Angenehme Kühle, zwitschernde Vögel, klare Luft. Als ich morgens um vier den Böhmischen Platz in Rixdorf passierte, atmete ich tief ein. Dermaßen früh war ich seit langem nicht mehr durch die Straßen einer Stadt spaziert. Einst zu wilden Zeiten, in denen man auf Reisen ein Nachtlager auf einer Bank im Morgengrauen räumte, um etwaigem Ärger aus dem Wege zu gehen, kam es öfters vor, dass zu solch einer Zeit durch die noch leeren Straßen geschlendert wurde. Toronto, Bordeaux, Lissabon. Was würde wohl der kommende Tag bringen? Am vergangenen Montag war das Ziel klar gesteckt. Mit dem Rucksack auf dem Rücken, in dem sich Zelt, Schlafsack, Wechselklamotten, „Trockenfutter“ und vier Liter Wasser befanden, sollte es zunächst zu Fuß auf dem einstigen Berliner Mauerstreifen im Uhrzeigersinn von Neukölln/Treptow bis Kladow am anderen Ende der Stadt gehen. Das wären mal eben rund 70 Kilometer. Am Tag darauf wollte ich in einem Rutsch die restliche Strecke über Staaken, Hennigsdorf, Frohnau. Lübars und hinein in die Stadt bewältigen. Unter dem Strich wollte ich innerhalb von zwei Tagen rund 150 Kilometer packen. Zu Fuß, mit dem Rucksack auf den Schultern, ganz allein, mit der Kamera in der Hand.
Der Marsch des Lebens: 150 Kilometer Grenzerfahrung in zwei Tagen
Die Tour hatte ich seit geraumer Zeit im Hinterkopf und wollte sie diese Woche umsetzen. Bei einem Bierchen in Kloster Zinna beschloss ich am Sonntagnachmittag, gleich am kommenden Morgen zu starten. Der am Mittwoch zu erwartenden Rekordhitze wollte ich aus dem Wege gehen, es würde auch so extrem genug werden. Zudem hielt ich das Warten nicht mehr aus. Obwohl ich diese Tour für mich ganz allein machte, hatte ich richtig Bammel, dass das Vorhaben in die Hose gehen könnte. 70 Kilometer in einem Rutsch? Und am Tag darauf mal gleich noch locker zehn Kilometer mehr? Rund 50 Kilometer wurden bereits mit voller Ladung auf dem Rücken gemeistert. Aber 70 oder gar 80? Sorge bereitete mir weniger die Hitze, sondern die Beschaffenheit der Strecke. Fast nonstop würde es auf Asphalt vorangehen. Für Radfahrer eine prima Angelegenheit, für die Füße eines Wanderers indes eine Katastrophe.
Egal! Ich wollte es probieren. Am Sonntagabend saß ich in meiner Lieblingskneipe Zosse bei einem letzten Bier und schaute mir noch einmal die Route im Radwanderführer „Berliner Mauerweg“ im Detail an und rechnete die einzelnen Kilometer zusammen. Anschließend wurde fix der Rucksack gepackt - meine Güte, was für ein Gepäck für nur zwei Tage - und sich ins Bett gelegt. Der Wecker wurde für 3:30 Uhr gestellt. Wie sollte es auch anders sein - ich war bereits vorher wach. Nach einer kleinen Schüssel Haferflocken fand ich mich auf den Straßen von Neukölln wieder. Ich hatte das Mahnmal in der Kiefholzstraße als Startpunkt gewählt und lief demzufolge am Hotel Estrel vorbei.
Meine Güte, schoss es mir durch den Kopf. In diesem August ist es 20 Jahre her, als wir genau dort im Rahmen einer Veranstaltung des Berliner Olympiastützpunktes feierlich verabschiedet wurden. Wenig später stachen wir zu viert mit zwei selbstgebauten acht Meter langen Segelbooten am Strelasund in See. Das Ziel: Die Olympischen Spiele 2000 im fernen Sydney. Am Abend des 6. November 1999 brachten vor der niederländischen Insel Vlieland bei Windstärke zehn bis elf meterhohe Nordseebrecher unsere Boote zum Durchkentern. Dank der Rettungskräfte fanden wir uns später am Festland wieder. Wir kamen allesamt mit dem Leben davon, doch der große Lebenstraum, zu dem jahrelang hingearbeitet wurde, war zerplatzt. Aufstehen, lautete die Devise. Neue Ziele suchen.
