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Poznań als neue Heimat: Einleben, Behördenstress und Ruder-Veranstaltung als Ausgleich

 
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Die gelb-grüne Straßenbahn in Richtung Ruder-Veranstaltung tuckerte soeben gemächlich am Platz der Freiheit vorbei. Hinter mir liegt eine weitere Woche in der neuen Heimat. Hier an diesem Platz war ich schon ein paar Tage zuvor. Langsam wird alles klarer, und ich weiß langsam, wo im Ort alles zu finden ist. Der Platz der Freiheit war für mich allerdings zunächst der falsche Anlaufpunkt. Ich hatte einen kleinen Behördengang zu tätigen, der nach meinem Verständnis keine große Angelegenheit darstellt. Zwei Konsulate hatten keine jedoch Ahnung und verwiesen mich auf ein weiteres in Wrocław, das mir eindeutig klarmachte, dass ich mich in Bewegung setzen müsste. Auf dem Platz der Freiheit befindet sich die Ausländerbehörde. 

Wie der Deutsche so ist, ist er etwas früher da. Die Arbeit rief ja auch noch. Bereits eine Stunde vor der offiziellen staunte ich nicht schlecht, als ich nicht der erste Wartende war, sondern Nummer 41 hinter 40 genauso genervten Ukrainern. Na dann schaue ich mir mal die Sache an! Zunächst wurde der Sicherheitsdienst angesprochen, der mir zuversichtlich mitteilte, dass es hier schon mal zehn Stündchen dauern konnte. Zehn? Ähnliche Dimensionen wurden mir später auf der Arbeit von den asiatischen Kollegen bestätigt.

Dann waren für mich die Leute interessant, die dort gebannt auf ihre Uhren schauten. Im Prinzip tat ich es ihnen gleich. Es waren fast ausschließlich junge Ukrainer, die entweder ein Alter mit einer Zwei an erster Stelle hatten oder seit kurzer Zeit erst eine Drei. Im Netz kursierte mal die Zahl von 1,3 Millionen von Polen aufgenommenen Ukrainern. Der kleine Raum füllte sich indes weiter mit Ukrainern. Das hier jeden Tag - da müssten die Zahlen schon längst die Grenze von zwei Millionen passiert haben. Mit Sicherheit! Da bricht dem Land eine ganze Generation weg. Wer die Chance hat, der geht einfach (Nebenbei erwähnt haben laut Statistik zwischen 2015 und 2017 auch ca. 3,5 Millionen Leute Deutschland verlassen.). 

Das ist auch kein Wunder. Die Lebenshaltungskosten sind in der Ukraine extrem gestiegen. Milch, Gemüse und Brot sind schon fast Luxusgüter. 10 Millionen enttäuschte Ukrainer haben das schon nicht mehr ausgehalten und suchen ihr Glück u.a. nun auch hier in Poznań. Die Uhr schlägt 8:15 und Bewegung kommt ins Spiel. Der kümmerliche Ticket-Automat ist die wichtigste „Person“ im Raum. Unruhe und Hektik entsteht, bis das Gerät den Geist aufgibt. Die Info-Punkte verdienen auch nicht ihren Namen, und etwas frustriert geht es zur Arbeit. Da gibt man mir noch einen Hinweis auf ein weiteres Amt, wo ich dann nur ein halbes Stündchen brauchte, in der die Bearbeitungszeit schon enthalten ist. Das war auch nur einen Katzensprung von der Haltestelle entfernt, an der ich heute vorbei muss. So kann man sich hier die Zeit vertreiben.

Besser kann man sich die Zeit natürlich mit Sport vertreiben. Vor einigen Jahren dudelte auf Eurosport die Weltmeisterschaft im Rudern. Das war im Jahre 2009 und der Veranstaltungsort wurde auf Poznań festgelegt. Das ist nicht ungewöhnlich, da Poznań ziemlich stark in dieser Disziplin ist. 1958 fand hier zum ersten Mal in Polen die EM statt. Dann 2007 wieder. Zwischendurch gab es ab 1973 eine kleine Pause. 1972 und 1973 waren die DDR und die Sowjetunion noch die Veranstalter. 2007 sollte es dann Poznań wieder sein. Und sogar 2015 ruderten sie hier noch einmal in einer EM.

Heute standen die Rennen der Saisoneröffnung auf dem Programm, die als Testlauf für die für Ende Mai angesetzte Ruder-Europameisterschaft in Luzern anzusehen ist. In Einer-, Vierer- und Doppelrennen im Bereich der Erwachsenen und Junioren beider Geschlechter legten sie sich heute kräftig in die Riemen. Die Ruderer kamen aus dem ganzen Land: Gdańsk, Płock, Warszawa, Gorzów, Wałcz… und Bydgoszcz. Ich wusste gar nicht, dass Zawisza Bydgoszcz eine Ruder-Abteilung hat, die Ultras und Hools des ehemaligen Erstligisten anscheinend auch nicht, denn die Stehtribüne war annähernd leer. 

Es gibt hier außerdem noch eine überdachte Tribüne und eine ohne Dach, die sich am Ende der Regatta-Strecke befindet. Diese misst übrigens zwei Kilometer. Der Gesamteindruck der Konstruktion aus den 90er Jahren ist gut, zunehmend beginnt man hier auch alles zu beschmieren. Irgendwer schrieb an eines der Teile „Er trinkt Urin, ich esse Scheiße.“ Derartige Schmierfinken kennt man in Deutschland auch mehr als nur zu Genüge. Fußballfans kreieren da schon bessere Werke.

Der Malta-See ist ein künstliches Gebilde. Der Name verweist auf das Mittelalter, da sich hier in der Nähe Malteser ansiedelten. Ein künstliches Gebilde ist er daher, da er angestaut wurde. Der dazugehörige Fluss ist die Cybina, die in preußischer Zeit einen Teil des Festungsrings um Posen bildete.

Die ganze Veranstaltung erstreckte sich über zwei Tage. Am Samstag fanden über zehn Stunden die Vorrunden statt, am heutigen Sonntag wurden bis zum Nachmittag die Finalläufe ausgetragen. Rudern ist hier nicht die Sportart Nummer 1 im Land, weshalb die Zuschauerzahl überschaubar war. Ich möchte mich da nicht festlegen. Die meisten fanden sich logischerweise an der Ziellinie ein.

Dadurch, dass der Malta-See ein Erholungs- und Freizeitgebiet ist, gibt es hier noch weitere Attraktionen (Bimmelbahn, Schwimmbad, Ski-Anlage, Rodelberg, Einkaufszentrum) und somit auch zahlreiche Leute, die einfach mal ein Auge auf die Veranstaltung warfen, und dann aber ihren Weg weiter gingen. Zum Beispiel zur Straßenbahn, die mich am Nachmittag dann auch wieder am Platz der Freiheit vorbeikutschierte.

Fotos: Michael, Marco Bertram, P. Schoedler

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Michael 85 in Po-Land. :-)
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