Mann wollte gar nicht das Gespräch beenden und stellte mir immer weitere Fragen. Ich befürchtete, dass gleich der Akku leer sein würde, und drängte ein wenig auf eine Beendigung des Telefonats. Ich versprach, mich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zu melden.
In Gerstungen suchten wir einen Getränkemarkt auf und stockten unsere Vorräte auf. Es war mittlerweile mittags, und die Hitze erreichte wieder ihren Tageshöhepunkt. Die Temperaturen auf dem Asphalt lagen auf einem sehr hohen Niveau, und wir waren bereits jetzt völlig erschöpft.
Ein älterer Radfahrer mit engem Trikot und Bauchansatz machte ebenfalls Halt am Getränkemarkt, kaufte sich eine Flasche Bier, öffnete sie auf dem Parkplatz, setzte an und trank in großen Zügen. Auch ich hatte keine Lust, wieder nur Wasser zu trinken, und kaufte mir eine gekühlte Flasche hessischen Apfelwein. Das hessische Cidre hatte nicht so viel Alkohol und schmeckte erfrischend. Karsten schüttelte den Kopf und meinte, dass auch nur ein Schlückchen Alkohol ihm den Rest geben würde.
Nach einer kleinen Pause setzten wir unsere gesteckte Tagesetappe fort. Vorbei an den Reihenhäusern und am Rande der Ortschaft gelegenen Einfamiliengrundstücken.
»Schrecklich, stell dir mal vor, man müsste hier wohnen!« stellte ich fest.
»Wieso? Ich wäre froh, ein eigenes Haus zu haben«, entgegnete Karsten.
»Aber doch nicht hier, das ist doch übel. Was sollte man denn hier anstellen?«
»Sich um die Familie kümmern, auf dem Grundstück arbeiten. Besser ist es in einer Großstadt wohl auch nicht, oder? Ich wäre froh, vom Ruhrgebiet auf ein eigenes Grundstück wechseln zu können.«
»Ne, aber nicht hier. Vielleicht an der Küste oder in den Bergen. Aber hier in dieser Region. Was macht man denn hier abends?«
»Die Frage stellt sich in einem Dorf in den Bergen oder am Meer auch.«
»Da kann man wandern gehen.«
»Das kannst du hier doch auch.«
»Das sehe ich ja, schrecklich diese Straße hier ...«
Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch.
Die Straße bis Sallmannshausen zog sich. Die parallel verlaufende Autobahn war bereits zu hören und kurz darauf auch zu sehen. An der Grenze zwischen Thüringen und Hessen wurden wir wieder auf einen historischen Grenzstein aufmerksam, der etwas versteckt im Dickicht stand. Auf dem Asphalt der Straße suchte ich den winzigen Messpunkt, der genau den Verlauf der Grenzlinie markiert und wurde auch schnell fündig.
Auf Wiedersehen im Wartburgkreis. Wir befanden uns wieder auf hessischem Territorium. Hinter Wommen unterquerten wir die Autobahn, die auf einer gigantischen Brücke das dortige Gebiet überspannte. Hinter Nesselröden wurde der Tag schlagartig angenehmer. Durch Wälder folgten wir parallel dem Grenzverlauf bis Weißenborn. Am dortigen 389 Meter hohen Schiefergrundskopf war auf unserer Karte eine Schutzhütte verzeichnet, die wir als Tagesziel auserkoren hatten. Wir hofften, dass man in ihr eventuell mit dem Schlafsack nächtigen könnte. Das Wetter war so heiß und drückend, dass wir für den Abend oder die Nacht ein heftiges Gewitter befürchteten.