Eines jener Ziele war zu Beginn des Jahrtausends die Dokumentation der noch verbliebenen Spuren der ehemaligen Berliner Mauer und der einstigen deutsch-deutschen Grenze. Als ich am Montagmorgen gegen 4:30 Uhr das bedrückende Mahnmal an der Kiefholzstraße erreichte, schoss mir die nächste Zahl durch den Kopf. 18! 18 Jahre her ist die mit Karsten unternommene Wanderung auf dem Mauerstreifen. Damals im Juni 2001 gab es noch keinen ausgeschilderten Mauerweg. Anlässlich des 40. Jahrestages des Mauerbaus wollten Karsten und ich uns auf Spurensuche begeben und die Reste der Berliner Teilung auf Diafilm festhalten. Fünf Tage lang waren wir unterwegs. Mit dabei im Gepäck war ein beschriebenes Laken. „Gedenkmarsch - 166 km in 5 Tagen. Gegen das Vergessen!“ Aus heutiger Sicht hätten wir einen anderen Begriff genommen, doch damals stieß sich niemand dran. Ganz im Gegenteil. Die Medien wurden aufmerksam auf unsere Tour, und zum Abschluss am Brandenburger Tor gab es sogar einen kleinen medialen Empfang. Als wir das selbst bemalte weiße Laken ausrollten, wurden die Sicherheitskräfte aufgrund der Bannmeile gleich nervös, doch letztendlich wurde damals noch alles weitaus lockerer gehandhabt.
18 Jahre. Diese Zahl ging mir beim Wandern in Richtung Teltowkanal gar nicht mehr aus dem Kopf. Innerhalb von 18 Jahren wird aus einem Baby ein erwachsener Mensch. Ich schluckte, kurz wurde der Mund trocken. Ich mochte gedanklich die 18 Jahre erst gar nicht noch einmal auf mein jetziges Alter draufpacken. Es nutzt ja nichts. Wir alle leben im Hier und Jetzt. Los, Marco, mach Tempo! Kladow wartet! Vorbei am ehemaligen Grenzübergang Sonnenallee und dem Chris Gueffroy-Mahnmal ging es zum parallel an der Autobahn 113 verlaufenden Radweg, der bis runter zur Brücke an der Rudower Chaussee führt. Meter für Meter arbeitete ich mich vor. Rechte Hand der Teltowkanal, linke Hand die Schallschutzmauer der Stadtautobahn. Ich war überrascht, wie viele Radfahrer mir gegen fünf Uhr entgegen kamen. Ebenso überrascht war ich, als ich an der Wand ein grün-weiß-orange geschriebenes „Féin“ entdeckte. Foto gemacht und Karsten geschickt. Sogleich kamen Erinnerungen an unsere gemeinsame vierwöchige Wanderung durch den Südwesten Irlands hoch. Damals lag mein privates Leben nach einer Trennung in Trümmern, und die Wanderung brachte mich wieder auf andere Gedanken.
Oh Mann, das Leben als Schleife. Immer wieder mal auf Anfang gehen. Derzeit schaut es privat nicht viel besser aus als im Sommer 1997, doch Dank der gesammelten Erfahrungen weiß ich, wie man trübe Gedanken nach Möglichkeit vertreiben kann. Solch eine Wanderung bietet wahrlich die Möglichkeit, auf andere Gedanken zu kommen. Das bleibt einfach nicht aus. Allein der immer wieder auftauchende Gedanke: Was machen eigentlich die Füße? Ein erstes In-sich-Gehen nach den ersten zehn Kilometern. Der Rucksack fühlte sich schwerer an als vermutet. Ich war zuletzt einfach zu selten mit Gepäck auf den Schultern auf Achse. Und der Asphalt? Ich wischte jegliche Bedenken sogleich weg. Ich wollte die Wanderung mit ihren Highlights in vollen Zügen genießen. Und wenn es mal monoton und hart sein würde, müsste ich einfach auf die Zähne beißen und nicht weiter drüber nachdenken.
