Punks auf Sylt, überfüllte Züge bundesweit, ein Hauch von Anarchie auf Deutschlands Schienen. Das probiere ich auch mal aus! Also auf in die Hauptstadt! Mit dem 9-Euro-Ticket ging es mit dem Nahverkehr der Deutschen Bahn am vergangenen Wochenende von Duisburg nach Berlin. Ganz wie zu alten Zeiten, als Ende der 90er Jahre mit dem Schönes-Wochenende-Ticket quer durch Deutschland gegurkt wurde. Folgend mein Erfahrungsbericht.
9-Euro-Terror von Duisburg nach Berlin
1. Zug: RE1 Duisburg nach Dortmund
Es geht direkt mit Verspätung los, 4 Minuten, baustellenbedingt. Voller Zug, Feierschweine die von der Düsseldorfer Altstadt nach Hause wollen, Tagestouristen, Pendler die zum Feiertag malochen müssen (deutlich in der Minderheit). Sitzplatz ist kein Problem. Mein Nachbar schnarcht, in Essen verpasst er fast den Ausstieg. Unterhaltung bietet ein Mitfahrer der via FaceTime mit seiner Familie jenseits des Mittelmeers Kontakt hält. Soviel "Habibi" hör ich sonst nur auf Arbeit. Dortmund wird mit minimaler Verspätung erreicht, kein Problem, der Zeitpuffer ist groß.
2. Zug: RE6 Dortmund nach Bielefeld
Der Zug startet mit 3 Minuten Verspätung, ist aber immerhin so leer dass ich meinen Kadaver vorerst allein in einen Vierersitz werfen kann. Neubeckum, Oelde, Rheda-Wiedenbrück... Der RE6 verbindet Metropolen. Es riecht nach großer, weiter Welt und Desinfektionsmittel. Eine Horde Teenies entert den Zug in Gütersloh. Ziel ist wohl Hamburg. Viel Spaß und nicht übertreiben. Oh Bielefeld, du Perle Ostwestfalens, hoffentlich hast du Kaffee für mich.
3. Zug: RE78 Bielefeld nach Bad Oeynhausen
Bielefeld hat Kaffee für mich. Also der McD im Hauptbahnhof. Mit Punkten aus der App sogar zum Nulltarif. Am Bahnsteig Richtung Bad O. kann ich schon erahnen was mich im Zug erwartet. Reisegruppen auf Saisonabschluss. Prost Jungs und Mädels. I feel you.
Der angepeilte Zug hat Verspätung, der Umstieg in Oeynhausen könnte knapp werden. Gut gefüllt trifft es auf den Punkt. Streit um Sitzplätze und Fahrräder. Kurz vor der Eskalation geht's dann doch los. Die Bahn - Leben in vollen Zügen.
Einen Schaffner hab ich bis hier hin noch nicht gesehen. Wie hoch ist eigentlich die Schwarzfahrerquote zu Zeiten des 9€-Schnappers?
Die Verspätungsfee schlägt in Bad Oeynhausen unbarmherzig zu. Der Anschluß in Richtung Braunschweig ist weg. Ankunft in Berlin dadurch eine Stunde später. Egal, das Leben ist zu schön um sich aufzuregen.
4. Zug RE70 Bad Oeynhausen nach Braunschweig
Bad O's Bahnhof hat außer durchfahrenden Zügen nix zu bieten. Würde mich nicht wundern wenn hier der Hund begraben liegt und sich Fuchs und Hase eine gute Nacht wünschen. "Neapel sehen und sterben" sagte Goethe, "Bad Oeynhausen sehen und direkt wieder vergessen" sage ich. Im Rucksack finde ich tatsächlich noch ein Pils. Anders ist das Elend namens Bad Oeynhausen auch nicht zu ertragen. Der Bahnsteig füllt sich schon wieder verdächtig. Die meisten werden wohl auch 9€—Terroristen sein. Da steigt die Vorfreude auf die nächste Etappe direkt ins Unermessliche.
Im Zug direkt wieder nen Sitzplatz erhascht, mit Beinfreiheit im Fahrradabteil. Die Etappe bis Braunschweig scheint entspannt zu werden.
Es wird voller, aber es bleibt stressfrei. Meine Sitznachbarin, eine Dame von Welt im Rentenalter, bietet mir Kekse an. Mutti sagte früher immer ich solle nix von Fremden nehmen, heute mach ich mal ne Ausnahme. Zum Keks gibt's nette Konversation über Gott und die Welt bis kurz vor Braunschweig.
5. Zug RB40 Braunschweig nach Magdeburg
Braunschweiger Bahnhofstreppen sind entweder gesperrt oder ziemlich eng bemessen. Der Bahnsteig leert sich tröpfchenweise. Egal ich hab Zeit. Unter anderem für ne Currywurst. War kein Highlight. Das lauwarme Heineken spült zumindest den Nachgeschmack der Wurst weg. Trotz dem Umstand dass Niedersachsen keinen Feiertag hat, ist der Zug in Richtung Magdeburg gut gefüllt. Einen Schaffner gibt es auch. Es wird Zeit dass mich endlich mal jemand kontrolliert. Sonst verliere ich noch komplett den Glauben an die Instanz Schaffner. Draußen ist es schön, blauer Himmel über blühenden Landschaften im ehemaligen Grenzgebiet. Mir wird wieder mal bewusst wieviel Glück ich doch habe unbeschwert reisen zu können. Kontrolliert wurde natürlich nicht.
6. Zug RE1 Magdeburg nach Berlin Ostkreuz
Magdeburgs Bahnhof ist nicht so dunkel wie ich ihn in Erinnerung hatte. Zuletzt war ich hier zum umsteigen nach nem RWE Spiel. Keine Ahnung wie lange das her ist. Taktisch gutes Stehen bei Zugeinfahrt bringt auch auf der letzten Etappe einen Sitzplatz. Umringt von einer Gruppe Pensionäre lässt sich die Fahrt in Richtung Hauptstadt gut an. Sie bieten mir ein Likörchen an, wir kommen ins Gespräch. Irgendwie entschleunigt diese ganze Tour ungemein. Sachsen-Anhalt und Brandenburg fliegen vorbei. In Fragmenten kann man sehen wo der Soli sinnvoll eingesetzt wurde und wo nix davon angekommen ist. In Potsdam nutzt der findige Zugbegleiter die Ausrede "Türstörung" um ein Drittel der Besatzung zum Verlassen des Zuges zu bewegen. Als die gehörnten, leichtgläubigen Aussteiger außer Sicht sind, geht es weiter. Berlin wird von Westen her erobert. Willkommen in der Hauptstadt Herr Lenke. Am Bahnhof Ostkreuz steig ich aus und bin am Ziel. Hat gar nicht weh getan.
Fazit: Das 9€-Ticket geht klar, Schaffner haben zur Zeit anscheinend nur eine repräsentative Rolle, Deutschland (vom Zugfenster aus betrachtet) ist schön.
Fotos: Christian Lenke, Marco Bertram