Die Millionenmetropole Rio de Janeiro war in den letzten Tage wieder weltweit in den Schlagzeilen. Grund war die Errichtung von drei Meter hohen Betonmauern, um den "Atlantischen Regenwald zu Füßen der Christusstatue vor der illegalen Ausweitung der Favelas zu schützen". Begonnen hatten die drastischen Baumaßnahmen in der Favela Dona Marta. Bis zum Jahre 2010 sollen 40 Armenviertel eine Betonmauer erhalten. Insgesamt soll das Projekt rund 13 Millionen Euro kosten. Doch wo genau liegt die Favela Dona Marta? Wie ist die Stadt Rio de Janeiro überhaupt strukturiert? Die Frage ist berechtigt, denn Rio ist keine Stadt wie jede andere...
Rio de Janeiro: Brasiliens Metropole im Portrait - Bilder
Schaut man auf den kompletten Stadtplan des brasilianischen Verlags Multimapas, wird man erst einmal überhaupt nicht fündig. Die Frage, wo genau die Favela Dona Marta liegt, kann somit auf Anhieb für einen Außenstehenden nicht beantwortet werden. Denn Rio de Janeiro hat hunderte Favelas. Große wie die bekannten Rocinha und Vidigal in der Nähe von Leblon, aber auch ganz kleine unbekannte wie zum Beispiel Tanque und Caxangá im Großraum des Stadtteils Jacarepagua. Sucht man bei "google maps" wird man dann doch tatsächlich fündig. Am Rande des bekannten Bezirks Botafogo liegt die Favela Santa Marta am Hang des gleichnamigen Hügels Morro Santa Marta. Und da liegt das Problem! Die Favela liegt in der Zona Sul und somit im touristisch erschlossenen Bereich der Stadt.
Rio de Janeiro wird grob in drei Gebiete eingeteilt:
Die Zona Sul mit dem Zentrum und den bekannten Stadtteilen Flamengo, Glória, Copacabana, Lagoa, Leblon und Ipanema. Dann die Zona Norte, die größtenteils aus Favelas und abgeschlossenen Neubausiedlungen besteht und sich bis Pavuna erstreckt. Zum dritten die westlich gelegenen Gebiete der Barra da Tijuca. Die Zona Sul ist jenes Gebiet, das den meisten Touristen bekannt ist. Der Zuckerhut an der Küste auf der Landzunge zwischen Leme und Botafogo, das dicht besiedelte und lebendige Viertel Copacabana mit dem weltberühmten Strand. Die allseits bekannten Viertel Ipanema und Leblon mit ihren Südstränden zum offenen Meer, die Lagoa Rodrigo de Freitas, um die man gemütlich spazieren oder joggen kann, und selbstverständlich die Jesusstatue auf dem Corcovado im Tijuca Nationalpark.
Mitte der 90er Jahre war es auch in der Zona Sul sehr gefährlich, im Dunkeln unterwegs sein. Bewaffnete Raubüberfälle standen an der Tagesordnung. Die Kriminalität war ein riesiges Problem. Die Polícia Civil wurde kaum Herr der Lage. In der Gegenwart ist es in der Zona Sul etwas ruhiger und sicherer geworden. Die Polícia Militar sorgt so weit es geht für Ordnung. Das Problem der Stadt ist: Rio de Janeiro ist sehr verwinkelt und hat viele Hügel und Berge. Das ist landschaftlich zwar einmalig schön, doch für eine sichere Stadtstruktur sind diese Begebenheiten von Nachteil. Überall sprießen an den Berghängen neue Favelas aus dem Boden. Die Stadtverwaltung kommt kaum hinterher, für Stromversorgung und Kanalisation zu sorgen.
So ist die einmalige Situation, dass die Favelas nicht nur in der Peripherie liegen sondern auch gleich unmittelbar neben den Touristengegenden. Den Unterschied, wo man sich gerade befindet, machen manchmal nur zwei Querstraßen aus. So liegt beispielsweise gleich am Berghang hinter Leme und Copacabana eine Favela. Noch drastischer ist die Lage der großen Favela Vidigal östlich vom noblen Leblon. Gern hätte man die Probleme und die Favelas komplett in die Zona Norte verlegt, doch so ließ sich das nicht machen. Das Hauptproblem der brasilianischen Gesellschaft ist mitten in Rio zu finden: Die gigantische Kluft zwischen Arm und Reich. Im komplett neuen Stadtteil Barra da Tijuca, der westlich der Stadt für zig Tausende der Ober- und Mittelschicht errichtet wurde und wird, umschließen hohe Mauern und Sicherheitszäune die neuen modernen Gebäude. In der Sul werden nun einige Favelas eingemauert. Man versucht, mit allen Mitteln Grenzlinien zu ziehen und Gebiete zu markieren.
In der Zona Norte verhält es sich noch ganz anders, Dies ist die Region, wo eh nie ein Tourist hinfahren soll. Ausnahme ist der Internationale Flughafen auf der Ilha Governador. Der Aeroporto Internacional liegt in der Nordzone. Die Schnellstraße vom Flughafen zur Südzone entlang der Hafenanlagen wird von der Polícia Militar bewacht. Fährt man nachts eine andere Hauptstraße in Richtung Zona Norte hilft nur schnelles Fahren. Auch Einheimische fahren ohne zu Halten die Straßen in Richtung Pavuna, Anchieta oder Irajá entlang, wenn es sie einmal wohl oder übel als Außenstehende dorthin verschlägt. Nachts sind die üblen Gerüche der offenen Kanalisation zu spüren und finstere Gestalten lungern an den Kurven, Ampeln und Straßenkreuzungen. Gas geben und ausweichen ist alles.
Spannend kann auch eine Fahrt mit der U-Bahn in Richtung Pavuna sein. Man hatte diese Linie vom Zentrum aus oberirdisch bis weit in die Zona Norte gebaut, um auch die nördliche Region Rios wenigstens halbwegs anzubinden. Ab der Station Estadio Maracanã befindet sich zu beiden Seiten der Metrolinie eine Betonwand mit Stacheldraht. Die U-Bahnlinie wurde komplett hermetisch abgeriegelt und wird von Kameras überwacht. Die Endstation befindet sich in einem Gebiet, wo am Abend gilt: Es ist nicht die Frage, ob man überfallen wird, sondern nach wie vielen Minuten...
Und trotzdem! Rio de Janeiro ist einen Aufenthalt wert! Das quirlige Leben im Stadtteil Copacabana, die Strände von Leblon und Ipanema... Ein Muss ist zum einen ein Abstecher zum ruhigen Stadtteil Urca an der Bucht von Botafogo, zum anderen ein Besuch des Jardim Botânico im Stadtteil Lagoa, ein Spaziergang am späten Nachmittag rund um die Lagoa Rodrigo de Freitas und eine Fahrt mit der uralten Bonde hinauf ins alte Künstlerviertel Santa Teresa. Wer diese Dinge individuell unternimmt und prinzipiell ein wenig auf sich aufpasst, der wird sich in die Stadt Rio de Janeiro verlieben und schon bald sehr, sehr viel Saudade - eine brasilianische Mischung aus Wehmut, Fern- und Heimweh - verspüren...
(von Marco Bertram, der 1996 und 2008 in Brasilien unterwegs war)
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