Am ersten Tag sprach ich immer wieder aufs Band, oder besser gesagt aufs Handy, um den einen oder anderen Gedankengang festzuhalten. Ich rechnete fest damit, dass später die Strapazen des zweiten Tages so ziemlich alles in den Schatten stellen würden. Und ja, mir war bewusst, dass es vor allem auf den Kopf und die Taktik ankommen würde. Am Montagmorgen gleich um vier Uhr zu starten, erwies sich als goldwert. Ich lief zu Beginn ein sehr hohes Tempo und wollte bis mittags möglichst viel Strecke schaffen. Rasch wurde der lange Kanten an der A113 abgearbeitet, weiter ging es vorbei an der Hinterlandmauer an der Rudower Höhe runter in Richtung Schönefeld. Nahe der ehemaligen US-Radarstation zwischen Rudow und Altglienicke wollte mir ein Hund einer Spaziergängerin ans Bein. Das „Entschuldigung“ der Frau war die erste Kommunikation an jenem Tage. Und was die Hunde betraf, so musste ich feststellen, dass manch ein Vierbeiner ganz schön abging, wenn ich vorbeilief. „Wat denn da los? Der hat doch jar keenen Hund dabei!“, rief ein älterer Mann seiner Frau hinter dem Gartenzaun zu. Es muss wohl am adrenalingeschwängerten Anstrengungsschweiß gelegen haben, dass die Hunde mitunter abgingen wie Schmidts Katze.
Gegen halb sieben passierte ich die Waltersdorfer Chaussee, eine halbe Stunde später erreichte ich auf dem einstigen betonierten Kolonnenweg die 85 Meter hohe Erhebung Dörferblick. 20 Kilometer waren geschafft, und ich gönnte mir die erste Flasche Wasser. Ich mag den dortigen Abschnitt des Mauerstreifens, weil der besagte Betonweg und die einsam stehenden Laternenmasten, auf denen stets Raben und Tauben sitzen, die Vergangenheit gedanklich wieder ranholen. Unvergessen, als Karsten und ich im Juni 2001 diesen Abschnitt abliefen. Der Anblick dieses Weges hatte sich fest eingebrannt. In der Folgezeit war ich dort noch oft mit dem Fahrrad und im Sommer 2010 sogar mit dem Kinderwagen unterwegs. Die dortigen Streichelzoos und Ponyhöfe sind mit Kindern immer einen Ausflug wert.
Ebenso einen Abstecher wert ist ein Bäcker in der Ortschaft Großziethen. Als ich vor einigen Jahren mehrmals in einem Rutsch mit dem Fahrrad den Mauerweg abfuhr, legte ich dort immer eine Pause ein und futterte ein Erdbeertörtchen. Und das sollte am Montagmorgen nicht anders sein. Zwar sieht der Bäcker inzwischen völlig anders aus, doch ist der Betreiber derselbe, und demzufolge ist auch das Törtchen im Angebot. Eine längere Pause gönnte ich mir jedoch nicht. Füße und Beinmuskulatur mussten stets warm bleiben. Pausen auf ausgedehnten Wanderungen können „tödlich“ sein, wenngleich sie sich anfangs prima anfühlen. Das Anlaufen nach der Pause kann zur Hölle werden. Zwar war dies nach 25 Kilometern noch kein Problem, doch wollte ich es erst gar nicht drauf ankommen lassen. Diesen Plan zog ich bis zur Nacht von Dienstag zu Mittwoch durch. Eine Pause dauerte nie länger als zehn Minuten, ich lief quasi die ganze Zeit durch.