Die Schutzhütte war zu den Seiten komplett offen, glich eher einem Unterstand und befand sich direkt an der Straße zwischen hohen Bäumen, wo sich bereits Mückenschwärme tummelten. In Anbetracht dieser Umstände zogen wir es vor, unser Zelt auf einer höher gelegenen Wiese hinter der Ortschaft aufzubauen. Beim Ausbreiten der Utensilien konnten wir vom Hügel aus auf die Wohnhäuser von Weißenborn blicken, die sich friedlich Reihe an Reihe im Tal befanden. Die verbleibende Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit wurde mit der Pflege der geschundenen Füße verbracht. Behutsam wurden sie mit etwas Wasser gereinigt, sorgfältig trocken gerieben und mit einer Pflegecreme einbalsamiert.
Die bereits in Bad Steben für viel Geld gekauften Blasenpflaster halfen überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil, die Pflaster mit der viel gepriesenen Gelschicht rollten sich beim Laufen unter der Fußsohle zusammen und verklebten die Wandersocken. Später wurden die Wandersocken an den betroffenen Stellen hart und verkrustet, und es half auch kein anschließendes Auswaschen mehr. Die Socken waren hin, und die Füße erfuhren auch keine Linderung. Der Asphalt forderte Tribut. Zudem war ich mit meinen Stiefeln nicht so recht zufrieden. Die Jahre zuvor hatte ich ein sehr bequemes Paar Stiefel gehabt. Es blieb mir von 1995 bis 2000 treu. Ich wanderte mit diesen Stiefeln durch Schneefelder im Riesengebirge, durch matschige Böden in Brasilien, über scharfkantige Steine in der ägyptischen Wüste und über den Asphalt der irischen Landstraßen. Sie überstanden so manche Tour, doch irgendwann kam der Tag, an dem auch sie die Segel streichen mussten. Jenes Modell gab es in den Geschäften leider nicht mehr, und nach langer Suche musste ich mit einem Paar Wanderstiefel vorlieb nehmen, das nur annähernd den gleichen Tragekompfort hatte wie das Paar zuvor.
Nun denn, beim Kauf ahnte ich auch noch nicht, dass ich eines Tages mit diesen Stiefeln nonstop über 1.300 Kilometer auf Beton und Asphalt laufen würde. Immer häufiger wich ich auf die mitgenommenen Wandersandalen aus, die ich kurz vor Antritt einer Segeltour im Herbst 1999 von der Mutter eines Segelpartners geschenkt bekam. Ich hegte beim Tragen der Sandalen gute Erinnerungen, und es lief sich mit ihnen recht angenehm, jedoch war die Sohle mehr und mehr durchgetreten, und schon bald spürte ich jedes spitzes Steinchen. Liefen wir über eine Straße, auf der Split ausgestreut war, wurde das Gehen zur Qual, und ich zog doch lieber wieder die Stiefel an. Zu einem späteren Zeitpunkt der Grenzwanderung legte ich mir noch ein Paar neue Wanderhalbschuhe zu, die dem vorhandenen Terrain absolut gerecht wurden.
Die Nacht war erholsam. Es störte auch nicht, dass man in dem winzigen Zelt die Füße auf die Rucksäcke legen musste. Der Wiesenboden war weich, und es drückten keinerlei Kienäpfel, Wurzeln oder Steine in den Rücken. Zum erwarteten Sommergewitter kam es glücklicherweise auch nicht, und so stand einem motivierten Aufbruch zur nächsten Tagesetappe nichts mehr im Wege. Zusätzliche Motivation versprach ein Abstecher in die Stadt Eschwege, den wir am Vomittag vornehmen wollten. Karsten und ich hatten vor, uns nach längerer Zeit mal wieder einen richtigen Milchkaffee in einem Bistro oder Café zu gönnen.
Wir wurden auch nicht enttäuscht. In der kleinen netten Innenstadt von Eschwege fanden wir sämtliche Etablissements, die unser Herz begehrte. In einem Straßencafé nahmen wir Platz und bestellten ein belegtes Baguette. Dazu eine Latte Machchiato. Großstadtfeeling kam auf. Nach Tagen in der Natur und in kleinen abgelegenen Ortschaften war dieser Vormittag eine angenehme Abwechslung.
