Washington Street. Das muss sie sein! Immer wieder studierten Jan und ich den Stadtplan von New York. Dort die Straße und hinten die quer verlaufende Manhattan Bridge. Es war im Sommer 1993, als wir zu zweit quer durch Nordamerika reisten und uns in New York als Auftakt drei, vier Tage Stadtaufenthalt gönnten. Für mich war die Suche nach der berühmten Straße vom Filmplakat „Es war einmal in Amerika“ ein Muss. Das Motiv: Noodles läuft in jungen Jahren mit seiner Gang über die Straße, und im Hintergrund ist die Manhattan Bridge zu sehen. Mit der Subway ging es bis zur High Street - Brooklyn Bridge Station, von dort aus bahnten wir uns zu Fuß den Weg bis zur passenden Straße. Keinesfalls war die dortige Gegend mit heute vergleichbar. Sind in der Gegenwart zahlreiche moderne Unternehmen und Lieferservices in den aufgehübschten Wohnblocks ansässig, so waren die dortigen Straßenzüge zwischen den beiden großen Brücken eine eher triste Angelegenheit. Nicht ganz so arg wie manch eine Ecke in der Bronx, doch wollte man nicht wissen, wer in den verlassen wirkenden Altbauten wohl sein Unwesen treibt.
Es war einmal in Amerika und Ost-Berlin… Gedenken an Ennio Morricone
Jan und ich liefen bereits mit den Kameras in der Hand die Front Street hinunter, als uns ein Asiate ansprach. Es fielen die Begriffe „gloomy“ und „dangerous area“, und er erklärte uns, dass es keine so gute Idee sei, als Tourist dort spazieren zu gehen. Wir winkten nur freundlich ab. Am Tag zuvor erhoben sich in Harlem hinter uns die farbigen Jugendlichen, als wir eine ruhige Straße entlang schlenderten. Mit meinen damals hellblond gefärbten Haaren war ich ein echter Blickfang, und es grenzte an ein Wunder, dass wir nicht bei unseren Rundgängen in Harlem, Brooklyn und der Bronx überfallen und ausgeraubt wurden. Wir waren jung, wir waren naiv, aber wir waren auch schmerzfrei und abenteuerlustig.
Den Moment, als wir von der Font Street in die Washington Street einbogen, werde ich niemals vergessen. Aus dem blondgefärbten, schmerzfreien 20-Jährigen wurde mit einem Schlag wieder ein Jugendlicher, der sich mit Wehmut an seine Kindheit in Waldesruh vor den Toren Ost-Berlins erinnert fühlte. Eine Träne bahnte sich den Weg über die Wangen. Ich war überwältigt. Wir standen auf der Straße, die einst im Jahre 1984 als Filmkulisse gedient hatte. Es war einmal in Amerika! Auch wenn ich ihn als Jugendlicher inhaltlich nicht komplett verstanden hatte, so liebte ich diesen Klassiker von Sergio Leone, für den Ennio Morricone die Filmmusik komponiert hatte.
Sergio Leone und Ennio Morricone - diese geheimnisvollen Namen hörte ich das allererste Mal von meinem Vater. Es muss 1986 gewesen sein, als er zu mir meinte, ich sei nun groß genug, wir gehen ins Kino und schauen einen echten Klassiker. Mit der Straßenbahn fuhren wir nach Berlin-Schöneweide, um dort in der Wilhelminenhofstraße 34 ins Kino „U.T.“ zu gehen. Der Film sei P16, erklärte mein Vater, ich müsse mich an der Kasse ein wenig lang machen. Ich trug an jenem Abend als 13-Jähriger ein paar alte Lederschuhe, die höhere Absätze hatten. Die Sache ging klar, Minuten später fand ich mich in einem der Kinosessel wieder.
Vorhang auf! Spiel mir das Lied vom Tod! Der 165-minütige Klassiker aus dem Jahre 1968 ließ meine Augen nicht eine Sekunde von der Leinwand weichen. Die irre lange Anfangsszene auf dem Bahnhof Cattle Corner, Henry Fonda als Frank, Claudia Cardinale als Jill McBain, Charles Bronson mit der Mundharmonika. Der Besuch dieses Kinofilms war sicherlich auch einer der Schlüsselmomente in meinem Leben. Wenig später erwarb ich in einem Laden in Ost-Berlin eine Schallplatte. Keine von Amiga, sondern eine Scheibe des tschechoslowakischen Labels Supraphon. Ein Schallplattenlabel, das einst im Jahre 1932 eingetragen wurde und auch heute noch in Tschechien der Marktführer ist. Wie oft hatte ich in meinem Zimmer die Platte „Famous Western Film Melodies“ auf meinen schwarz-roten Plattenspieler gelegt?! Aufgenommen wurden die Stücke im Februar 1975 im Studio in Dejvice / Prag, mit auf der Platte sind drei Werke von Ennio Morricone.
An einem Tag X verstummte der Plattenspieler ein letztes Mal, die Supraphon-Scheibe verschwand in einer der Kisten im Schuppen auf Papas Grundstück. Ennio Morricone verstarb vor zwei Tagen, die Erinnerung an seine phantastischen Werke werden ewig bleiben. Die tschechische Platte fand kurz zuvor wieder den Weg zurück vom Schuppen in meine jetzige Wohnung. Ich werde mir mal einen Plattenspieler erwerben und nach 30 Jahren wieder dieses 45 Jahre alte Vinyl auflegen. Dann werde ich einen guten Wein trinken und an New York und Ost-Berlin denken. An die Manhattan Bridge im Sommer 1993 und den Kinobesuch in Schöneweide sieben Jahre zuvor…
Fotos: Marco Bertram
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