Positiv überrascht wurde ich vom Mauerweg-Abschnitt südlich von Buckow, Lichtenrade und Lichterfelde. Von früheren Touren hatte ich diesen Abschnitt eher kahl und trist in Erinnerung, doch inzwischen sind Sträucher, Kiefern und Birken höher gewachsen und spenden angenehmen Schatten. Phasenweise gibt es am Feldrand parallel zum asphaltierten Mauerweg einen sandigen Trampelpfad, den ich gern in Anspruch nahm. Flott ging es voran, ich lag prima in der Zeit und könnte Griebnitzsee und Kladow sogar früher erreichen als gedacht. Ärgerlich ist der kleine Umweg, der in Lichtenrade zu gehen ist. An der dortigen Bahnstrecke fehlt noch immer eine Unterführung, und somit geht es dort kurz durch die Siedlung.
Lichtenrade. Kirchhainer Damm. Höre ich diese Namen, muss ich stets an meinen Freund Robert denken, den ich 1979 im Kindergarten kennengelernt hatte. Gerade fällt mir auf, dass dieses Jahr die 40 vollgemacht wird. Mensch Robert, du bist mein langjährigster Freund! Auf die nächste gemeinsame Wanderung! Meine Güte, was war das für ein schockierender Moment, als kurz vor Weihnachten 1985 mir mitgeteilt wurde, dass Robert unsere Klasse verlassen würde - und zwar in Kürze! Wir saßen im Haus seiner Eltern, und ich verstand die Welt nicht mehr. Seine Eltern hatten bereits vor geraumer Zeit einen Ausreiseantrag gestellt, und nun sollte alles auf einmal ganz schnell gehen. Robert und ich - wir waren damals gerade mal elf Jahre alt - führten an einem Dezembernachmittag ein tiefsinniges Gespräch wie es Erwachsene tun würden. Der Komet Halley näherte sich am 8. März 1986 der Erde, und bereits im Vorfeld war diese Annäherung ein großes Thema, mit dem man sich stundenlang beschäftigen konnte. Robert ging - und ich war zu traurig, um weinen zu können. Stattdessen hatte ich mit diesem Staat bereits als Elfjähriger abgeschlossen. Eines Tages würde auch ich die DDR verlassen - und das meinte ich ernst. Kein Wunder, dass ich in den Folgejahren einige Male als Jugendlicher gefährlich aneckte. Bevor es richtig kritisch hätte werden können, fiel im November 1989 der Eiserne Vorhang. Und ja, beim Tippen dieser Passage rollen mir hier im Café Rix die Tränen die Wangen herunter. Besser spät als nie.
Für Karsten und mich war bereits die Mauerwanderung im Juni 2001 eine persönliche Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Zwei Jahre später - im Rekordsommer 2003 - wanderten wir dann gemeinsam von Süd nach Nord die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ab. Von Prex nach Priwall - über 1.000 Kilometer zu Fuß. Jene sechswöchige Tour war unter dem Strich die beeindruckendste Reise, noch vor den legendären Reisen nach Brasilien, Nordamerika, Russland und Ägypten. In Form von Diavorträgen, einer Wanderausstellung und der Mitarbeit an der Ausarbeitung des Iron Curtain Trails beschäftigte mich das Thema Deutsche / Europäische Teilung noch einige Jahre, doch nach 2010 rückte diese Thematik gedanklich nach und nach in den Hintergrund. Die Arbeit an all den Fußballthemen für turus.net zog mich mehr und mehr in ihren Bann. Nun - bei der jetzigen Wanderung auf dem Mauerweg - war mit einem Mal wieder alles präsent. Die Touren im Juni 2001 und im Sommer 2003. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen aus den 1980ern und der Wendezeit.
Am vergangenen Montag sprach ich um 11:37 Uhr wieder auf den Sprachrekorder meines Smartphones. „Teltowkanal. Knapp 50 Kilometer sind geschafft. Es geht weiter voran. Wie erwartet habe ich nun das Tempo rausgenommen. Verständlich, sind es ja nur noch 20 Kilometer. Man muss ja an morgen denken. Vom Wetter geht´s, die Sonne kommt von hinten. Aber man soll nicht lügen, in den Füßen ist schon was zu spüren, was vor allem am Asphalt liegt…“
Nachdem zuerst die Kirschbaumallee passiert wurde, ging es erst südlich und dann nördlich des Teltowkanals nach Schönow, Kleinmachnow und Düppel. Der Abschnitt auf der Neuruppiner Straße setzte mir bei der Mittagshitze dann doch arg zu, recht abgekämpft erreichte ich den Startpunkt des Königsweges, der einmal quer durch den Forst bis Kohlhasenbrück führt. Ich setzte mich kurz auf den Boden und goss mir Wasser auf die Haare, als eine ältere Dame mit ihrem Fahrrad anhielt und fragte, ob alles okay sei. Alles prima soweit. Beim Anblick des angefertigten Selfies wurde mir klar, dass ich durchaus gezeichnet aussah.
