"Wir waren Amateure und wollten's auch bleiben" - Mit dem Fahrrad im Corona-Sommer nach Polen

"Wir waren Amateure und wollten's auch bleiben" - Mit dem Fahrrad im Corona-Sommer nach Polen

 
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All die Jahre überfällt mich nach Silvester eine große Leere. Wenn die letzten Raketen im Nachthimmel verglühen, steht der lange, lästige, lähmende zweite Teil des Winters vor der Tür. Ohne Weihnachtsmärkte, Adventskalender oder Boxing Day. Dafür mit Omas Geburtstag, Abstinenz-Absichten, Übergewicht - und der Winterpause in der Fußball-Bundesliga. Für 2020 hatte ich mir daher ganz besondere Knaller für die Zeit nach Silvester aufgehoben. Schon bald nach dem Jahreswechsel ging es nach Italien. Okay, auch in Norditalien sind die Temperaturen Anfang des Jahres so lala, aber drei Serie-A-Spiele sollten schnell über den kühlen Morgentau hinwegtrösten und das Herz erwärmen. Weiter ging es nach England - da ist das Wetter immer scheiße, aber es wird rund um das Jahr gegen den Ball getreten. Auftrag erfüllt. Die erste Fußball- und Reiselust war gestillt.

Die Tage wurden allmählich länger, die Sonne versprach eine gewisse Perspektive und der hiesige Amateurfußball erwachte langsam aus dem Winterschlaf. Dann war sie plötzlich wieder da - die große Leere. Corona legte alles lahm. Die Perspektive und erst recht den Amateurfußball. Zum Glück war man just zum Anfang des Jahres 2020 einer gewissen Umtriebigkeit verfallen. Doch nach ein paar Tagen der Fassungslosigkeit über die Welle an schlechten Nachrichten und Restriktionen, die ab März folgten, fing das Jahr wieder bei Null an. Das Restjahr verunsichert auf der Couch zu verbringen, lag zu dem Zeitpunkt zwar nahe, war aber natürlich trotzdem keine Option.

Unmittelbar nach dem Lockdown zeigte sich der März in Norddeutschland von seiner besten Seite. Es war genau das eingetreten, was man sich zuvor erhofft hatte: Nach einem zähen Winter ging es ganz schnell wieder aufwärts mit dem Wetter. Mit dem Fahrrad wurden Wochenende für Wochenende alle möglichen Nahziele rund um die ehemalige innerdeutsche Grenze am Ratzeburger See abgeklappert - und plötzlich war da wieder eine Perspektive. Die Idee irgendwo eine Woche mit dem Rad hinzufahren kam fast von alleine. Polen als Schlusspunkt der Reise zu wählen, setzte sich früh im Kopf fest. Mitfahrer fanden sich schnell. Zwar flatterten zu dem Zeitpunkt erschreckende Bilder von der polnischen Grenze ins Wohnzimmer - Autostaus von rund 100 Kilometern und ein mögliches Einreiseverbot polnischer Erntehelfer nach Deutschland stand im Raum, doch unsere Tour würde sowieso erst in den Sommerferien starten. Und Plan B sah für den Fall europäischer Grenzkontrollen eine Rad-Reise bis Usedom vor, was ja auch ein schönes Ziel für den Sommer ist. 


Die Wochen und Monate zogen ins Land. Meine beiden Cousins waren von der Idee sofort angefixt und erklärten sich bereit mitzumachen. Mit der Aussicht auf so ein kleines Abenteuer im Spätsommer, konnte man in der ungewissen Zeit ganz gut punkten. Es folgten ein paar Extra-Schichten auf dem Fahrrad oder im Wald, die ein oder andere Extra-Kalorie wurde eingespart und etwas Winterspeck abgelegt - ganz so eingerostet wollte man dieses Abenteuer nicht angehen. Dennoch, der Trip war irgendwie auch als Experiment gedacht. Wir waren Amateure und wollten's auch bleiben. Die letzte nennenswerte Fahrradtour? Irgendwann vor ein paar Jahren mal angetrunken nach Hause, als keine Busse mehr fuhren und das letzte Geld in irgendeiner Pinte gelassen wurde. Mit einem geliehenen Rad, natürlich. Die Ausrüstung? Eine Woche Fahrradfahren und Campieren, das schafft man auch mit Improvisation, so meine Meinung.


