Auf der Avenida das Américas und der Via Elevada das Bandeiras ging es bei einbrechender Dunkelheit geradewegs nach Gávea und Rocinha. Letztendlich ging es durch den langen düsteren Tunnel, der nach Lagoa und Leblon führte. Ich erinnerte mich. Dieser Tunnel musste es gewesen sein, der Kathrin und mir vor 12 Jahren einen gehörigen Schrecken eingejagt hatte. Damals im Sommer 1996 wollten wir von Jardim Botânico nach Ipanema fahren, doch wir hatten den falschen Bus gewählt und landeten nach langer Fahrt durch den schwach beleuchteten Tunnel am Rande der Favela Rocinha.
Rocinha, Copacabana und Zona Norte: Streifzüge durch die Stadt der vielen Gesichter
Am späten Abend landeten Jens und ich wieder in unserer Bar in Copacabana. Die Stimmung war an jenem Abend von Anfang an gedämpft. Es lag etwas in der Luft. Wenige Minuten später kamen zwei Straßenkinder herbei und bettelten energisch um Geld. Die Kids waren noch nicht alt, aber ihre Gesichtszüge wirkten ernst und erwachsen. Die des einen Jungen sogar heimtückisch und bedrohlich.
Ein älterer Mann sprang auf, beschimpfte die beiden Straßenkids und drohte ihnen Prügel an. Seine Partnerin versuchte ihn zu beruhigen und hielt ihn zurück. Die Stimmung drohte umzukippen. Die Situation hätte jeden Augenblick aus dem Ruder laufen können. Zudem befürchtete ich, dass die beiden Jungs wenig später mit ihren Kumpels aus den Favelas zurückkehren könnten. Ich dachte an den Film »Cidade de Deus«. Die Kids vor uns wirkten genauso aggressiv und skrupellos. Sehr gut konnte ich mir vorstellen, dass der Ältere in jedem Moment einen Revolver ziehen und um sich ballern könnte. Still saßen Jens und ich in einer Ecke und beobachteten skeptisch die Lage aus den Augenwinkeln. Glücklicherweise entspannte sich die Situation. Einer der Gäste spendierte den beiden Straßenjungs eine Flasche Cola und ein paar Tüten Chips. Mit der Beute zogen die beiden Kids wieder von dannen.
Am kommenden Vormittag ging das Abenteuer weiter. Jens und ich waren neugierig. Neugierig auf die Zona Norte. Neugierig, was sich hinter der Metro-Endstation Pavuna wohl für eine Gegend verbürgen würde. Zuerst ging es mit der roten Linie 1 von Siqueira Campos nach Estáçio, wo man in die grüne Linie 2 umsteigen konnte. Von Estáçio nach Pavuna waren es 15 Stationen, und da die Linie meist oberhalb verlief, wurde es ein durchaus interessanter und aufschlussreicher Ausflug weit hinein in die berüchtigte Zona Norte von Rio.
Zugegeben, etwas Bammel hatten wir. Doch die Neugier siegte. Was sollte schon passieren? Am helllichten Tage. An der Endstation könnte man schließlich notfalls einfach wieder direkt in die Gegenrichtung umsteigen. Oder nicht? Was, wenn man dort einmal ums gesamte Bahnhofsgebäude gehen müsste? Was, wenn dort nur kriminelles Volk abhängen würde? Fragen stellten sich durchaus, als in Richtung Norden die U-Bahn immer leerer wurde. Nur wenige Fahrgäste nutzten um die Mittagszeit herum die Möglichkeit, mit der Metro von A nach B zu kommen.
Zu beiden Seiten der Strecke gab es massive Betonmauern, die die Gleisanlagen vor Übergriffen schützten. An manchen Abschnitten krönten Stacheldraht und Überwachungskameras die Mauern. Einfache Wohnblocks, Favelas, Gewerbe- und Brachflächen prägten das dortige Stadtbild. Hinter der Station Del Castilho waren die U-Bahn-Waggons fast komplett leer.
Die Gegend um die Endstation Pavuna war nicht so sehr urban, aber doch verhältnismäßig geschäftig. Unterführungen, Stände und die Gleisanlagen der parallel verlaufenden Nahverkehrszüge prägten die dortige Umgebung. Vorsichtig zog ich meine kleine Digicam und machte ein paar Bilder von der Bahnhofsgegend. Schlicht gebaute Häuser und Baracken zogen sich die Hänge hinauf. An den Unterführungen wurden Obst, Gemüse und CDs verkauft. Als ich auf einer Brücke ein Foto von dem unten verlaufenden Straßenzug schoss, wurde ich bereits von den ersten Typen aufmerksam beobachtet und ins Visier genommen.
»Tss, tss, lass uns lieber gehen. Die schauen schon alle!«, zischte Jens. Noch rasch ein paar Schnappschüsse und schon saßen wir wieder in einem Waggon der Linie 2 in Richtung Stadtzentrum. Während der Fahrt fertigte ich noch ein paar Videosequenzen an, um die Lage links und rechts des Streckenverlaufs festzuhalten.
Einen Zwischenstopp legten Jens und ich an der Station Maracanã ein. Am Zaun des Stadiongeländes sprach uns eine junge Frau an. Anfangs befürchtete ich einen Hinterhalt, doch schnell bemerkten wir, dass sie in großer Panik war. Wie sie uns erzählte, kam sie aus Israel und hatte Angst, allein zur Metrostation zu gehen. Sie hatte so viele Horrorgeschichten gehört und in der Stadiongegend soll es viele Überfälle auf Touristen geben. Fast flehend bat sie uns, sie zum Bahnhof zu begleiten. Kurzerhand brachen wir unseren Rundgang ab und kehrten mit ihr zur Station zurück. Als auf einer Zugangsbrücke zwei bunt bemalte Männer auf uns zu kamen und für ein Studentenprojekt Geld sammelten, versteckte sich die junge israelische Frau hinter unseren Rücken.
Wir änderten unsere Pläne und begleiteten sie kurzerhand bis ins Stadtzentrum. Dort trennten sich unsere Wege. In der 9. Etage des Hochhauses in der Avenida Presidente Antonio Carlos 51 befand sich das Büro der Iberia, bei der wir unsere Rückflüge bestätigen mussten. Erstaunlicherweise wurde im dortigen Büro kein Wort Englisch gesprochen. Glücklicherweise kamen wir auch mit unseren Portugiesisch-Kenntnissen ganz gut zurecht.
Mit der Linie 1 fuhren wir im Anschluss bis Cantalogo, von wo aus wir zur Lagoa Rodrigo de Freitas liefen. Im Abendlicht spazierten wir zehn Kilometer um die Lagoa herum, während hinter den Bergen die Sonne verschwand. In einem Wasserbecken am Ufer des Sees übten in einem fest installierten Achter-Boot junge brasilianische Sportlerinnen im Gleichtakt rudern. Ein paar Schaulustige standen an einem Geländer und beobachteten interessiert das Geschehen in dem blauen Übungsbecken des Botafogo Ruderclubs. Der weiße Stern auf schwarzem Untergrund prankte auf der Spitze des Boots. Am gegenüber liegenden Ufer der Lagoa übte der Flamengo Ruderclub. Nicht nur im Fußball waren und sind beide berühmten Clubs große Rivalen in der Metropole am Zuckerhut…
Fotos: Marco Bertram, Jens R.
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