Weiter! Nur noch den Königsweg entlang - und dann ist das Tagesziel fast erreicht! Vorbei am ehemaligen Kontrollpunkt Dreilinden und der Brücke über die einstige Friedhofsbahn arbeitete ich mich Kilometer für Kilometer durch den Berliner Forst Düppel. Enttäuscht zeigte ich mich über die Tatsache, dass der offizielle Mauerradweg nun nicht mehr vorbei an der Eisenbahnbrücke über die alte Autobahn und die einstige Autobahnbrücke über den Teltowkanal führt. Bei meinen Radtouren war dieser Abschnitt stets das Highlight. Auf der maroden Brücke waren noch die alten Markierungen auf den Asphaltresten erkennbar, und auch der ursprüngliche Kontrollpunkt Dreilinden bei Albrechts-Teerofen bot reichlich Fotomotive. Ich wollte es jedoch nicht riskieren, nach Süden abzubiegen. Eine Brückensperrung und ein Weg zurück hätten mir gerade noch gefehlt.
So ging es weiter schnurgeradeaus bis zur Brücke bei Kohlhasenbrück. Wenige hundert Meter weiter durfte ich die inzwischen wieder weiß getünchten Reste der Hinterlandmauer am Griebnitzsee und die dortige Wegsperrung bewundern. Nach jahrelangem Streit konnten die Anwohner ihren Wunsch gerichtlich durchsetzen. Kein freier Uferweg am südlichen Ufer des Griebnitzsees! Mir war es an jenem Tag relativ egal und nutzte ab Wannsee die BVG-Fähre nach Kladow. An jener Stelle führte die Grenze zwischen DDR und Westberlin über den Jungfernsee und die Havel nach Kladow und Groß Glienicke, und der ausgeschilderte Mauerradweg macht demzufolge einen großen Bogen über Potsdam, Neu Fahrland und Krampnitz. Mit dem Fahrrad bin ich drei-, viermal diese hübsche Strecke abgefahren, doch zu Fuß wäre dieser Umweg einfach irrwitzig.
Zum Abschluss des Tages genügten mir die drei Kilometer von der Anlegestelle bis hoch zum Campingplatz in Kladow. Damals im Juni 2001 und auch im Sommer 2003 zelteten Karsten und ich meist in freier Wildnis, doch nach einem 70-Kilometer-Marsch wollte ich einfach nur eine stressfreie Nacht haben - und ein, zwei kühle Blonde. Der Campingplatz erwies sich als äußerst gute Wahl. Ich baute mein kleines Zelt auf und humpelte leicht angeschlagen zum dortigen Biergarten. Ein paar Knacker, Kartoffelsalat, ein Weizen und ein Radler. Zwischendurch telefonierte ich kurz mit den Kindern, bis das Guthaben zur Neige ging und der Akku leerer wurde. Vor dem Sanitärgebäude verbrachte ich eine Stunde auf einer Bank, da im Vorraum der Akku wenigstens etwas aufgeladen werden musste.
Ei der Daus! Beim Anblick der Füße im Zelt machte ich mir wahrlich Sorgen, was den nächsten Tag betraf. Pflaster hatte ich einige dabei, das würde ich am kommenden Morgen schon ganz gut hinkriegen. Die Beine als solches waren indes in einem guten Zustand. Das machte Hoffnung. Ich nutzte den Rucksack als Kopfkissen und schlief mit dem dünnen Schlafsack auf dem blanken Zeltboden. Ich spürte jeden Erdhuckel und jeden Zweig und suchte immer wieder eine passende Schlafstellung. In den Füßen puckerte es, der Lendenwirbelbereich fühlte sich am kommenden Morgen arg verspannt an.