Aus der Woche wurden zehn Tage und als Start- und Treffpunkt wählten wir Lauenburg an der Elbe aus - das lag irgendwie in der Mitte unserer Wohnorte: Hamburg, Schwarzenbek, Ratzeburg. Los ging es am ersten August-Tag des Jahres. Dieser Zeitpunkt war durchaus mit Bedacht gewählt, da im ausgehenden Hochsommer nicht nur die Gewässer in Norddeutschland eher zum Baden einladen, sondern weil auch damit kokettiert wurde, dass zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht irgendwo schon wieder der Ball rollt. Schließlich hatte ich im Vorfeld Tickets für die abgesagte Europameisterschaft ergattern können und mir irgendein Fußball-Ersatzprogramm trotz der ganzen Ablenkung auf zwei Rädern schon erhofft. Und selbst wenn nur der polnische Kreispokal über die Bühne ginge - was man mitnehmen kann, das nimmt man mit. Der Zeitpunkt war blendend ausgesucht: Wie es der Zufall so wollte, bescherten uns die Tage Anfang August die wärmste Woche des Jahres und wenig später terminierte der polnische Fußballverband die ersten Pokalspiele tatsächlich für Anfang des Monats. Die Grenzen waren natürlich schon längst wieder geöffnet und Polen hieß uns willkommen.

Bei zunächst schwülem Wetter und ein paar kleinen Regentropfen geht es am ersten Tag von Schleswig-Holstein den Elbdeich entlang nach Dömitz. Irritationen, weshalb man sich kurz hinter Boizenburg schon wieder in Niedersachsen befindet, obwohl das Ostufer der Elbe Richtung Westen nicht überquert wurde, werden alsbald ausgeräumt und die Reise hat ihren ersten grenzüberschreitenden Bildungsauftrag schnell erfüllt: Das Amt Neuhaus - von 1949 bis 1990 Bestandteil der DDR - wechselte im Sommer 1993 (!) von Mecklenburg-Vorpommern nach Niedersachsen, nachdem es vor dem Zweiten Weltkrieg bereits zum Landkreis Lüneburg gehört hatte und nach dem Kriegsende aus "praktischen Gründen" an die Ostzone abgetreten wurde. So kommt es zu dem Kuriosum, dass die erhaltenen Grenzanlagen der DDR heute als Mahnmal auf westdeutschem Gebiet zu finden sind.

Die ersten fast 80 Kilometer auf dem Elbdeich gestalten sich doch etwas zermürbend und monoton. So richtig überzeugend startet der Trip nicht, zumal sich einer von meinen Cousins euphorisiert nach einem Grünspecht am Wegesrand umschaut  - und dabei fatal stürzt. Mit geschwollenem Handrücken und etwas Gejammer erreichen wir abends die von Mücken geplagte Kleinstadt Dömitz und schlagen unser Quartier dort direkt am Flussufer der Elde auf. Kulturell und historisch haben wir uns einen sehr interessanten Ort für die erste Nacht ausgesucht, doch am Samstag-Abend findet sich nicht mal eine offene Tankstelle für ein paar Büchsen Bier. Sonntags haben die Bäcker ihren Ruhetag. Also, nichts wie weg, nachdem wir uns morgens noch ein schnelles Bad in der Elde gönnen.

Auch die Route am zweiten Tag löst nicht gerade Begeisterung aus. Am Sonntag heißt es: Kilometer abreißen. Als kleines Highlight auf der Durchfahrt sticht die Ankunft in der Stadt Grabow im Landkreis Ludwigslust-Parchim hervor. Zwei von uns sind hier als Jugendliche vor 20 Jahren mal durch die Altstadt gelaufen. Damals ging es um so etwas wie die erste Jugendliebe. Viel verändert hat sich in der schönen Altstadt seitdem nicht. Das jugendliche Glück hielt nicht lange und mein Cousin ist schon lange anderweitig verheiratet. Das Ziel ist ein kleines Nest bei Lübz, kurz vor der Schwinzer Heide. Der Ort, in dem meine Frau aufgewachsen ist und in dem immer noch ihre Mutter wohnt. Nach dem zweiten Tag bin ich ganz schön platt, ein Mitfahrer hat Knieprobleme. Aber meine Schwiegermutter empfängt uns mit Tiefkühlpizza und einem Lagerfeuer. Wir sind schnell wieder fit.

