Land´s End! Das schien für mich am vergangenen Montag Programm zu werden. Gestrandet in Schwedt an der Oder. Nach einer dortigen Lesung stand ich um 23 Uhr mutterseelenallein auf dem Bahnhof von Schwedt und wartete auf den letzten Zug nach Berlin. 30 Minuten Verspätung lautete die knappe Durchsage. Ich hatte jedoch ein wenig Bammel, da ich mir vorstellen konnte, dass der Zug komplett ausfallen könnte. So stand ich da auf dem komplett verwaisten Bahnsteig und lauschte. Aus Richtung der Raffinerie war ein dumpfes, unheimliches Röhren zu vernehmen. Das Kopfkino ratterte auf Hochtouren. Gleich mehrere Erlebnisse aus der Vergangenheit passten ganz gut zur Stimmung. Leverkusen Anfang der 1990er Jahre. Das dumpfe Wummern, der Geruch in der Luft, die Lichter der Fabrik in der Dunkelheit. Zum anderen fühlte ich mich gedanklich schlagartig auf die finstere Nordsee versetzt. Im November 1999 segelten wir nachts über das aufgewühlte Meer, und immer wieder tauchten in der Dunkelheit die Lichter der Bohrtürme auf. Und dann war da noch was! Im Herbst 1994 nächtigten wir zu zweit auf einem Berg vor den Toren von Edinburgh. Mit Schlafsäcken lagen wir zwischen Ginster und Heidekraut, es nieselte leicht, und unten vom Hafen drang ein ähnliches Grundgeräusch wie jetzt in Schwedt herüber.
Tour de Britain: Eine spannende Radtour - ein überaus emotionales Buch!
Edinburgh! Schottland! Die Britischen Inseln! Einst in den frühen 1990ern waren Irland und Großbritannien teils die ersten Reiseziele. Die dortige Region zog mich an wie ein Magnet. Im Februar 1995 fuhr ich nochmals zwei Wochen alleine nach Schottland. Glasgow und Inverness bei zwei Grad plus und leichtem Regen. Ein Gedicht! Britischer ging es nicht! Und siehe an! Wie der Zufall will, hatte ich am Montag bei meiner Zugfahrt zu meiner Lesung in Schwedt das neue Buch von Hardy Grüne dabei. Die meisten kennen ihn als lebendes Fußballlexikon, andere kennen ihn von seinen Radtouren quer durch Afrika und Südamerika.
Im vergangenen Jahr erfüllte er sich einen Traum und radelte einmal quer durch Großbritannien. Allein. Von Süd nach Nord. Von Land´s End nach John O´Groats. Das klang prima! Dieses Buch wollte ich unbedingt haben. Zwar war ich in meinem bisherigen Leben meist zu Fuß mit dem Rucksack unterwegs, doch waren bei all meinen Reisen in Nah und Fern auch zwei große Radtouren dabei. Zum einen kurbelte ich im Herbst 2005 rund 1.200 Kilometer von Nord nach Süd die ehemalige deutsch-deutsche Grenze entlang (zehn Etappen, von diesen die letzten drei allein), zum anderen ging es im September 2006 zu zweit quer durch den Balkan von Horgos nach Kjustendil (rund 900 Kilometer). Von daher fällt es mir wahrlich nicht schwer, mich in Hardy Grünes Tour durch England, Wales und Schottland hineinzuversetzen. Oh Gott! Allein diese schmalen Landstraßen mit den hohen Hecken. Diese waren auch bei unserer Wanderung durch den Südwesten Irlands ein echter Graus!
Kurzum: Ich las das Buch „Tour de Britain“ an einem einzigen Tag. Im Café sowie auf Hin- und Rückfahrt nach Schwedt. Und ja, kurz nach 23:30 Uhr kam am Montag tatsächlich noch der letzte Zug nach Berlin. Ich machte es mir gemütlich und saugte die Buchkapitel förmlich auf. Ich war mir im Vorfeld gar nicht mal sicher, ob ich es schaffe, das Buch wirklich komplett zu lesen. Auf meinem Schreibtisch stapeln sich die Fußballbücher, die alle noch gelesen und bewertet werden möchten, und der Arbeitsalltag (sowie die beiden Kinder) haben einen fest im Griff, wenngleich man als Selbständiger gewisse Freiheiten besitzt. Nun denn, Hardy kennt das ja!