Der Weg hinaus an den Rand der Stadt zog sich hin. Erst am westlichsten Zipfel der Stadt stießen wir in einem Gewerbegebiet auf den Fernradweg, der entlang der Werra in Richtung Bad Sooden Allendorf führte. In einer sich dort befindlichen Backstube machten wir noch einmal kurz Halt und kauften uns ein gekühltes Getränk. Ich wählte eine Flasche Milch und legte das Geld auf den Tisch.
»Na, wie viel habt ihr heute schon abgerissen?« fragte mich die Verkäuferin, während sie das Wechselgeld salopp auf die Schale legte.
Abgerissen? Mir fehlten die Worte. Ich war sprachlos, nahm das Geld und die Flasche und ging ins Freie. Erst dort polterte ich los.
»Karsten, hast du das gehört? Abgerissen! Ob sie von uns in der Zeitung gelesen hat?« fragte ich.
»Ach, wie denn. Hier in Eschwege? Wohl kaum, oder?« entgegnete Karsten und nahm einen schluck Eistee aus der Büchse.
»Na ja, weiß man ja nicht. Vielleicht hat sie den Bericht im Hessischen Rundfunk gesehen. Und nun bemerkte sie, dass wir uns abseits der Grenze in einem Gewerbegebiet herumtreiben. Vielleicht vermutet sie, dass wie gehörig abkürzen ...«
»Na, und wenn. Ist doch scheißegal. Sie hat wahrscheinlich nur schlechte Laune, weil sie bei Sonnenschein an der Kasse stehen muss, und wir spazieren gehen können. Einfach so nach Lust und Laune!«
In mir wurmte es trotzdem noch ein wenig und ich kippte die Milch in einem Zug hinunter. Die Milch schmeckte eigenartig und hatte am Flaschenhals bereits Butter angesetzt. Ich bereute es bereits beim letzten Schluck, sie überhaupt getrunken zu haben. Es dauerte auch nicht lange, bis mich Magenkrämpfe und Unwohlsein plagten. Der so nett begonnene Vormittag ging in einen Nachmittag mit Schmerzen und schlechter Laune über.
Ich zog es vor, das Tempo weiter anzuziehen, um über dieses Stadium drüber hinwegzukommen. Schon bald hatte ich einen gehörigen Vorsprung herausgeholt und legte mich nach zwei Stunden Fußmarsch auf eine Bank und wartete auf Karsten, der es bei dieser Hitze ruhiger angehen ließ.
Der Werratalradweg war landschaftlich betrachtet außergewöhnlich beeindruckend. Der Weg nahm jeden Bogen des Flusses mit und verlief über Wiesen, die zur östlichen Seite hin von dicht bewachsenen Hügeln eingerahmt waren. In Kleinvach stießen wir auf eine Gaststätte, die jedoch über die Mittagszeit geschlossen hatte. Ich ging die Gärten der kleinen Ortschaft ab und traf schon bald einen Jugendlichen, der sich in einer Garage zu schaffen macht. Ich fragte ihn nach der Möglichkeit des Wasserabfüllens und wurde sogleich an einen hinter dem Haus befindlichen Wasserhahn geführt.
Nun waren die Flaschen wieder gut gefüllt, und ich konnte es mir leisten, ein Halstuch zu befeuchten und um den Kopf zu binden. Die Verdunstungskühle war angenehm und erleichterte die weiteren Kilometer bis Bad Sooden-Allendorf. Vor dem Erreichen der Doppelstadt kehrten wir in einen kleinen Biergarten ein, der sich direkt am Radwanderweg befand. Etwas höher auf dem Berg konnte man die kleine Festung Rothestein ausmachen.