Am nächsten Tag geht es zu viert weiter: Ich nehme meinen Sohn mit auf eine Teil-Etappe. Keine 2 Jahre ist der Junge alt, aber er hält es locker 50 Kilometer in seinem Kindersitz auf dem Rad aus und winkt allen Busfahrern fröhlich zu. In Malchow flammt das erste Mal Sommerfeeling auf, als ein halbes Dutzend Kugeln Eis an der Hubbrücke vertilgt werden. Bei der zweiten Pause in Röbel wird der Junge von seiner Mutter wieder eingesammelt. Auf den letzten 25 Kilometern zum Müritz-Steilufer bei Rechlin ist die Luft etwas raus und ich hätte gerne mit dem Knaben auf dem Rad noch ein bisschen herumgealbert. Doch als wir die Müritz erreichen, rasch die Zelte aufbauen und in einem herrlichen Abendrot dem Sonnenuntergang über dem See entgegen blinzeln, bin ich ziemlich froh, dass mir eine ruhige Nacht ohne Kinderkrankheiten bevorsteht.

Am folgenden Dienstag heißt es: Ruhetag. Wir sind glücklich, dass uns das Los einen hervorragenden Campingplatz am Ostufer der Müritz beschert hat - an der Westseite des Sees war nämlich schon Wochen im Voraus alles belegt gewesen. Nach ein bisschen Stand-up-Paddeling, Fußball-Golf und einer Handvoll Weißbier geht es nächsten Tag ausgeschlafen weiter nach Neubrandenburg. Mit einem Abstecher zur Burg Stargard eine Strecke von rund 50 Kilometern. Nach dem Ruhetag ein Klacks, denken wir. Doch bis dahin hatten wir noch nichts vom sogenannten Ziemenbachtal gehört. Wie in einem süddeutschen Mittelgebirge ächzen unsere Bikes die Hügellandschaft hoch und runter. Und damit nicht genug, denn die Burg Stargard ist die einzige Höhenburg Norddeutschlands - und das natürlich nicht ohne Grund. Dementsprechend geht es zum Abschluss nochmal Steigungen mit Neigungswinkeln hinauf, die für stechende Oberschenkel sorgen. Doch auch diese Wegmarken sind irgendwann geschafft und zur Belohnung fahren wir von Burg Stargard die letzte Etappe nach Neubrandenburg - wie könnte es anders sein - fast nur noch bergab.

In Neubrandenburg wird man sogleich Augenzeuge einer wüsten Auseinandersetzung in einem Supermarkt, zwischen dem Personal und argwöhnisch betrachteten "Ausländern".  Alles wie gehabt in Neubrandenburg, denken wir noch. Was will man auch anderes machen, mit 17 oder 18 in Neubrandenburg? Doch diese Rechnung haben wir ohne den Wirt des "Güterbahnhofs" gemacht. In diesem alten Bahnhofskomplex hat man ein kleines Amüsierviertel nebst Hostel hochgezogen, in dem wir uns zu günstigen Preisen niederlassen und trotz der Anstrengungen des Tages noch auf unsere Kosten kommen. Der Barmann vom "Mohnblau" ist begeisterter Radfahrer und wir die einzigen Gäste am späten Abend - fährt sich so langsam ein, in Neubrandenburg. Überhaupt ist das eine interessante Stadt mit zwei Gesichtern: Denn eine komplette und durchgängig erhaltene mittelalterliche Stadtmauer findet man in Norddeutschland nur in Neubrandenburg. Dass innerhalb dieser Stadtmauern im zweiten Weltkrieg so gut wie gar kein Haus überlebt hat und dort eine sozialistische Musterstadt aufgezogen wurde, ist einerseits schade, mittlerweile aber auch wieder historisch interessant.

