Was machen wir eigentlich hier zwei Wochen lang? Diese Frage stellten wir uns, nachdem wir den ersten Tag in der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar (Ulan Bator) über die Bühne gebracht hatten. Unser Blick führte durch die vergitterten Fenster der Erdgeschosswohnung hinaus auf die staubigen Brachflächen zwischen den Plattenbauten. Wo waren wir gelandet? Eine gute Frage. Sooo genau wussten das Jan und ich auch nicht. Im September 2000 hatten wir uns in den Zug nach Moskau gesetzt und fuhren von dort aus weiter mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Irkutsk. Nach einer Woche in dieser charmanten sibirischen Metropole und am Baikalsee ging es weiter mit der Transmongolischen Eisenbahn in Richtung Ulaanbaatar und Peking. Zwei Wochen hatten wir für die mongolische Hauptstadt eingeplant. So schnell würde man schließlich nicht wiederkehren.
Die Zustände an der russisch-mongolischen Grenze spotteten damals jeglicher Beschreibung. Wir waren mit einem ganz normalen Regelzug unterwegs, und demzufolge wurde dieser von jeglichen Händlern genutzt, die man sich vorstellen kann. Bereits Stunden vor Ankunft an der Grenze, wurde gepackt, geschoben, diskutiert, getauscht und versteckt. Ob wir zwei Flaschen Medikamente in unsere Wanderstiefel stecken können, wurden wir gefragt. Wir lehnten höflich, aber bestimmt ab. An der Grenzstation stand der Zug eine ganze Weile und so manches musste mit dem Zollpersonal geklärt werden. Überall krachten die Türen und ertönten laute Diskussionen - und das mitten in der Nacht. Nachdem sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, ging das Spektakel weiter. Nun musste ja wieder alles verteilt und aus den Verstecken geholt werden. Wem gehörte was? Darüber schien man sich nicht immer einig gewesen zu sein.
In der Zeit vor Smartphones und tausenden frei verfügbaren Infos im Web blieben uns nur ein klassischer Reiseführer und ein paar mit auf den Weg gegebene Ratschläge. Vorsicht mit dem Alkohol! Trinken mongolische Männer über den Durst, können sie sehr grob und rustikal werden. Nach dem Prozedere an der Grenze fiel es uns nicht mehr schwer, dieser Annahme Glauben zu schenken. Am Vormittag erreichten wir Ulaanbaatar und staunten über die Robustheit, mit der die Frauen und Männer aus den Waggons sprangen. Ich fertigte ein paar weitere Aufnahmen auf dem Diafilm an, und ein kleiner mongolischer Junge sprang mir vor die Linse und präsentierte mir asiatische Kampfkunst.
Einen genauen Stadtplan hatten wir nicht, und da der Bahnhof etwas abseits liegt, folgten wir einfach der Nase und dem Bauchgefühl in Richtung Stadtzentrum. Es dauerte nicht lange, bis ein Mann uns ansprach und uns ein Zimmer anbot. Fünf Dollar die Nacht. Das klang nicht verkehrt. Wir folgten dem mongolischen Mann und fanden uns recht bald in einem desolaten Wohngebiet wieder. Kein Grün. Keine Laternen. Nur Staub, Beton, Müll und gefährliche Schlaglöcher. Mitunter fehlten an den Gullys die Deckel. Nochmals: Vorsicht mit dem Alkohol! Die Bude schien jedoch auf den ersten Blick nicht allzu übel. Eine Panzertür und die Gitter an den Fenstern machten die Wohnung sicher. Es gab einen Kühlschrank auf dem Flur, eine Küche, und wir hatten ein eigenes Zimmer mit zwei Holzpritschen.
Wir erhielten den Schlüssel und einen Stadtplan sowie seine Telefonnummer. Für alle Fälle. So, und hier sind wir jetzt zwei Wochen! Geilomat, oder Jan? Der Blick ins Klo ließ uns erschaudern. An der Decke an einem versifften Rohrdurchbruch hing eine ganze Traube Kakerlaken. So was hatte ich nicht einmal am Amazonas gesehen! Diese gigantische Traube war stets in Bewegung, und immer wieder fielen einzelne fette Kakerlaken auf den Boden. An einem Abend, ich las im Bett gerade ein Buch, lief mir doch tatsächlich solch eine Kakerlake quer über die Brust.
Nach zwei Tagen, an denen wir ein wenig ratlos durch die Stadt streiften, brach das Eis. Immer mehr fuchsten Jan und ich uns ein und entdeckten Restaurants, interessante Museen und erkundeten sämtliche Winkel der Stadt. Immer wieder fuhren wir mit dem Linienbus zum südlich gelegenen Tuul Gol River und wanderten von dort aus in die mit Lärchen bewachsenen Berge. „Bogd Khan Uul Strictly Protected Area“ ist heute auf Google Maps beim dortigen Areal zu lesen. Damals wanderten wir einfach frei nach Schnauze quer durch die Wälder und Täler und ließen uns an riesigen Felsen nieder, um ein Päuschen einzulegen und einen Blick von oben auf die in der Ferne liegende Stadt zu werfen. Trafen wir in der Wildnis einmal Einheimische, war das Erstaunen riesig. Kein Wunder, gab es damals in der Stadt sehr wenige Touristen, und im Umland traf man quasi keine nicht-mongolischen Wanderer.