Im Zeitlupentempo baute ich das Zelt ab und packte den Rucksack. Nur keine falsche Bewegung! Ich warf einen letzten Blick auf die mitgenommenen Fotos der beiden Söhnchen und schöpfte neuen Mut. Papa wird es schaffen! Ganz sicher! Beim auf dem Campingplatz befindlichen Bäcker holte ich mir einen Kaffee und ein Croissant. Letztes wollte nicht, musste aber irgendwie rein. Ganz ohne Kalorien geht es nun auch nicht. Auf zur zweiten Etappe!
Am westlichen Ufer des Groß Glienicker Sees musste ich feststellen, dass es 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer neue Grenzen gibt. Wie auch am Griebnitzsee konnten hier Grundstückeigentümer ihren Willen durchsetzen. Freien Zugang zum See nur für die Anwohner, nicht aber für Spaziergänger und Radfahrer! Der Mauerradweg folgt nun notgedrungen der Straße Seepromenade. In der Radführerausgabe von 2007 verlief der Mauerradweg noch direkt am Ufer. Immerhin konnte ich mich durchfragen und die zweite Hälfte doch noch am Ufer des Sees entlang gehen. Dort hat das Wegerecht noch Bestand, allerdings verläuft auch hier die offizielle Route des Mauerradweges auf der parallel verlaufenden Straße.
Überrascht wurde ich an der nördlichen Spitze des Sees. Die stehen gelassenen Reste des Streckmetallzauns und der Betonsperrmauer lassen an dieser Stelle bei den Besuchern garantiert einen bleibenden Eindruck zurück. Insbesondere der fies aussehende Streckmetallzaun, der vor allem den Anblick der deutsch-deutschen Grenze prägte, lässt einen Kälteschauer aufkommen. Während man die Berliner Betonsperrmauer auch mit (wenigen) positiven Aspekten wie die Malereien auf der Westseite verbindet, wirkt der Streckmetallzaun einfach nur kalt, gefährlich und menschenverachtend.
Für mich hieß es nun wirklich Zähne zusammenbeißen. Parallel zur Potsdamer Chaussee ging es auf dem Mauerradweg einige Kilometer durch die Groß Glienicker Heide. An der Karolinenhöhe ging es schließlich links ab zur Grünanlage Hahneberg. Die dortige Landschaft ist wunderschön und erinnert punktuell ein wenig an Irland. Die leichten Senken ließen jedoch die Fußsohlen schmerzen. Mir wurde klar: Solch lange Strecken sind wirklich nur möglich, wenn es keinerlei Steigungen gibt. Besonders das Bergablaufen würde zu einer einzigen Tortur werden.
Während es am ersten Tag anfangs mit sieben, punktuell sogar bis acht km/h voranging, wählte ich am zweiten Tag sogleich ein anderes Tempo. Ankommen war alles. Fünf km/h mussten im Schnitt genügen. Eine geplante Übergabe von Zelt und Schlafsack an einen Freund in Staaken scheiterte leider aufgrund eines Termins, und somit musste ich wohl oder übel mit vollem Gepäck bis zum Ende durchlaufen. Vorbei an Staaken und Falkensee ging es nun nach Falkenhöh, wo es glücklicherweise wieder durch den Wald geht.
Und plötzlich erinnerte ich mich wieder an die 2001er Wanderung. Mensch ja, diese vielen Hügelchen zogen einem damals echt den Zahn. Ich biss wieder die Zähne zusammen und versuchte mein Tempo zu halten. Als der Große Kienhorst und der Eiskeller passiert wurden, musste ich schmunzeln. Damals im Juni 2001 hatten Karsten und ich uns dort verlaufen. In der Dämmerung bauten wir unser Zelt auf einer Wiese auf, wenig später war echter Wildschwein-Alarm. Gegrunze aus allen Ecken - an Schlafen war nicht zu denken. In einer Hauruck-Aktion bauten wir das Zelt wieder ab und hasteten durch die Dunkelheit bis Schönwalde, wo wir auf einem Dorfplatz nächtigten. Ähnliches geschah auch auf der Wanderung entlang der deutsch-deutschen Grenze. Auf einer einsamen Wiese trieben brünftige Rehe (oder waren es sogar Hirsche?) und wütend bellende Füchse ihr Unwesen. Was für eine gruselige Geräuschkulisse. An eine Flucht war indes nicht zu denken. Wir befanden uns in einem echten Niemandsland.