Als am nächsten Tag die Sonne aufgeht, merken wir sowohl die Anstrengungen des Vortages als auch die des Abends - denn ein Leben ohne Tonic ist ginlos. Und ausgerechnet heute steht eine 120-Kilometer-Fahrt bis nach Usedom auf der Agenda - bei über 30 Grad! "Immer weiter!" sagen wir - weil uns nichts anderes einfällt. Ein Mitfahrer besorgt sich sicherheitshalber noch eine Knie-Bandage in einer Apotheke und los geht's! Es folgen ein paar Episoden aus dem äußersten Nordosten der Republik. Eine Gegend, die mich nie so wirklich angezogen hat, die durch ihre Abgeschiedenheit aber auch einen gewissen Reiz ausübt. Mittlerweile vielleicht auch genau deswegen, denn in Friedland auf dem Marktplatz fühlt es sich noch ein bisschen nach der Vorwende-Zeit an. Es fehlen eigentlich nur ein paar Trabbis und Kadetts. Die Mode von damals ist geblieben, könnte man spotten. Hinter Friedland werden wir so lange betratscht, bis wir bei einer neu eröffneten Softeisdiele einkehren. Dabei offenbart sich, dass mein Cousin als "Westdeutscher ohne Draht nach drüben" das Softeisprinzip im Osten auch 30 Jahre nach der Wende noch nicht begriffen hat. Er denkt, man kann sich Kugeln bestellen und kommt mit drei Tüten in der Hand zurück. Ich denke: Vieles hat sich im Osten verändert, seit meinem ersten Besuch als kleiner Junge kurz nach der Wende in der Nähe von Greifswald. Das Softeis aber, ist geblieben.

In Anklam machen wir eine große Pause. Das ist auch angebracht, denn die Sonne brutzelt nach wie vor vom Himmel. Im Zentrum der Stadt lassen wir die Seele baumeln. Und vielleicht ist es der Augenblick des Sommers, als wir in den Brunnen auf dem Marktplatz steigen und unter den großen Augen der Passanten ein infantiles Erfrischungsbad in dem historischen Greifenbrunnen nehmen. Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Alles ist gut für den Augenblick. Doch die Realität holt uns schnell wieder ein: Fast 50 quälende Kilometer nach Loddin auf Usedom stehen uns noch bevor. Und wenn man gedacht hat: Usedom, Ostsee-Insel, Flachland, was natürlich auch unsere Gedanken waren, dann muss ich alle Insel-Romantiker an dieser Stelle enttäuschen - wieder geht es hoch und runter. Vom Meer ist gar nichts zu sehen und erst in der Dämmerung stehen wir endlich vor unserem Campingplatz. Auf Usedom kostet ein Zeltplatz so viel wie ein Vier-Sterne-Hotel in Stettin - und im Sommer 2020 muss man dort natürlich auch mit Mundschutz kacken gehen, ist ja klar. 

Trotzdem sind wir glücklich, endlich angekommen zu sein, am Meer und in diesem anderen Sommer. Und, hey, wir sind mit dem Fahrrad von Hamburg nach Usedom gefahren! Keine Plattfüße und Quadrat-Ärsche, wie uns viele vorausgesagt haben, und dazu noch geiles Wetter. Das kann uns keiner mehr nehmen. Unsere Zelte sind im Nu aufgebaut und wir erleben sogar noch das letzte Funkeln der untergehenden Sonne am Strand.

"REISEVERBOTE SIND DAS, WAS DU DRAUS MACHST!"

Die Belohnung nach dem kräftezehrenden Trip mit Ziel Usedom folgt nach dem nächsten Sonnenaufgang: In den heißesten Stunden des Jahres genießen wir einen ganzen Tag zu unserer "freien Verfügung" am wunderbaren Ostseestrand von Loddin. Den Abend lassen wir in Koserow am Achterwasser mit Bestellpizza und Rotwein aus dem Plastikbecher ausklingen. Reiseverbote sind das, was du draus machst! Der auflandige Wind beschert uns am nächsten Morgen sogar noch eine erfolgreiche Bernsteinsuche am Strand und wir registrieren freudig, dass wir wohl das Maximale aus unserem Aufenthalt an der Küste herausgeholt haben. Doch das eigentliche Abenteuer der Reise steht ja noch an: Nach Polen sind es nur noch ein paar Fahrradkilometer!