Wir kamen mit dem Wirt ins Gespräch, legten die Landkarten auf den Tisch und fragten nach der besten Möglichkeit, um von Allendorf zum Schifflersgrund zu gelangen. Dort wollten wir möglichst vor der abendlichen Schließung am Grenzmuseum eintreffen.
Hinter Allendorf führte eine kleine Asphaltstraße direkt zum Schifflersgrund, der in meiner Karte als Schiffersgrund ohne »l« verzeichnet war. Mehrere Hinweisschilder und Wegweiser wiesen bereits drei Kilometer vor dem Ziel auf das Grenzmuseum hin. Am Straßenrand an einer Schafweide machte mich ein kleiner angebrachter Holzkasten mit der Aufschrift »Ein Wort für Dich« neugierig. Ich hob das Deckelchen und zog einen von vielen kleinen Zetteln heraus. Ein Zitat aus dem Neuen Testament war aufgedruckt, und meiner Erinnerung nach, passte diese Losung genau zum Tag, auch wenn mir der genaue Wortlaut mittlerweile entfallen ist.
Als wir gegen 18 Uhr am Grenzmuseum eintrafen, war es bereits geschlossen und menschenleer. Die Schließzeit lag bei 17 Uhr, und erst um 11 Uhr machte es am kommenden Tag wieder auf. Zu dieser Zeit würden wir bereits wieder einige Kilometer hinter uns haben. Die Grenzanlagen im eigentlichen Schifflersgrund waren ohnehin frei begeh- und einsehbar, und auch vom höher gelegenen Museumsgelände konnte man sich von außen einen Eindruck verschaffen.
Der Grenzstreifen wurde dort auf mehrere hundert Meter erhalten, und selbst der Spurensicherungsstreifen wurde dort noch regelmäßig gepflügt. Das Grenzmuseum besteht bereits seit dem 3. Oktober 1991, und neben dem Grenzstreifen gibt es rekonstruierte Bereiche zu sehen. Auf dem Gelände befinden sich neben Fahrzeugen der DDR-Grenztruppen zwei sowjetische Kampfhubschrauber vom Typ MI-8 und MI-24.
An der Museumsanlage am Schifflersgrund gedenkt zudem ein hölzernes Kreuz an einen Fluchtversuch, bei dem Heinz-Josef Große am 29. März 1982 ums Leben kam. Nach dem Überwinden des Metallgitterzauns wurde er von Angehörigen der Grenztruppen erschossen.
Du wurdest Opfer der Unfreiheit. Dein Tod soll uns mahnen für die Freiheit einzustehen und über sie zu wachen. Diese Inschrift ist auf einer extra angebrachten Tafel zu lesen.
Zuerst planten Karsten und ich, vor dem Gelände des Grenzmuseums auf einem Stück gepflegter Wiese zu nächtigen und eventuell bis 11 Uhr zu warten, um doch noch einen Blick in das eigentliche Museum werfen zu können, doch nach der ausführlichen Besichtigung der gesamten Umgebung, beschlossen wir, nach Sickenberg oder Asbach zu laufen. Ein großes Schild wies auf dortige Gasthäuser hin.
Bevor wir aufbrachen, stellte ich mich an einen Abschnitt des Metallgitterzauns und versuchte, ihn zu erklimmen und musste feststellen, dass es keinerlei Möglichkeiten gab, ohne Hilfsmittel diesen 3,40 Meter hohen Zaun zu überklettern. Die engen Rauten der Streckmetallfelder waren scharfkantig und zu klein, um dort die Finger verankern zu können. In einigen Grenzmuseen konnten wir später Gegenstände sehen, die als Hilfsmittel bei der Flucht über die Grenze dienten. Dabei waren auch abgewinkelte Eisen, die als Steigeisen für den Metallgitterzaun dienten.
Interessant war auch eine im Schifflersgrund angebrachte Tafel, auf der man die Kosten für den Aufbau und den Erhalt der einzelnen Komponente der Grenzanlagen ablesen konnte. Die Summen waren beachtlich und gingen in die drei- bis vierstelligen Millionenbeträge.