Die Erinnerungen an diese Nächte waren Antrieb genug, um vor Einbruch der Dunkelheit den Knick in Richtung Stadt bei Lübars zu packen. Bei glühender Hitze marschierte ich durch das Naturschutzgebiet Rohrpfuhl. Vorbei an einem Hochstand, von dem aus wir 2001 mehrere Fotos mit Selbstauslöser anfertigten. Ich ließ mich nicht lumpen und tat es noch einmal (siehe Titelfoto). Ein Liter Wasser ging weg wie nichts, an Essen war indes nicht zu denken. Ich stopfte ein paar Rosinen und Nüsse hinein, um nicht Durchfall zu bekommen. Irgendwas Festes muss ja in den Magen.
Während ich am ersten Tag stets in alten Erinnerungen schwelgte, wurde es am zweiten Tag ein Kampf mit sich selbst. Genauer gesagt mit den Füßen. Wieder einmal zeigte sich, dass aus modischen Gründen viele Wanderschuhe vorn einfach zu schmal geschnitten sind. Besonders der linke kleine Zeh tat nun höllisch weh. Ich wollte erst gar nicht nachschauen, was dort los war. Wenig später platzte eine fette Blase an der Ferse des rechten Fußes. Komm Marco, weiter! Achte erst gar nicht drauf. Lauf nicht zu schnell, lauf bewusst, meide Kanten und spitze Steinchen. Halte das Tempo - bleibe stets in Bewegung!
Vorbei am Grenzturm in Nieder-Neuendorf ging es weiter nach Hennigsdorf und Stolpe Süd. Von dort aus arbeitete ich mich durch den Wald in Richtung Frohnau. Ich hatte vor, insgesamt rund 150 Kilometer zu packen und nicht 160 oder gar 170. Somit ließ ich den nördlichen Zipfel von Frohnau aus. Dieser Bogen hätte mich einfach nur fertig gemacht, so viel ist sicher. Mir ging es um eine eindrucksvolle Tour, um einen echten Härtetest, um den Kampf gegen den inneren Schweinehund. Ich wollte einmal testen, was körperlich möglich ist. Ganz bewusst wollte ich vom Wetter her anknüpfen an den Rekordsommer 2003, als Karsten und ich mitunter hart zu ackern hatten. Auf sämtlichen Wanderungen ging es nie darum, peinlich genau den letzten Zipfel des Grenzverlaufs mitzunehmen. Demzufolge waren es zu Fuß an der deutsch-deutschen Grenze etwas über 1.000 Kilometer statt 1.378 Kilometer. Zwei Jahre später arbeitete ich eine Radroute aus, die zirka 1.200 Kilometer lang ist.
Als ich am späten Nachmittag Glienicke/Nordbahn erreichte, ging ich erst einmal „tanken“. Eine Flasche Wasser und eine Flasche alkoholfreies Weizen sollten es sein. Vor der Tankstelle stand ein Trabant, der zum Selfie einlud. Prost! So, nun aber weiter, mein Freund! Auf dem Weg nach Schildow verspürte ich plötzlich ein Knacken im Fuß. Oder war es eher ein Stechen? Der Schmerz war undefinierbar und ließ mich schaudern. Für eine halbe Stunde ging es mit gerade einmal drei km/h voran. So ein Mist, mit diesem Schneckentempo würde ich nachts nicht das Berliner Stadtzentrum erreichen.
Nachdem der Knick nach Süden am Tegeler Fließ bei Lübars passiert wurde, ging es plötzlich wieder besser. Auf der Wiese, auf der Karsten und ich 2001 die letzte Nacht zelteten, fertigte ich von mir Erinnerungsfotos an. Geballte Fäuste und freier Oberkörper im Abendlicht. Wie vor 18 Jahren. Im Hintergrund war bereits in der Ferne der Fernsehturm zu sehen. Wie viele Kilometer noch, fragte mich Karsten über Facebook. Weiß ich nicht! Und der Akku ist auch bald leer! Keine Live-Bilder mehr für unsere Seite! Leider!