Los geht es einmal über die ganze Insel - für uns alle ist es der erste Besuch auf Usedom und das Eiland weiß sehr zu überzeugen: Ein ellenlanger, malerischer Strand, viel Hinterland, historische Tourismusstrukturen, Schicki-Micki-Hotspots und Waldzeltplatze. Und natürlich der Grenzübergang nach Polen. Für uns ist es ein großer Moment, als wir mit unseren Rädern vor den Grenzschildern posieren. Und überhaupt, irgendwie sind diese offenen Grenzen auch dreißig Jahre danach noch ein großer Moment für die Menschheit. Aber viel Zeit pathetisch zu werden, haben wir nicht. Unser Ziel für diesen Samstag heißt: Stepnica, das ist ein Städtchen zwischen Wollin und Stettin. Der polnische Teil Usedoms ist übrigens minimal: Nur die Hälfte der Stadt Swinemünde liegt auf der zweitgrößten Ostseeinsel - hinter der Swine, ein Kanal, den man nur mit einer (kostenlosen) Fähre überqueren kann und der die Stadt und Insel in zwei Teile zerschneidet, fängt schon Wollin an. Die Schwesterinsel von Usedom. 

Auf Wollin lassen wir es uns nochmal gut gehen: Wir entdecken "Pepsi Mango" in den polnischen Supermarktregalen und bei gut 35 Grad im Schatten ist die Versuchung groß, sich im Meer nochmal abzukühlen - in Misdroy verabschieden wir uns planschenderweise im badewannenwarmen Wasser von der Ostsee. Dann geht es ganz schnell: Hinter Wollin werden die Fahrradwege schlechter und bald hören sie schließlich ganz auf. Wir fahren auf der Landstraße Kolonne, Lastwagen überholen uns bergab mit gut 100 Stundenkilometern. Der Sog haut uns so manches Mal fast vom Sattel. Die Luft ist trocken, in Pommern ist Erntezeit. An vielen Orten ist die Zeit einfach stehen geblieben und auch die landwirtschaftlichen Geräte sehen aus, als wenn der Krieg noch nicht lange zurückliegt. Wenn man die Zeit zurückdreht, dreht man auch das eigene Zeitmanagement zurück. Ich mag das, da bin ich gerne rückständig. Etwa 20 Kilometer vor dem Ziel müssen wir einen Reifen aufpumpen, aber nur dem Augenschein nach. Wir halten direkt vor einem Tante-Emma-Laden, wie es ihn in dieser Form in Deutschland sicher seit 30 Jahren nicht mehr gibt. Mit einem Eis am Stiel in der Hand radeln wir auch die letzte Etappe des Tages routiniert und beschwingt ab. Überhaupt scheint diese eine Woche ausgereicht zu haben, um aus blutigen Anfängern belastbare Fahrradfahrer zu machen. In Stepnica angekommen, überfällt uns der Hunger unseres Lebens: Es wird ein "Biedronka"-Supermarkt geplündert und solche Essens-Kombinationen wie Kiełbasa mit Pastasauce und saure Gurken verhilft uns schnell wieder zu alter Stärke. Das ist eine Sache, die ich niemals vergessen werde: Unzähmbarer Hunger und Durst. Und kein schlechtes Gewissen dabei. Denn so viel Kalorien, wie du auf dem Fahrrad lässt, kannst du gar nicht zu dir nehmen.

Stepnica ist nur eine kleine Zwischenstation zum großen Ziel, das da heißt: Stettin. Dennoch hinterlässt die Kleinstadt durchaus Eindruck und im Sommer können die Nächte dort am Hafen ziemlich lang werden. Da am nächsten Tag jedoch die Schlussetappe ansteht, belassen wir es bei einer Büchse Bosman-Bier - das ist übrigens nach unserer einstimmigen Fachmeinung die so ziemlich höchste Braukunst, die Stettin und das Umland zu bieten hat. Und noch was lässt uns disziplinieren: Wir wollen die Tour mit einem Fußballspiel zum Abschluss bringen. Am Sonntag steht die erste Pokalrunde in Polen auf dem Programm und als Live-Spiel haben wir uns einen Kick von Hutnik Stettin rausgesucht. Fünfte Liga, aber man gönnt sich in diesem Sommer ja sonst nichts. Der Haken an der Sache: Bereits um 12:30 Uhr rollt im Nordwesten von Stettin der Ball, zu allem Überfluss reisen wir ja aus dem Osten an und über das Stettiner Haff gibt es keine Brücke - wir müssen die ganze Stadt und die letzten Ausläufer des Meerbusens umrunden.