Im östlich von Schifflersgrund gelegenen Asbach wurden wir fündig. Ein urig eingerichtetes Gasthaus wurde als endgültiges Tagesziel auserkoren. Vor dem Fachwerkhaus konnten wir unter alten Kastanien an einem Tisch auf dem mit Kopfsteinen gepflasterten Hof Platz nehmen. Mit den anwesenden Leuten kamen wir schnell ins Gespräch, und man bot uns an, das Zelt auf einer Wiese unweit des Gasthauses an einem Bach aufzuschlagen.
Frisches dunkles Brot in dicken Scheiben, hausgemachte Wurst und Senfgurken wurden auf zwei Holzplatten serviert. Zuvor sprach die Wirtin von etwas Brot mit Wurst, doch aus etwas Brot wurde ein Abendmahl, das für vier Leute gereicht hätte. Als wir von unseren Erlebnissen auf der Wanderung in Richtung Ostsee berichteten, teilte uns die Tochter der Gasthausbesitzer mit, dass sie gerade aus Lübeck zurückkäme. Dort habe es ihr außerordentlich gut gefallen.
Ach ja, Lübeck. Ostsee. Bis dahin war es für uns noch ein langer Weg. Travemünde, das klang noch sehr absurd und sehr fern. Wenn man erst einmal den Harz durchquert hat. Ja dann, dann blickt man auf die norddeutsche Tiefebene, und dann kann man langsam vom Duft des Meeres träumen. Aber zum jetzigen Zeitpunkt, das wäre noch zu zeitig. Im kleinen Asbach irgendwo an der thüringisch-hessischen Grenze. Irgendwo nördlich von Eschwege, das wir bis dahin nur vom Atlas und aus den Nachrichten kannten ...
Nach ein paar Bier suchten wir in der Dämmerung unseren Schlafplatz auf, der für uns auserkoren wurde. Wir mussten den kleinen Bach überqueren und ein Gatter zur einer Schafweide, die an diesem Tag nicht genutzt wurde, öffnen. Das Gras war komplett abgefressen, ausgedörrt und nur noch als kleine Inseln auf dem kargen Boden erhalten. Die Erde war knochentrocken, steinig und mit Schafkacke übersät. Ratlos blickten wir uns auf der eingezäunten Weide um und fühlten uns auf den Arm genommen. Beim besten Willen war keine Stelle zu finden, an der man getrost sein Zelt hätte aufbauen können.
Unser hilfloses Herumstehen wurde gegenüber im Gasthaus zur Kenntnis genommen, und ein herbeilaufender Mann teilte uns mit, dass wir auch auf dem grünen Rasen im Garten unser Zelt aufschlagen können. Dort erwartete uns eine andere Welt. Ganz im Gegensatz zum kargen, braunen Gras auf der Weide gedeihte hier prächtig ein gepflegter, geschnittener Rasen auf weichem Boden, in den man die Zeltheringe ohne Mühe stechen konnte.
Ungefähr zwei Kilometer weiter befand sich der 506 Meter hohe Hesselkopf, auf dem der Grenzstreifen entlang eines steilen Berghangs verlief. Dort soll sich im unwegsamen Gelände ein Tunnel des Ministeriums für Staatssicherheit befunden haben.
Selten war es so schwer, sich auf eine Route zu einigen, wie an dem kommenden Tag. Nicht, dass wir uns untereinander uneinig waren, man musste die möglichen Routen vielmehr mit sich selbst vereinbaren. Der Grenzstreifen verlief durch schwieriges Terrain, und bei Rustenfelde, westlich von Heiligenstadt, musste eine gerade im Bau befindliche Autobahn überquert werden.
Mehr oder weniger verlief die gesteckte Tagesetappe auf langweiligen Landstraßen. Einmal verlief sich eine Dorfstraße hinter den Häusern im Nichts, und auch die gefragten Anwohner konnten kaum Auskunft darüber geben, wie man am Besten in die nächste Ortschaft gelangen würde.