Parallel zur Strecke der Heidekrautbahn ging es erstaunlich flott nach Rosenthal und zum Märkischen Viertel. Ich wählte den Weg quer durch Wilhelmsruh, da mir die in der Dämmerung herumhuschenden Gestalten am alten Bahndamm nicht ganz geheuer waren. Sicherlich nahmen sie nur gewohnte Abkürzungen und führten nix Böses im Schilde, doch mit einem Rucksack auf den Schultern nimmt man selbst seine Heimatstadt plötzlich ganz anders wahr.
Ich erwartete ein freudiges Spazieren durch das abendliche Berlin, doch fühlte ich mich beim Wandern von der Bornholmer Straße zur Bernauer Straße zunehmend einsam. Es war kurios. Auf all den Kilometern südlich und nördlich von Berlin kam nicht einmal das Gefühl der Einsamkeit auf. Ich war - mal abgesehen von den Schmerzen an den Füßen - eins mit der Natur und genoss diese in vollen Zügen. In der abendlichen Stadt fühlte ich mich mit einem Mal mutterseelenallein. Ich fertigte in der Dunkelheit ein paar Bilder von der Bernauer Straße an und nahm mir vor, nachts nur noch Fotos am Brandenburger Tor und vom Endpunkt in Treptow zu machen. Wer spaziert auch mit schwerem Gepäck auf dem Rücken mit der Spiegelreflexkamera in der Hand um Mitternacht durch die Straßen?! Niemand! Auch ich nicht!
Ein letztes Erinnerungsfoto von mir am beleuchteten Brandenburger Tor, der Rest der Strecke war nur noch Strapaze. Sich tagsüber im Stadtzentrum mit voller Energie all die Ecken des Verlaufs der Berliner Mauer anzuschauen, ist in der Tat hochspannend. Am Ende einer 150km-Wanderung macht dies mitten in der Nacht keinen Sinn. Oder zumindest keinerlei Freude. An der Warschauer Straße wurde nachts um eins der hintere Reifen eines Fahrrads angezündet, und die angetrunkene Meute johlte, als die Polizei eintraf.
Auf der Oberbaumbrücke wurden mir wie üblich diverse Drogen angeboten, am Grenzturm im Schlesischen Busch fertige ich das letzte Foto der Wanderung an. Schlurfend ging es die letzten wenigen Kilometer weiter nach Rixdorf. Um zwei kaufte ich mir mein Lieblingsbier aus der Hansestadt Stralsund, doch daheim angekommen, wollte kein Schluck reingehen. Stattdessen verlangte der Körper wieder nach Wasser. Die rund acht Liter zu mir genommene Flüssigkeit hatten an jenem Tag nicht genügt. Ich war leicht dehydriert und hatte in der Nacht mit Fieberträumen zu kämpfen.
Am Morgen danach war wieder alles halbwegs im Lot. Mir wurde bewusst, ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich schaute auf die ausgepackten Klamotten - und ich hatte das Gefühl, ich sei eine Woche weggewesen. Irre! Zufriedenheit, aber auch etwas Ratlosigkeit. Und nun? Nach der Tour ist vor der Tour. Mal schauen, wo es als Nächstes hingehen wird. 150 Kilometer in zwei Tagen müssen es jedoch nicht mehr sein. Belassen wir es bei diesem einmaligen Härtetest. 40 Kilometer an einem Tag genügen auch, oder nicht? Keine Frage, auch die ehemalige deutsch-deutsche Grenze ruft noch mal. Nicht heute, nicht morgen, aber vielleicht nächstes Jahr?
Dominik und Felix - ich liebe Euch! Ihr habt mir die Kraft gegeben, diese Tour zu bestehen! :-)
Fotos: Marco Bertram
> zur turus-Fotostrecke: Wanderung entlang des Berliner Mauerstreifens 2019
- Berlin
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