Trotzdem haben wir es uns in den Kopf gesetzt die Sache mit diesem Spiel zu beenden, was auch den Vorteil hat, dass wir früh in Stettin eintrudeln und mehr vom Tag haben. All die Tage zuvor kam man viel zu spät auf's Rad: Mal lagen wir zu lange in den Federn, dann war das Frühstück zu opulent oder es standen ganz andere Bedürfnisse im Weg. Diesmal klingelt frühzeitig der Wecker und zehn Minuten vor der kolportierten Zeit sind wir abfahrbereit. Wir sind ein bisschen stolz auf uns. Doch Eigenlob tut selten gut, die Quittung folgt sofort: Plattfuß. Da war - dem Augenschein nach - gestern am Tante-Emma-Laden wohl doch die Luft schon raus aus dem Reifen. Natürlich haben wir Flickzeug dabei und einen kleinen Zeitpuffer eingeplant. Fünfundvierzig Minuten später geht es endlich los auf die letzten Kilometer. Und wir hauen richtig in die Pedale: 25 Kilometer pro Stunde heißt unsere Bilanz in den ersten 60 Minuten - und das auf dem rumpligen polnischen Asphalt. Heute fühlen wir uns wie Radfahr-Profis, wir sind kurz vor dem Ziel. Mit diesem Tempo schaffen wir den Anpfiff in Stettin auf alle Fälle.

Dass wir diesen Tag, an dem wir uns wie Profis fühlen, wie Amateure beenden, wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach rund 30 Kilometern Fahrt biegen wir in eine Seitenstraße ab. Hier verschwindet der Asphalt und wir bahnen uns den Weg über etwas unsachgemäß verlegte Betonplatten. Die paar Minuten, die wir in der Durchschnittsgeschwindigkeit dadurch verlieren - egal. Als wir einen einfachen Damm an einem Flusslauf entlang radeln und uns mehrere Male via "Google Maps" die Gewissheit holen die richtige Route zu befahren, weicht das berauschende Gefühl langsam einer gesunden Portion Skepsis. Zunehmend orientierungslos fahren wir auf dem aufgeschütteten Damm ins Ungewisse. Aber es gibt auch keinen anderen Weg. Neben uns der Fluss und eine knochentrockene Steppenlandschaft. Und irgendwann ist es Fakt: Wir haben uns verfahren. Wie konnte das passieren? Vielleicht sollte man sich in der polnischen Einöde nicht ausschließlich auf Google verlassen. Aber irgendwo im polnischen Nirgendwo nach Bauchgefühl zu fahren, ist halt auch so eine Sache. 

Was noch dazukommt - und spätestens da sind wir wieder bei unserer ursprünglichen Untauglichkeit als Anfänger: Wir haben nichts zu trinken mehr. Wie die Heuschrecken waren wir tags zuvor in den Biedronka eingefallen, ohne unsere Trinkreserven aufzustocken. Und im katholischen Polen hatte kein einziger Laden auf den Dörfern am Sonntag-Vormittag geöffnet. Ein paar Schluck Wasser verblieben vom Vortag in unseren Flaschen und jetzt stecken wir hier fest, in der Steppe, wo es nicht mal Schatten gibt. Wir sind Amateure und wollten's auch bleiben. Und es kommt noch schlimmer: Nachdem wir vom Damm rollen, folgt eine unbefestigte Strecke, die so sandig ist, dass wir von unseren Rössern absteigen müssen. Sogar ein Geländewagen, der uns achtlos überholt, hat Probleme auf dem Untergrund voranzukommen. Eine Ortschaft? Weit und breit nicht in Sicht. Stattdessen springen uns Wildhühner aus dem Gebüsch an. Wie in einem schlechten Western: Willkommen in unseren ganz persönlichem Horrorfilm. Und bei "Google Maps" sind wir bloß ein kleiner Punkt auf einer Karte ohne Strich und Komma. Es ist zum Heulen. Dass uns der Anpfiff bei Hutnik Stettin gerade durch die Finger rinnt wie in einer Sanduhr, ist wahrlich das kleinste Problem.