»Tja, früher. Da gab es mal einen Weg. Da fuhren wir immer mit dem Rad entlang. Aber jetzt. Hm, keine Ahnung, ob da noch etwas ist ...« lautete die Antwort eines Mannes im mittleren Alter, der gerade einen Graben vor seinem Grundstück buddelte.
Wir folgten dem Sonnenstand und dem inneren Gefühl und erreichten nach einem Umweg das nächste Dorf. An einer Stelle kreuzten wir die Bundesstraße 80, folgten ihr ein kleines Stück in Richtung Osten und kehrten jedoch nach einigen hundert Metern wieder um und wählten eine andere Alternative. Das Laufen auf dem Randstreifen zwischen Seitenplanke und dichtem Autoverkehr war die Hölle, und als in einer Kurve die LKW die Seitenlinie bedenklich schnitten, verwarfen wir den Plan, der B80 das Stück bis zur nächsten großen Kreuzung zu folgen.
Im wahrsten Sinne des Worte rissen wir an diesem Tag die Kilometer ab. Das Tagesziel war fest gesteckt, und dieses wollten wir unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Im Abendlicht wollten wir auf jeden Fall Aufnahmen von den Grenzanlagen am Grenzlandmuseum Eichsfeld-Teistungen anfertigen.
Meter für Meter arbeiteten wir uns auf dem aufgeheizten Asphalt voran. Höhepunkte gab es an diesem Tag nicht, außer die Tatsache, dass am späten Nachmittag wieder eine neue Karte in die Folie gelegt werden konnte. Landkarte 10 verschwand im Rucksack, und Landkarte 11 bestimmte für die kommenden anderthalb Tage den Verlauf des Geschehens. Insgesamt hatten wir 22 einzelne Karten bis Priwall dabei. Auf Karte 12 war dann der Harz mit dem Brocken eingezeichnet, und dort wollten wir Bergfest im doppelten Sinne feiern.
Nördlich von Heiligenstadt legten wir die letzten Etappenkilometer über Günterode und Berlingerode nach Teistungen zurück. Von dort war es nur noch ein Sprung bis zum Grenzlandmuseum, das sich an der Bundesstraße in Richtung Duderstadt befindet.
Von 1973 bis Anfang 1990 befand sich dort der Grenzübergang Duderstadt-Worbis. Die erhaltenen Gebäude der Grenzabfertigungsanlage erinnern heute an die Zeit, in der Personen genauestens kontrolliert und inspiziert wurden. Das Museum mit einer 700 Quadratmeter großen Ausstellungsfläche wurde 1995 eröffnet. Über die Führungsstelle »Alte Mühle« gelangt man vom Museum aus zum Rundweg, der an den mehrere hundert Meter langen Original-Sperranlagen vorbeiführt.
Auch an diesem Abend war das Museum bereits geschlossen, doch dieses Mal wollten wir am nächsten Morgen die Öffnungszeit abwarten. Die Ausmaße des Grenzlandmuseums beeindruckten und versprachen für den kommenden Tag viele neue Erkenntnisse. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen und färbte den Himmel tieforange. Ein ehemaliger Helikopter des Bundesgrenzschutz hob sich auf dem Museumsgelände als dunkle Silhouette ab.
Wir folgten dem gut begehbaren Kolonnenweg der Freianlage und beschlossen, das Zelt direkt auf dem ehemaligen Grenzstreifen neben einem Beobachtungsbunker aufzubauen. Somit bot sich uns die einmalige Gelegenheit, Nachtaufnahmen von den gespenstisch wirkenden Sperranlagen zu anzufertigen. Aus dem tieforange am Himmel wurde bald ein tiefes Rot am Horizont, und wenig später ging im Süden der Mond auf und tauchte den Bunker, den Sperrzaun und die ehemaligen Lichtsperren in ein bläuliches Dämmerlicht.