Derzeit hat er allerdings das Korsett gelockert. Gute Zeiteinteilung, Geld ist nicht alles, Träume wahr machen, viel auf Reisen sein. Aber was heißt derzeit?! In seinem aktuellen Buch über die spannende Radtour wirft Hardy Grüne immer wieder mal einen Blick in seine eigene Vergangenheit. Zurück in Zeiten, in denen nach dem Studium das Arbeitskorsett wahrlich eng saß. Ausbrechen! Die Freiheit suchen! Ich war beim Lesen erstaunt, wie viele Parallelen es in unserem Leben gibt. Zwar musste er sich nicht wie ich so sehr mit dem fest im Innern verpflanzten „Bambule-Gen“ herumplagen, das einen immer wieder zu allen möglichem Unfug trieb, doch in vielen anderen Punkten erkannte ich mich beim Lesen wunderbar wieder.
In seinem Buch geht es Schlag auf Schlag. Beschrieben werden die Strapazen beim Kurbeln an extrem steilen Anstiegen (ja, die gibt es in Großbritannien reichlich, denn Serpentinen sind dort meist ein Fremdwort), die einzelnen angefahrenen Ortschaften und Städte, sowie die Aufeinandertreffen mit den verschiedensten Leuten. Der Wunsch der Erinnerung führte Hardy Grüne unter anderen in den Lake District. Rückblick auf eine große Liebe, die er dort einst gefunden hatte. Eine Kunststudentin aus Lancaster mit rotem Haar und sagenhaft vielen Sommersprossen im Gesicht. Nach einem Jahr kehrte er zu ihr zurück. 24 Stunden Busfahrt - und dann die Ernüchterung…
Auf Seite 110 fällt dann der Name Egon Erwin Kisch, der als Urvater der modernen Reisereportage gilt. Hardy baute ein altes Zitat von ihm ein: „Nichts ist phantastischer als die Wirklichkeit.“ Egon Erwin Kisch! In Ost-Berlin gab es auf der Straße Unter den Linden mal ein Café mit dem Name Egon Erwin Kisch. Als ich ein Kind war, holten meine Eltern öfters meine Tante am Bahnhof-Friedrichstraße ab, und da sie „Zonen-Verbot“ hatte, ging es gemeinsam für drei, vier Stunden in dieses besagte Café. Auch nach 35 Jahren könnte ich noch jedes Detail in diesem Café, das es längst nicht mehr gibt, beschreiben. Während die Erwachsenen sich angeregt unterhielten, saß ich stumm daneben und inspizierte jeden Gast und jedes noch so winzige Detail. Der Name des Cafés hatte sich eingebrannt. Dass Kisch einst Reisereportagen schrieb, wusste ich damals jedoch nicht. Irgendwie fügt sich alles wie ein Puzzle.
„Wie weit geht die Einsamkeit?“, heißt es im 13. Kapitel - sprich auf der 13. Etappe. Die letzten Etappen durch Schottland fand ich beim Lesen mit Abstand am spannendsten. Immer wieder musste ich an meine mitunter sehr melancholische Tour im Februar 1995 denken. Und selbstverständlich auch an unsere Wanderung auf dem West Highland Way im Sommer 2002. Hardy Grünes Ankunft am nördlichen Punkt John O´Groats konnte ich wunderbar nachempfinden. Wie ist auf Seite 186 zu lesen? „Am Meer werden die eigenen Dimensionen erschüttert. Man ahnt die Kraft und das Wunder des Lebens, spürt die eigene verschwindende Größe und seine Vergänglichkeit.“ ...
Fazit: Eine klare Leseempfehlung! Bestellen kann man dieses Buch direkt bei Hardy Grüne.
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Fotos: Marco Bertram, K. Hoeft