Nachdem wir kilometerweit auf unbefestigtem Wege und in sengender Hitze unsere Räder schieben, erreichen wir irgendwann das Ufer der Dammschen See - das Gewässer zwischen der Odermündung und dem Stettiner Haff. Zwischen Lubczyna und Bystra führt ein Radweg in unmittelbarer Ufernähe Richtung Stettin. Einen Laden mit Getränkeverkauf gibt es in den Orten trotzdem nicht, obwohl die Badestellen heute viele Besucher anziehen. Doch die richtigen Probleme kommen erst noch: Endlich können wir wieder schneller fahren - und sofort folgt der nächste Plattfuß. Wieder bei meinem jüngeren Cousin. Erneut das Hinterrad. Es hilft alles nichts, wir müssen die offene Stelle im Mantel verarzten. Das dauert eine gute halbe Stunde. Als der Reifen geflickt ist, findet unser Jüngster in seiner Fahrradtasche einen Energy Drink. Wir denken an höhere Mächte, als er die Dose zu unserer Überraschung aus den Tiefen seiner Satteltasche zaubert. Dann fällt uns wieder ein, dass meine Schwiegermutter uns knapp eine Woche zuvor jeweils so einen Drink zugesteckt hat. Das nennt man wohl Fürsorge. Oder mütterlichen Instinkt, denn das Zuckerwasser rettete uns vor dem Verdursten. Naja, jedenfalls verzögert es die drohende Dehydrierung um wertvolle Minuten.

Alles nur ein kleiner Zwischenfall. Oder? Fröhlich geht es weiter Richtung Stettin, wir haben ziemlich viel Zeit verloren, aber die Ankunftszeit am frühen Nachmittag ist nach wie vor recht komfortabel und der Energy Drink verleiht uns Flügel. Fußball hin, Fußball her. In diesem Augenblick sehe ich das nächste Handzeichen: Panne. Plattfuß. Zum dritten Mal. Dieselbe Person, derselbe Reifen. Zum dritten Mal ein anderes Loch im Mantel. Vielleicht 300 Meter weit sind wir gekommen. Die Stimmung rauscht schlagartig in den Keller. Nun ist es vorbei, denken wir. Das Ufer hat sich gelichtet und jenseits der Dammschen See können wir schon den Stettiner Hafen sehen. Trotzdem stehen noch rund 20 Kilometer zum Zielort an. Und wir haben nichts zu trinken und ein kaputtes Fahrrad. Von dem Desaster rund um das anvisierte Fußballspiel ganz zu schweigen. Nachdem ich mit einem Emaille-Becher kühles Wasser aus der See schöpfe und uns damit übergieße, schaue ich auf einer polnischen Internetseite nach Alternativ-Partien im "Puchar Polski" in und um Stettin. Und tatsächlich, ein Spiel gibt es noch um 17 Uhr. Der Countdown läuft!

Erneut geht es weiter, gut 1000 Meter bis zur nächsten Ortschaft, man kann den Kirchturm schon sehen. Endlich verlassen wir den unbefestigten Radweg und sehen schon die asphaltierte Straße in Reichweite - peng! Plattfuß. Das vierte Mal. Gleiche Stelle, gleicher Mantel. Wir müssen uns um das Loch kümmern, da führt auch diesmal kein Weg vorbei. Unglaublich: Jedes Mal ein neues Loch, jedes Mal hielt der Flicken. Trotzdem: Für unsere Ausrüstung ist Polen der Endgegner. Zum Glück haben wir die Tour nicht in Stettin begonnen. Meine Cousins kümmern sich um die Panne und da es sich um eine größere Ortschaft in unmittelbarer Nähe von Stettin handelt, fahre ich vor und kundschafte die Gegend aus. Viel fehlt nicht mehr und wir sind am Ende. Doch grün ist die Hoffnung und grün leuchtet aus der Ferne schon das Schild über dem "Żabka". Das sind kleine Shops, in denen man Lebensmittel und alle möglichen Dinge des täglichen Bedarfs einkaufen kann - auch sonntags und meistens rund um die Uhr. Die erste Pepsi Mango exe ich noch vor dem Laden weg, dann mache ich mich schwer bewaffnet auf den einstweiligen Rückweg.

Der Reifen ist abermals geflickt. Nacheinander finden Wasser, Energy Drinks und Pepsi Mango den Weg in unsere trockenen Kehlen. Ohne jeden Zweifel - das Tal ist durchschritten. Es sind nur noch ein paar Radumdrehungen bis in die Peripherie von Stettin, nach vielen Stunden und unzähligen Kilometern Sandpiste werden wir unser Ziel erreichen. Nicht mal ein permanenter Plattfuß wird uns jetzt von dem Weg abbringen. Dass der Reifen wieder Luft verliert, als wir endlich das Orteingangsschild von Stettin passieren? Geschenkt. Es geht fast nur noch leicht bergab. Wir pumpen den Reifen noch ein paar Mal auf, immer schafft er wieder zwei, drei Kilometer - und unserem Ziel kommen wir so Stück für Stück näher. Wir pfeifen auf dem letzten Loch und irgendwann stehen wir tatsächlich vor unserer Unterkunft, einem Altbau im Herzen von Stettin. 