In der Nacht wirkte der Beobachtungsbunker noch weitaus bedrohlicher. Die Außenwände waren gräulich-weiß, und die schmalen Sehschlitze hoben sich schwarz ab. Ich legte meine Sachen ab, nahm zwei kleine Wasserflaschen und wusch mir den Staub und Schweiß vom Tage ab. Es kam mir mehr als absurd vor, sich auf der Betonfläche vor einem Beobachtungsbunker mit zuvor in Plastikflaschen abgefülltem Wasser zu reinigen. Wo einst Grenzposten patroullierten erholte ich mich von den Strapazen des heißen Tages.
Mit etwas mulmigen Gefühl verkroch ich mich anschließend ins Zelt und befürchtete, dass Albträume die Nacht sehr unruhig werden lassen könnten. Es war das erste Mal, dass wir direkt neben dem Kolonnenweg nächtigten, doch die Stunden der Finsternis verliefen relativ ruhig. Wie so oft während der Wanderung hatte ich wieder emotionale Träume von Schulfreunden gehabt. Es schien, als würde die Schulzeit im tiefsten Innern aufgearbeitet werden.
Ich kann mich an einen Traum ganz besonders gut erinnern. Mit anderen Schulkameraden befand ich mich in der alten Turnhalle der 10. Polytechnischen Oberschule in Berlin-Mahlsdorf. Wir waren bereits in der 24. Klasse. Das kam sogar hin, denn 1980 wurde ich eingeschult. Ich erinnere mich an die Umkleidekabine, an den Geruch nach muffigen Sportklamotten, nach Schweiß und WC-Stein. Der Sportlehrer kam hinein und befahl barsch, Aufstellung zu nehmen. Es sollte Völkerball gespielt werden, und die Jungens sollten sich in zwei Gruppen aufteilen.
Einer meiner besten Freunde wurde wieder einmal ins gegnerische Team beordert. Dass Marcus in der anderen Mannschaft war, wurmte mich im Traum sehr. Wie aus heiterem Himmel fragte ich mich, wie viele Minuten Essenpause hat man in 24 Schuljahren? Wie viele Tage oder Wochen würde man insgesamt im Essenkeller der POS verbringen? Dann wachte ich auf.
Morgens wirkte der Beobachtungsbunker wieder kleiner und harmloser, und nach ein paar weiteren Fotos schlenderten wir wieder hinunter zu den Museumsgebäuden. Bis zur Öffnung blieb noch Zeit. Über eine in den späten 90ern errichtete Brücke liefen wir zur auf der anderen Straßenseite erhöht liegenden Hotelanlage. Auf einer Terrasse nahmen wohl gekleidete Leute bereits ihren Brunch ein. Amüsiert und erstaunt beobachteten sie, wie zwei verwegen aussehende junge Männer geradewegs auf den Eingang des luxuriösen Gebäudes zusteuerten.
Diese beiden Verwegenen waren wir, und die verzichteten wegen Geldmangel auf einen Brunch und nahmen nur die im Erdgeschoss befindlichen Toilettenräume in Anspruch. Wir wuschen uns die Haare und spülten ein paar T-Shirts und Socken unter fließendem Wasser aus. Mit frischer Kleidung und sauberen Haaren ging es zurück zum Grenzmuseum. Die Leute auf der Terrasse staunten noch mehr, als wir wieder herauskamen, das schwere Gepäck wieder auf dem Rücken, doch dieses Mal mit feuchten Haaren und ordentlicherer Kleidung.
Anmerkung: Die über 1.000 Kilometer lange Wanderung fand im Sommer 2003 von Süd nach Nord statt. genauer gesagt: Con Prex nach Priwall. Im Nachfeld gab es zum Thema Diavorträge und eine Wanderausstellung.
Fotos: Marco Bertram