Wirft man heute einen Blick auf die aktuellen Satellitenaufnahmen von Ulaanbaatar und dem Umland, wird schnell deutlich, dass sich enorm viel getan hat in den vergangenen 19 Jahren. Damals herrschte an der Dsaisan-Gedenkstätte und am dortigen Fluss weitgehend gähnende Leere, heute sind dort zahlreiche moderne Siedlungen zu bestaunen. „Blue Sky Town“, „River Garden Luxury Village“. Damals heizten robuste Mongolen mit ihren Geländewagen durchs dortige Gehölz am Uferstreifen und jagten uns Angst und Schrecken ein, in der Gegenwart rückten die modernen Neubauten ran bis ans Wasser.
Im Jahr 2000 hatte Ulaanbaatar 761.000 Einwohner, bereits 2016 lebten 1.381.000 Menschen in der mongolischen Hauptstadt. Die Einwohnerzahl des Landes blieb indes mit rund 3,1 Millionen Menschen weitgehend gleich. Sehr viele Mongolen verließen all die Dörfer und Jurtensiedlungen auf dem weiten Land und zogen in die Hauptstadt, um dort ihr Glück zu versuchen. Vor wenigen Tagen weilte unser Fotograf Arnaud Schonder in Ulaanbaatar und fertigte einige Aufnahmen an. Vergleiche ich meine im Herbst 2000 angefertigten Dias und die aktuellen Bilder von der Innenstadt samt Blue Sky, so kommt man nicht mehr aus dem Staunen raus. Im Akkord wurde gebaut und modernisiert. Der Muff der sozialistischen Zeiten sollte verschwinden, der Blick ging bereits im Herbst 2000 erkennbar gen Fernost. Bereits damals unterstützten Japan und Südkorea die Mongolei und erste kleinere Glasbauten wurden errichtet.
Was sich damals uns gar nicht anbot, war für Arnaud Schonder einer der Hauptgründe, in der mongolischen Metropole vorbeizuschauen: Fußball. Das WM-Qualifikationsspiel Mongolei vs. Tadschikistan lockte. Fußball hatte in der Vergangenheit quasi gar keinen Stellenwert in der Mongolei, und demzufolge gehört die Mongolische Nationalmannschaft zu den erfolglosesten Mannschaften des Kontinentalverbandes AFC. Erste Siege gelangen in der Vergangenheit meist nur gegen Fußballzwerge wie Guam, Macau, die Nördlichen Marianen (assoziiertes AFC-Mitglied), die Philippinen, gegen Myanmar und Sri Lanka. Laut Statistik fanden die ersten registrierten Länderspiele im Jahre 1960 gegen Nord-Vietnam, China und Nordkorea statt. Und ja, selbst gegen Nordkorea wurde damals mit 1:10 verloren.
Ringen, Reiten und Bogenschießen - das sind und waren die Nationalsportarten. Jährlich zieht das Eriin Gurwan Naadam-Fest tausende Zuschauer an. Aber auch der Fußball wuchs die letzten Jahre über an. Seit November 2018 trainiert der aus Deutschland kommende Michael Weiß die mongolische Nationalmannschaft. Und das mit Erfolg! In der WM-Qualifikation konnten in der Gruppe F bisher ein 2:0-Sieg gegen Brunei und ein 1:0-Sieg gegen Myanmar gefeiert werden. Gegen Myanmar fanden sich bereits 3.221 Zuschauer im Football Centre MFF ein, gegen Tadschikistan waren die Ränge mit knapp 4.000 sogar fast ausverkauft.
Ein normales Ticket für drei Euro oder ein VIP-Ticket für zehn Euro konnten im Vorfeld beim mongolischen Fußballverband abgeholt werden. Auf dem Rasen musste sich die Mongolei denkbar knapp mit 0:1 geschlagen geben. Davronjon Ergashev erzielte den Treffer des Tages in der 81. Spielminute. Drei Anekdoten ließ Arnaud Schonder noch übermitteln: Eine Eckfahne war für rund 40 Prozent der Zuschauer auf der Presse- und VIP-Tribüne nicht zu sehen. Die 22 Ballkünstler hatten Fußballschuhe in 15 verschiedenen Farben an den Füßen. Zudem blieb Tadschikistan mit ihm ohne Gegentor. Er hatte bereits sechs Tage zuvor den 1:0-Sieg von Tadschikistan gegen Kirgistan live vor Ort im Respublikanskiy Stadion im. M.V. Frunze in Dushanbe gesehen. Und was Ulaanbaatar betrifft - ich glaube, Jan und ich müssen eines Tages mal wieder hin…
Fotos: Marco Bertram, Jan N., Arnaud Schonder
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