Ein Blick auf die Uhr: 16:15 Uhr. Wir sind am Ende. Unsere Körper doppelt und dreifach durchgeschwitzt und ausgezehrt. Halb verhungert. Nach ein paar Minuten wird uns der Schlüssel ausgehändigt, wir schleppen unser Gepäck in den dritten Stock und beschließen, dass wir jeder genau fünf Minuten zum Duschen und Durchschnaufen haben. Ein letztes Mal durchhalten und durchbeißen. Doch wir haben nur zwei fahrtaugliche Räder und ohne Zweirad können wir den Anpfiff vergessen. Nachdem wir diese letzte Etappe mit so vielen Hindernissen geschafft haben den Anpfiff verpassen? Nee, echt nicht. Mein Cousin nimmt auf meinem Gepäckträger Platz und wie zu seligen Kindertagen wackeln wir durch die Stettiner Altstadt, ehe um 16:58 Uhr ein verwaister Sportplatz erreicht wird und sich Falten auf unserer Stirn bilden. Plötzlich kommt von rechts ein Ball angeflogen und ein Fußballspieler in roter Arbeitskleidung hüpft über eine Mauer um sein Spielgerät zu holen. Okay, das ist der Hauptplatz.

Als die Spieler einlaufen, sitzen wir auf den morschen Holzbänken eines sehr alten Fußballgrounds und die Partie SL Salos Stettin gegen GKS Kołbacz beginnt. Stettin schickt in Ermangelung einer Herrenmannschaft eine Jugendauswahl in die erste Pokalrunde. Das polnische "Pokalrecht" sieht für jedes gemeldete Team einen Startplatz vor, auch wenn der Verein nicht über eine Herrenmannschaft verfügt. Der Verein aus Kołbacz wurde erst in diesem Sommer gegründet und absolviert das erste Spiel der Vereinsgeschichte. Jugendelf gegen letzte Liga. Wir sehen ein Spiel, das eigentlich gar nicht stattfinden kann. Aber das ist uns scheißegal, wir sind hier. Das Spiel endet 2:2 in der regulären Spielzeit, es folgt ein sofortiges Elfmeterschießen, das die favorisierte Herrenmannschaft aus Kołbacz schließlich für sich entscheiden kann. Dramatik, Verzweiflung, ein Schuss Ungerechtigkeit und irgendwie doch ein versöhnliches Ende. Besser hätte ich die vergangenen Erlebnisse nicht beschreiben können.

Der letzte Tag gestaltet sich radlos. Wir haben bis zum Abend Zeit und sind zu Fuß unterwegs. Natürlich haben wir uns vorgenommen bei strahlendem Sonnenschein Stettin zu erkunden. Sowohl die Geschichte als auch der Status quo der historischen Hauptstadt Pommerns hinterlassen Eindruck bei uns. Der Tag in der Hafenstadt ist ein würdiger Abschluss. Noch bevor ich aus meinem Bett gekrabbelt war, hatte unser Pechvogel vom Vortag sich einen neuen Fahrradmantel besorgt und seinen Drahtesel repariert. Es kann also wieder losgehen. Doch den Rückweg treten wir mit dem Bummelzug an, der von Stettin bis nach Lübeck durchfährt und den man für ein günstiges Mecklenburg-Vorpommern-Ticket besteigen darf. Natürlich verläuft so eine Fahrt nicht ohne Zwischenfall, denn wir werden von einer Stadtstreicherin, die kein gültiges Ticket vorweisen kann, in Beschlag genommen. Der Schaffner gabelt sie auf, die Bundespolizei muss anrücken. Endlich in Lübeck angekommen, fällt auch noch mein Zug nach Hause aus. Aber was kann mich schon schocken, nach diesen zehn Tagen? Und außerdem habe ich ja ein Fahrrad dabei.

Text: Matthias Backhoff

Fotos: Matthias Backhoff

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